Die Schweiz – immun gegen Inflation?

Die Inflation in der Schweiz ist wesentlich niedriger als im Rest Europas. Acht Gründe erklären das Phänomen, nur drei davon haben mit Geldpolitik zu tun.

Mensch steht vor Display der neuen 10-Schweizer-Franken-Banknote, Oktober 2017
Geldpolitik ist ein Faktor, um Inflation niedrig zu halten, aber nicht der allein entscheidende. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Autonomie. Bei starken Inflationstreibern wie Lebensmitteln und Energiekosten ist die Schweiz vergleichsweise unabhängig bzw. protektionistisch.
  • Hohe Einkommen, niedrige Zinsen. Die höheren Löhne und Gehälter sowie niedrige Zinsen dämpfen Teuerung und Lohnforderungen.
  • Keine Dynamik. Die Preise für Unternehmen und Konsumenten sind stabil und somit auch der Schweizer Binnenmarkt.
  • Risiko Staatsanleihen. Die Schweizer Nationalbank hält große Mengen ausländischer Anleihen und Aktien. Diese verlieren an Wert.

Während in den meisten Industrieländern die Inflationsraten stark angestiegen sind, bleibt die Schweiz eine Insel der Geldwertstabilität. In den USA lag die Inflation im Juli bei 8,5 Prozent, im Euroraum bei 8,6 Prozent und in der Schweiz nur bei 3,4 Prozent. Im Lichte der globalen Geldschwemme und der aktuellen geopolitischen Krise sind insbesondere die Energie- und Lebensmittelpreise stark angestiegen.

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Zahlen & Fakten

Acht Gründe, warum die Schweiz besser durch die aktuelle Teuerungswelle gleitet.

Grund 1: Agrarpolitik

Erstens hilft die Agrarpolitik. Da die Schweiz nicht Mitglied der Europäischen Union ist, kann das Land mit Zöllen die inländische Produktion schützen. Das bedeutet einerseits, dass das Preisniveau von Lebensmitteln deutlich höher ist als beispielsweise in Deutschland. Andererseits schlagen Schwankungen der Weltmarktpreise auch nicht direkt auf die Schweiz durch, da die Schweiz für viele Lebensmittel mit variablen Zöllen das Preisniveau im Inland stabilisiert. Sinken die Weltmarktpreise, dann steigen die Zölle. Steigen die Weltmarktpreise, dann sinken die Zölle. Letzteres hat sich zuletzt positiv für die Schweizer bemerkbar macht.

Grund 2: Strompreise

Zweitens sind die Strompreise weniger stark angestiegen, weil in der Schweiz der Großteil des Strombedarfs durch Wasser- und Atomkraft gedeckt wird. Nur im Winter muss Strom importiert werden. Ähnlich wie in Deutschland kommt grob die Hälfte des importierten Gases aus Russland. Allerdings ist in der Schweiz der Anteil von Gas am Energiemix mit circa 12 Prozent geringer als in Deutschland (circa 26 Prozent). Die Belastung für die Bevölkerung fällt also geringer aus, falls die bisherigen Gaslieferungen aus Russland mit teureren Gaslieferungen aus anderen Ländern ersetzt werden müssen.

Grund 3: Einkommensniveau

Da die Schweiz, drittens, ein höheres Einkommensniveau als die meisten Euroländer hat, hat sie auch eine andere Konsumstruktur. Der Warenkorb, mit dessen Hilfe die Inflation gemessen wird, ist ein anderer. Lebensmittel haben zwar in der Schweiz einen ähnlichen Anteil am Warenkorb wie in Deutschland (12,6 Prozent, bzw. 12,7 Prozent (Harmonisierter Verbraucherpreisindex –HVPI), doch der Preisanstieg bei Lebensmitteln wurde durch die Zollpolitik gedämpft. Hingegen nimmt die stark verteuerte Energie in der Schweiz nur fünf Prozent des Warenkorbs ein, in Deutschland hingegen 12 Prozent. Das bedeutet, dass selbst wenn Energiepreise in Deutschland und der Schweiz gleich stark steigen würden, die Inflation in Deutschland höher ausgewiesen würde. Hingegen haben in der Schweiz die Gesundheitsausgaben mit 17 Prozent ein deutlich höheres Gewicht als in Deutschland mit 6 Prozent, wobei deren Preise derzeit deutlich geringer steigen als die der Energie.

Grund 4: Wettbewerb

Viertens herrscht in der Schweiz ein hoher Wettbewerb, weil das kleine Land von Staaten mit einem geringeren Preisniveau umgeben ist. Schweizer und Schweizerinnen, die nahe an der Grenze wohnen, kaufen im Ausland billiger ein. Alle Schweizer können vermehrt über den Online-Handel von geringen Preisen in und kurzen Lieferzeiten aus dem benachbarten Ausland profitieren. Hinzu kommt in wirtschaftlich und politisch instabilen Zeiten ein stetiger Aufwertungsdruck auf den Franken, weil dieser eine Fluchtwährung ist. Je höher die Inflationsrate im Euroraum, desto größer ist der Anreiz die Ersparnisse aus dem Euroraum in die Schweiz zu verlagern, wo das Geld stabiler ist. Wertet der Franken deshalb auf, dann werden in der Schweiz ausländische Güter billiger, was die Inflation niedrig hält.

Grund 5: Schweizer Franken

Fünftens kann sich die Schweizer Nationalbank (SNB) diesen Effekt zu Nutze machen, um die Inflation zu kontrollieren. Indem sie in Zeiten wachsenden globalen Inflationsdrucks den Franken aufwerten lässt, kann sie die Inflation senken. In der Hochinflationsphase der 1970er Jahre hatte zum Beispiel Deutschland niedrigere Inflationsraten als andere Länder, weil die Deutsche Bundesbank die Deutsche Mark gegenüber dem US-Dollar und den meisten anderen europäischen Währungen aufwerten ließ. Das hielt die Preissteigerungen von importierten Gütern – insbesondere Öl und Rohstoffe – im Zaum. Ähnlich hat sich zuletzt in der Schweiz Rohöl zwar seit Mitte 2021 in Franken ebenfalls verteuert, aber deutlich weniger als in Deutschland. Zudem steigt auch der Druck auf die inländischen Produzenten von Konkurrenzprodukten der Importe, Preissteigerungen so gering wie möglich zu halten.

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Zahlen & Fakten

Der Schweizer Franken hat seit Mitte letzten Jahres, also seitdem die Inflation in den USA und dem Euroraum deutlich an Fahrt gewonnen hat, um circa 10 Prozent gegenüber dem Euro aufgewertet und so die Preise aus dem Euroland importierter Güter gerechnet in Franken abgesenkt. Der Anteil der Importe am Bruttoinlandsprodukt ist zudem für die Schweiz mit circa 55 Prozent (2021) höher als für Deutschland (42 Prozent). Da die Aufwertung die internationale Wettbewerbsfähigkeit der inländischen Industrie im Ausland schädigt – Schweizer Güter werden gerechnet in Euro teurer –, entsteht auch für die Exportunternehmen und das Tourismusgewerbe ein Druck, die Kosten zu senken. Lohnforderungen der Mitarbeiter müssen in Grenzen gehalten und Einsparpotenziale genutzt werden, um einen zu starken Absatzeinbruch zu vermeiden. Wie in Deutschland vor Euroeinführung tragen geringere Kostensteigerungen maßgeblich zu einem geringeren Inflationsdruck bei.

Grund 6: Zinsniveau

Sechstens verhindert die SNB, dass die starken Kapitalzuflüsse über ein starkes Kreditwachstum die Preise nach oben treiben. Denn würden alle Kapitalzuflüsse im Inland verbleiben, dann würden eine schnell wachsende Kreditvergabe, mehr Investitionen und steil steigende Vermögenspreise sowohl die Löhne als auch die Preise nach oben treiben. Indem die SNB das Zinsniveau seit vielen Jahren deutlich unter dem Zinsniveau der USA hält, hält sie die Kapitalabflüsse größer als die Kapitalzuflüsse. Das dämpft maßgeblich den Inflationsdruck sowohl bei Gütern und Dienstleistungen als auch bei Immobilien.

Grund 7: Preis-Lohn-Spirale

Das dürfte dazu beitragen, dass – siebtens – die Schweizer Nationalbank erfolgreicher als die Europäische Zentralbank sich selbst verstärkende Effekte der Inflation eindämmen kann. Denn ist erst einmal die Inflation hoch, dann stellen die Gewerkschaften hohe Lohnforderungen, die die Kosten der Unternehmen und damit die Preise weiter nach oben treiben. Eine solche Preis-Lohn-Spirale zeichnet sich derzeit für die Schweiz weit weniger als für Deutschland ab. Auch der politische Druck auf die Regierung mit Hilfe von Subventionen die Energie- und Lebensmittelpreise niedrig zu halten, fällt geringer aus. Damit bleiben dem Schweizer Staat hohe finanzielle Belastungen erspart, die sich derzeit für viele Eurostaaten abzeichnen.

Grund 8: Staatsverschuldung

All das führt – achtens – zur Rolle der Staatsverschuldung für die Inflation. Aus historischer Sicht ist Inflation meist mit hohen Ausgabenverpflichtungen der Regierungen einhergegangen, die über Steuern nicht mehr finanzierbar waren und deshalb zunehmend mit Hilfe der Notenpresse finanziert wurden. Je höher die Staatsverschuldung, desto höher sind die Zinsen, die Regierungen auf die ausstehenden Staatsanleihen bezahlen müssen. Das kann – wie derzeit im Euroraum – zu politischem Druck auf die Zentralbank führen, Staatsanleihen in großem Umfang anzukaufen, um die Verzinsung niedrig zu halten.

Die Staatsverschuldung als Anteil vom Bruttoinlandsprodukt lag im Euroraum 2021 bei circa 95 Prozent, in Italien sogar bei circa 150 Prozent, in der Schweiz hingegen nur bei 42 Prozent. Auch im Zuge der globalen Corona-Maßnahmen hat die Schweiz sehr viel weniger schuldenfinanzierte Hilfsgelder unter die Leute gebracht als in anderen Ländern, wo die Geldschwemme jetzt die Inflation anheizt. Aus dieser Perspektive sind die Inflationserwartungen in der Schweiz gering.

Konsumenten und Unternehmen in der Schweiz kommen weit besser durch die Krise als ihre Pendants in der Eurozone.

Der einzige Risikofaktor ist die Zentralbankbilanz, die in den letzten Jahren durch die Wechselkursstabilisierung gegenüber dem Euro auf rund 140 Prozent des Bruttoinlandsprodukts angeschwollen ist. Die SNB hält deshalb umfangreiche ausländische Vermögenswerte wie Staatsanleihen und Aktien. Die Aufwertung des Franken reduziert deren Wert gerechnet in Franken und erzeugt damit Verluste für die SNB, die zuletzt kontrovers diskutiert wurden. Darüber hinaus könnte ein weiterer starker Zinsanstieg in den USA sowie eine mögliche Euro-Schuldenkrise der SNB starke Verluste in Form von fallenden Aktienpreisen und Ausfällen bei den gehaltenen Staatsanleihen bescheren.

Nehmen diese Verluste ein großes Ausmaß an, dann könnte das schließlich mit einem Verlust der Glaubwürdigkeit der SNB und einem deutlichen Wertverlust des Franken verbunden sein. Die Wahrscheinlichkeit ist allerdings derzeit noch gering. Fix ist hingegen, dass die Preissteigerungen in der Schweiz bis dato deutlich niedriger ausfallen als in der Eurozone. Konsumenten und Unternehmen kommen somit weit besser durch die krisengeprägten Zeiten als ihre Pendants in der Eurozone.

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Conclusio

Die Preissteigerungen sind in der Schweiz bisher deutlich niedriger ausgefallen als in der Eurozone oder in den USA. Ein wichtiger Grund ist die Aufwertung des Schweizer Franken, die den Anstieg der Importpreise dämpft – insbesondere der Energie. Es gibt allerdings noch andere Faktoren, die der Schweiz zu mehr Preisstabilität verhelfen. So drückt die niedrige Staatsverschuldung die Inflationserwartungen. Dazu passt auch, dass sich die Schweiz bei Coronahilfen zurückgehalten hat, während andere Länder die Inflation durch hohe Zuschüsse angeheizt haben. Zudem sorgt die Möglichkeit der Eidgenossen, im benachbarten Ausland einzukaufen, für einen starken Konkurrenzdruck und somit weniger stark steigende Preise.