Personalmangel: Zeichnung eines Mannes mit Bart und Cocktail in der Hand, der in Urlaubskleidung an dem einen Ende einer Schaukel sitzt.

Arbeiten wir wirklich zu wenig?

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Auf den Punkt gebracht

  • Paradox. Laut Statistiken verzeichnen Deutschland und Österreich eine Rekordbeschäftigung. Die geleisteten Arbeitsstunden hinken dennoch hinterher.
  • Folgen. Für den Arbeitsmarkt hat das gravierende Auswirkungen – von anhaltender Inflation bis hin zum drohenden Kollaps des Pensionssystems.
  • Demografie. Während sich die ältere Generation der Babyboomer zur Ruhe setzt, kommen im Verhältnis weniger junge Menschen auf den Arbeitsmarkt.
  • Umdenken. Mehr und länger zu arbeiten ist eine mögliche Option, um dem resultierenden Produktivitäts- und Wohlstandsverlust entgegenzuwirken.

Wer durch eine Großstadt wie Wien oder Berlin bummelt oder durch die Fußgängerzone einer Tiroler Tourismusgemeinde flaniert, sieht die Aushänge überall: „Mitarbeiter gesucht“ oder „Vorübergehend geschlossen“ ist da vor Cafés, Bäckereien oder Modegeschäften zu lesen. Und mangels Personal gestrichene Flüge haben so manchem den Sommerurlaub verhagelt.

Die Mitarbeiterknappheit trifft die Wirtschaft hart, die Daten zeichnen ein klares Bild: Zuletzt waren rund 150.000 offene Stellen beim österreichischen Arbeitsmarktservice (AMS) gemeldet, 60 Prozent mehr als vor der Corona-Pandemie im Juli 2019. Gabriel Felbermayr, Chef des Wirtschaftsforschungsinstituts (Wifo), schätzt die Zahl an freien Stellen gar auf rund 300.000, weil nicht jeder vakante Job beim AMS landet. Gleichzeitig liegt die Beschäftigung in Österreich auf Rekordniveau. Erstmals arbeiten fast vier Millionen Menschen. Auch Deutschland verzeichnet einen Rekord an besetzten Stellen.

September 2022, München: Ein Schild mit der Aufschrift "Wir stellen ein - Vollzeit/Teilzeit" in der Innenstadt.
September 2022, Bayern: Auch in München wird in der Gastronomie händeringend nach Arbeitskräften gesucht. © Getty Images

Für das Wirtschaftswachstum ist jedoch nicht entscheidend, wie viele Menschen arbeiten, sondern wie viele Stunden geleistet werden. Und da zeigt sich, dass die Pandemie zu einem deutlichen Rückgang der Arbeitsstunden geführt hat, rechnet Arbeitsmarktökonom Martin Halla von der Johannes Kepler Universität Linz in seinem Report für den Pragmaticus vor: Während im Jahr 2019 in Österreich alle unselbständig Beschäftigten noch 7,4 Millionen Stunden gearbeitet hatten, sank dieser Wert im Jahr 2020 auf 5,5 Millionen Stunden, 2021 gab es einen leichten Zuwachs auf 5,8 Millionen.

Wirtschaftsforscher rechnen jedenfalls mit einem Konjunkturrückgang: Nach einer Wifo-Schätzung von Ende Juni sinkt das Wachstum in Österreich von derzeit 4,3 Prozent auf 1,6 Prozent im kommenden Jahr. Trotzdem steigen die Beschäftigungszahlen weiterhin, die Arbeitslosenquote bleibt stabil. Also drängt sich die Frage auf: Wenn ohnehin genug Menschen arbeiten, das Wachstum aber sinkt, arbeiten wir dann etwa zu wenig?

Weniger Arbeitsstunden

Zunächst sollte man einen genauen Blick darauf werfen, was tatsächlich hinter dem Arbeitskräftemangel steckt. Dabei fallen eine Reihe aktueller Verwerfungen auf sowie eine Reihe tickender Zeitbomben – dazu aber später. Derzeit prägen Schlagworte die Debatte: etwa quiet quitting, zu Deutsch „Dienst nach Vorschrift“. Demnach hätten Corona, Kurzarbeit und Homeoffice den Wunsch der Arbeitnehmer nach mehr Freizeit und weniger Arbeit verstärkt. Allerdings ist in ganz Europa schon länger der Wunsch von Vollzeitbeschäftigten nach weniger Wochenstunden zu beobachten.

Was die Entwicklung in Sachen geleisteter Arbeitsstunden betrifft, liegen für 2022 nur die Werte für das erste Quartal vor. Sie deuten auf einen weiteren leichten Anstieg hin. Halla: „Auffällig ist jedoch, dass im Vergleich zum Vorjahresquartal die Teilzeitquote um knapp zwei Prozentpunkte gestiegen ist.“ Ob es sich dabei um den Trend zu weniger Wochenstunden handelt, der gerade Fahrt aufnimmt, oder bloß um Nachwehen der Pandemie, lasse sich erst sagen, wenn alle Daten vorliegen.

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Zahlen & Fakten

Was sich Mitarbeiter generell wünschen, ist hingegen besser bekannt, weiß Arbeitsmarktökonomin Andrea Weber von der Central European University: „Mit dem Wechsel ins Homeoffice in vielen Betrieben hat sich gezeigt, dass alternative Arbeitsformen und Arbeitszeitorganisationen sowohl für Betriebe als auch für Beschäftigte effizient sein können. Dazu gab es einige Studien im Laufe der Corona-Pandemie. Viele Mitarbeiter wollen diese Flexibilität weiter behalten“, meint die Expertin.

Laut dem zuletzt im Juni veröffentlichten Arbeitsklimaindex der Arbeiterkammer gaben gut die Hälfte aller Vollzeitbeschäftigten an, sie würden lieber weniger Stunden arbeiten – im Schnitt wünschten sich die Befragten 2,5 Stunden weniger pro Woche. Außerdem wollen viele bis zu zwei Tage pro Woche im Homeoffice arbeiten. Offen bleibt, wie sich ein derartiger kultureller Wandel auf jene Arbeitnehmer auswirkt, die gar nicht von zu Hause aus arbeiten können oder nicht in der Lage sind, Stunden zu reduzieren.

Gesichter eines Problems

Fix ist: Wer den aktuellen Arbeitskräftemangel verstehen will, muss zunächst erkennen, dass er vollkommen unterschiedliche Gesichter hat. Da gibt es etwa die von Corona gebeutelten Branchen wie Gastronomie und Hotellerie oder die Flugbranche. Homeoffice kam hier kaum infrage. Mitarbeiter wurden in der Regel entweder in Kurzarbeit geschickt oder freigesetzt. Nun wollen die Betriebe sie dringend zurück.

Ein Schild mit der Aufschrift „Liebe Freunde, auch wir machen Home Office und trinken unser Bier zuhause“ vor einem geschlossenen Restaurant in Graz, März 2020
Graz, 2020: Manche Gastronomen nahmen die Lockdown-Herausforderungen mit Humor. © Getty Images

In diesen Sparten gab es auch schon vor der Pandemie Klagen über niedrige Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen. „Es kann sein, dass viele Arbeitnehmer in diesen Bereichen mit ihren Jobs auch vor der Pandemie nicht sehr zufrieden waren“, sagt Professor Halla. Wenn sich die Lust, im Hotel oder als Kellnerin zu arbeiten, in Grenzen hält, die Gäste aber Schlange stehen, greifen drei Marktmechanismen, meint Halla. Sie würden die Wogen am Ende glätten.

Mehr Lohn, mehr Anreiz

Um bei der Gastronomie zu bleiben: Erstens könnten die Löhne von Köchen und Kellnern steigen, dann wächst der Arbeitswille automatisch. Doch gerade in Branchen mit unattraktiven Rahmenbedingungen müssen die Arbeitgeber tief in die Tasche greifen, um die Motivation von Bewerbern zu steigern.

Arbeitsmarktökonomin Weber erkennt eine geeignete Alternative: „Forschungsergebnisse zeigen, dass Bewerber oft bereit sind, auf ein höheres Gehalt zu verzichten, wenn der Job mehr Annehmlichkeiten bietet. Eine Studie aus Singapur etwa untersucht Bewerbungsverhalten auf einer Jobplattform, auf der Inserate auch auf das Arbeitsklima eingehen. Es zeigt sich, dass Beschreibungen, die auf angenehmes Arbeitsklima hindeuten, mehr Bewerbungen erhalten, obwohl diese Firmen typischerweise geringere Lohnangebote machen.“ Viele Betriebe hätten noch viel Spielraum, auf die Wünsche der Beschäftigten einzugehen, so Weber.

Bewerber sind oft bereit, auf ein höheres Gehalt zu verzichten, wenn der Job mehr Annehmlichkeiten bietet.

Noch ein weiterer Marktmechanismus kann in den von Corona gebeutelten Branchen für Entlastung sorgen. Für manche Gastrobetriebe würde es sich auszahlen, mehr auf Selbstbedienung umzustellen sowie neue digitale Lösungen für Bestellung und Bezahlung einzuführen, meint Arbeitsökonom Halla. Was mitunter utopisch klingt, zeichnet sich bereits ab: Roboterkellner laufen in Europa in einer Handvoll Restaurants bereits im Testbetrieb. Eine Art selbstfahrendes Tablett aus China mit einem Display als Gesicht kostet rund 20.000 Euro, das ist deutlich weniger als die jährlichen Lohnkosten für einen Vollzeitkellner.

Der dritte Mechanismus, der die Personalknappheit entschärfen dürfte: Betriebe, die sich weder höhere Gehälter noch alternative Technik leisten können, werden zusperren. Auch so verschwinden offene Stellen vom Markt.

Inflation erschwert Anpassung

Eine Kombination aus diesen Mechanismen werde dafür sorgen, dass sich der Personalmangel nach der Corona-Pandemie legt, meint Experte Halla, fügt aber hinzu: „Wie lang solche Anpassungsprozesse dauern, ist schwer vorherzusagen und hängt vor allem von den ursprünglichen Marktbedingungen ab. Hohe Inflation wie derzeit erschwert die Anpassung, weil zusätzlich Unsicherheit in allen wirtschaftlichen Entscheidungen dazukommt.“

Fachkräftemangel wurde schon lange vor Corona beklagt. Wissenschaftlich betrachtet ist es gar nicht so einfach, ein allgemeingültiges Phänomen darin festzumachen, sagt Halla. Dazu würden schlicht die Daten fehlen. Eine Studie des Instituts für Höhere Studien (IHS) aus dem Jahr 2015 kam für 22 untersuchte Berufsgruppen zu dem Schluss, dass in fünf von ihnen eine Knappheit an Arbeitskräften wahrscheinlich und in drei weiteren möglich ist.

Das stimmt auch mit der Datenlage in Deutschland überein: Die Bundesagentur für Arbeit konnte im Jahr 2017 – also vor den Corona-Verwerfungen – keinen flächendeckenden Fachkräfte­mangel nachweisen, wohl aber Engpässe in einzelnen technischen Berufsfeldern sowie im Gesundheits- und Pflegebereich. „Interessanterweise ist die Mehrzahl der Berufsgruppen, denen die IHS-Autoren einen wahrschein­lichen Arbeitskräftemangel attestieren, im öffentlichen Sektor oder in einem hoch regulierten Arbeitsmarkt angesiedelt“, sagt Halla. Konkret nennt die Studie Ärzte, Apotheker, Krankenpfleger und pflegeverwandte Berufe.

„Wann immer der Staat in Märkte eingreift, können Verwerfungen entstehen, die das Preissignal verfälschen. Damit bleiben Ungleichgewichte länger bestehen. Das legt nahe, dass ineffi­ziente staatliche Interventionen für den Arbeitskräftemangel verantwortlich sind. Ob das in konkreten Fällen – wie der Pflege – zutrifft, bedürfte einer eingehenden Analyse. Die tagespolitischen Diskussionen rund um die Pflege zeigen aber, dass unterschiedliche Stakeholder mit der Regulierung dieser Märkte unzufrieden sind“, meint Halla.

Alte Familienfotos in einem Pflegeheim in Heidelberg, 2022
Fotos in einem Pflegeheim in Heidelberg, 2022. Der Pflegesektor wird in Zukunft zusätzlich an Bedeutung gewinnen. © Getty Images

Bildungsmängel belasten

Aber was ist mit den Unternehmern, die beklagen, sie würden auf Stellenausschreibungen zwar Rückmeldungen bekommen, darunter jedoch keine qualifizierten Bewerber finden? Ein Vergleich der angebotenen und nachgefragten Qualifikationen beim AMS zeigt ganz deutlich diesen sogenannten „Missmatch“ in Teilen des Arbeitsmarkts. Weil die Anforderungen in vielen Jobs laufend steigen, wächst der Anteil der Arbeitslosen mit maximal Pflichtschulabschluss.

„Es ist nachvollziehbar, dass der öffentlich dominierte Bildungssektor nicht perfekt auf die zukünftigen Bedürfnisse eines sich immer schneller wandelnden Arbeitsmarkts reagieren kann“, sagt Arbeitsökonom Halla, aber „es ist sehr bedauerlich, dass viele Lehrstellensuchende immer noch zu wenig Kenntnisse in Deutsch und Mathematik haben. Hier bräuchte es Reformen im Bildungswesen, die die Politik der Jugend seit Jahrzehnten schuldig ist.“

Wettlauf um kluge Köpfe

Der Experte schlägt zwei Sofortmaßnahmen zur Linderung des Arbeitskräftemangels vor: Erstens sollten Länder wie Österreich oder Deutschland vermehrt qualifizierte Migranten anlocken. Anders als in der Schweiz gelinge es Österreich beispielsweise nicht, Arbeitnehmer mit höheren Qualifikationen aus dem Ausland zu holen. „Um im internationalen Wettbewerb um kluge Köpfe zu bestehen, müssten wir bürokratische Hürden ab- und eine ernst gemeinte Willkommenskultur aufbauen“, sagt Martin Halla.

Der häufigste Grund für Teilzeitarbeit hängt übrigens nicht mit dem Wunsch nach mehr Freizeit zusammen. Sondern mit familiären Verpflichtungen. Schon vor der Pandemie hatten immerhin 57 Prozent aller unselbstständig beschäftigten Frauen einen Teilzeitjob (zum Vergleich: bei Männern betrug die Teilzeitquote nur sechs Prozent). Frauen mit kleinen Kindern arbeiteten sogar zu über 90 Prozent in Teilzeit, bei Männern hingegen blieb die Teilzeitquote durch Nachwuchs unverändert. Daher Hallas zweiter Vorschlag: „Eine flächendeckende Versorgung mit Kinderbetreuung könnte helfen, die Arbeitsstunden von qualifizierten Frauen zu erhöhen. Hier schlummert ein riesiges Potenzial.“

Demografische Wende 2025

Hinter all dem lauert ein noch viel größeres Problem: Die Alterung der Gesellschaft stellt den Arbeitsmarkt und damit den Sozialstaat vor neue Herausforderungen.

Ein Blick nach Deutschland zeigt, dass die Arbeitskräfteknappheit auch dann bestehen bleibt, wenn ein höherer Anteil der arbeitsfähigen Bevölkerung einem Job nachgeht. Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft in Köln, stellt in seinem Report für den Pragmaticus eine ernüchternde Rechnung an: In den vergangenen fünfzehn Jahren stieg der Anteil der 20- bis 64-Jährigen, die einer Arbeit nachgehen, von rund 67 Prozent (2004) auf über 80 Prozent (2019). Deutschland hat damit nach der Schweiz (knapp 83 Prozent) und Schweden (gut 82 Prozent) die höchste Erwerbsbeteiligung in Europa erreicht – in Österreich lag sie mit rund 78 Prozent leicht darunter, jedoch ebenso über dem EU-Schnitt.

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Zahlen & Fakten

Illustration eines japanischen Rentners und Arbeiters auf einer Waage
In fast allen Industriestaaten steigt die Zahl der Pensionisten im Vergleich zu den Erwerbstätigen. Experten rechnen mit gewaltigen Auswirkungen auf Wirtschaftswachstum und Globalisierung. © Bernd Ertl

Der Pensionsschock der Volkswirtschaften

  • Pensionswelle: Trotz anhaltend hoher Migration sorgen die seit Jahrzehnten niedrigen Geburtenraten dafür, dass die Bevölkerung im Schnitt altert. Laut Pensionsexperten Bernd Marin wird ab dem Jahr 2035 etwa jeder dritte Österreicher Pensionist sein.
  • Alterndes Asien: In Japan ist die Situation dramatischer: Laut Prognose der UNO wird im Jahr 2050 nur noch die Hälfte der Japaner im arbeitsfähigen Alter sein. Der Trend betrifft auch China, nicht zuletzt wegen der Ein-Kind-Politik.
  • Kein Wachstum ohne Arbeitende: Der renommierte Volkswirt Charles Goodhart prophezeite zusammen mit dem Banker Manoj Pradhan schon vor fünf Jahren, dass das Wirtschaftswachstum eingebremst würde, weil die Produktivität den Ausfall so vieler Arbeitskräfte nicht ausgleichen könne.
  • Rückkehr der Inflation: Zudem würde die Inflation wegen steigenden Lohndrucks und höherer Gesundheits- und Pensionskosten zurückkehren, so die beiden Experten. Weil China als verlängerte Werkbank des Westens zunehmend ausfalle, werde auch die Globalisierung lahmen. Diese Faktoren treiben die Preise in die Höhe.
  • Steigende Zinsen: Als Folge dieser Entwicklung erwarten Ökonomen auch steigende Leitzinsen von den Notenbanken. Allerdings werden künftig höhere Zinsen die Teuerung nicht ausgleichen. Zwar warten niedrigere Arbeitslosigkeit, höhere Löhne und weniger Ungleichheit. Aber auch steigende Kosten für die Altersvorsorge.
  • Altersvorsorge anpassen: Damit das Pensionssystem nicht kollabiert, passen Länder wie Schweden das Rentenalter und die Auszahlungen an die steigende Lebenserwartung und an die Konjunkturentwicklung an: Wenn es am Arbeitsmarkt gut läuft, steigen die Pensionen; wenn nicht, gibt es Anpassungen nach unten.

„Das Potenzial, noch mehr Menschen in den Arbeitsmarkt zu bringen, ist weitestgehend ausgeschöpft. Und ab 2025 wird aufgrund des demografischen Wandels das Erwerbspersonenpotenzial schrumpfen – selbst unter der Annahme der amtlichen Bevölkerungsprognose, dass jährlich 200.000 Menschen mehr nach Deutschland einwandern als auswandern; für Österreich wird ein ähnlich positiver Wanderungssaldo erwartet. Der Pillenknick hatte in der Bundesrepublik ab Mitte der 1960er-Jahre bis Mitte der 1970er-Jahre die Geburten pro Frau von 2,1 auf 1,4 reduziert, dessen Echoeffekt erleben wir nun.“ Die Folge liegt für den Ökonomen auf der Hand: Wenn in einer Volkswirtschaft der Anteil der aktiven Bevölkerung sinkt, gibt es nur zwei Möglichkeiten, um Wohlstand und Wachstum zu sichern: entweder die verbleibenden Arbeitskräfte werden produktiver. Oder jeder arbeitet etwas mehr.

Rätsel Produktivitätsschwäche

Dass sich unsere Arbeitsleistung durch Innovation und Kapitaleinsatz dramatisch verbessern ließe, hält Hüther für eine Illusion: „Die Produktivitätsentwicklung ist ein politisch gern adressierter, aber tatsächlich unrealistischer Hoffnungswert. Tatsächlich dreht sich der entsprechende ökonomische Diskurs seit langem um das Rätsel der Produktivitätsschwäche trotz der digitalen Transformation.“

Das Problem betrifft fast alle ent­wickelten Volkswirtschaften. Gemessen wird die Arbeitsproduktivität, indem man das Bruttoinlandsprodukt durch die geleisteten Arbeitsstunden teilt. Wenn es etwa ein Friseur schafft, in einem Jahr 2.500 Kundinnen zu bedienen, und er im Jahr darauf in der gleichen Zeit 2.600 Menschen die Haare macht, ist seine Arbeitsproduktivität gestiegen. Unter den Mitgliedern der Industriestaatenorganisation OECD stieg die durchschnittliche Arbeitsproduktivität je Stunde im Zeitraum 1990 bis 2000 zwar um zwei Prozent. Doch seit der Finanzkrise 2008 hat sich dieser Wert mehr als halbiert.

Daraus folgt natürlich nicht, dass eine künftige Steigerung der Produktivität ausgeschlossen ist, sagt Hüther. Aber dazu bräuchte es beträchtliche Investitionen in unsere Fabriken und Arbeitsplätze. Deregulierung und angemessene Infrastrukturen könnten ebenfalls dazu beitragen. „Doch kurz- bis mittelfristig kann man sich darauf kaum verlassen. Außerdem frisst die Alterung Produktivität“, sagt Hüther. Ähnlich unrealistisch sieht der Experte die Hoffnung, dass mit einer Viertagewoche oder Ähnlichem die Produktivität dermaßen ansteige, dass nicht nur die verlorenen Arbeitsstunden, sondern auch gleich der demografisch bedingte Ausfall mit Leistung ausge­glichen werden könnte.

Daher lautet Hüthers Fazit: Wenn wir unseren Wohlstand erhalten wollen, müssen wir etwas länger arbeiten. Auch hier helfe zur Orientierung der Blick in die erfolgreichsten Länder in Europa – die Schweiz und Schweden. In beiden Ländern wurde im Vorjahr im Durchschnitt über alle Erwerbstätigen wöchentlich mehr gearbeitet als in Deutschland oder Österreich, und zwar um zwei Stunden in der Schweiz und eine in Schweden.

2,5 Stunden mehr pro Woche

Michael Hüther hat auch eine konkrete Idee für Deutschland: „Würde man über eine Kombination von veränderter Urlaubsregelung und höherer Wochenstundenzahl das Jahresarbeitsvolumen pro Erwerbstätigem um hundert Stunden erhöhen, dann gliche man damit bis zum Jahr 2030 den demografisch bedingten Verlust von über drei Millionen Erwerbstätigen beziehungsweise 4,2 Milliarden Arbeitsstunden aus.“

Eine Ausweitung der Wochenarbeits­zeit um zwei Stunden könne auch dafür genutzt werden, die Arbeitszeit­gestaltung durch die Beschäftigten zu verbessern. Eine Absage an eine angemessene Balance zwischen Arbeit und Freizeit, zwischen Arbeitswelt und Privatleben sei das jedoch definitiv nicht, betont Hüther.

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Conclusio

In Österreich und Deutschland suchen Betriebe trotz rekordverdächtiger ­Beschäftigung verzweifelt Mitarbeiter. Gleichzeitig sind die in der Pandemie gesunkenen Arbeitsstunden noch nicht auf dem alten Niveau. Ob es sich bei dem Mitarbeitermangel nur um Corona-Nachwehen handelt oder ob der Wunsch der Beschäftigten, weniger oder flexibler zu arbeiten, auf dem Arbeitsmarkt durchschlägt, lässt sich noch nicht abschließend sagen. Experten erwarten, dass in stark betroffenen Branchen der Markt die Wogen glättet, indem die Löhne steigen oder Betriebe automatisieren beziehungsweise zusperren. Langfristig bedroht die Alterung der Gesellschaft den Wohlstand. Steigt die Produktivität nicht, müsste sich die Arbeitszeit erhöhen. In Deutschland ließe sich die Lücke schließen, indem jeder 2,5 Stunden pro Woche mehr arbeitet.