Der geraubte Fokus

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Auf den Punkt gebracht

  • Toxisches Multitasking. Unsere Aufmerksamkeitsspanne wird immer kürzer – in den letzten Jahren ist sie von drei Minuten auf 47 Sekunden gesunken.
  • Flüchtiges Gut. Soziale Medien haben mit großem Erfolg das Hirn der User gekapert. Wer mitmacht, riskiert den Bezug zur Realität – und Suchtverhalten.
  • Erbsünde Eitelkeit. Aufmerksamkeit ist der Stoff, aus dem neue Geschäftsmodelle gewebt sind. Unsere Klicks sind zu einer eigenen Währung geworden.
  • Überforderte Psyche. Immer mehr Zeit vor dem Bildschirm heißt aber auch Dauerstress für das Gehirn. Wir sollten lernen, mehr Zeit offline zu verbringen.

Für den modernen Menschen beginnt der Tag mit dem Wecker am Handy. Ein Griff, ein Blick aufs Display, und schon liegen die unendlichen Weiten der digitalen Welten nur einen sanften Tipp mit dem Daumen entfernt. So ist das Smartphone bei vielen stets von Anfang an dabei: kurz Schlagzeilen online überfliegen, E-Mails checken, auf ­Google eine offene Frage klären.

Verlockender als alles andere sind in den letzten Jahren jedoch die sozialen Medien geworden. Anfangs waren sie simple Freundschaftsnetzwerke, sind inzwischen jedoch längst übermächtige Drehscheiben digitaler Kommunikation geworden. Zumindest zeigen das die Zahlen: Facebook hatte – Stand Januar 2022 – 2,9 Milliarden, Youtube 2,6 Milliarden und Instagram 1,5 Milliarden User. All diese Netzwerke funktionieren nach einem ähnlichen Prinzip. Sie bieten Menschen die Möglichkeit, in Form von Bildern, Videos oder Nachrichten Geschichten über persönliche Erfahrungen, Gedanken und Probleme zu erzählen – und zu erfahren.

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Zahlen & Fakten

Wer aktiv in sozialen Medien unterwegs ist, kann stundenlang damit beschäftigt sein. Wer hat den provokanten Post, den ich gestern Abend abgesetzt habe, gelesen? Wie wurde das neue Bild mit den Babyelefanten von den Followern, also der digitalen Gefolgschaft, aufgenommen? Wurde es mit einem „Like“ belohnt oder kommentiert? Wenn ja, ist das eine klare Aufforderung, zu reagieren. 160 Zeichen schreiben sich schnell. Es sind kurze Gedanken. Wer Wert darauf legt, dass der digitale Freundeskreis kontinuierlich wächst, engagiert sich.

Magische Anziehungskraft

Intime Einblicke, originelle Sicht­weisen und beherzter Einsatz für eine Sache sind in den sozialen Medien sehr beliebt. Wer mitmacht und die Regeln der Kommunikation beherrscht, kann sich jeden Tag aufs Neue positives Feedback abholen. Niemals zuvor ließ sich die eigene Beliebtheit so unmittelbar, so eindeutig und in Echtzeit ablesen. Wer gemocht wird, fühlt sich besser.

In der Interaktion zwischen Mensch und Maschine spielt Aufmerksamkeit die Schlüsselrolle. Sie ist der Motor im Gehirn jedes einzelnen Users, sagt die Psychologin Gloria Mark. Sie erforscht diese Dynamik seit vielen Jahren. Ihrer Definition nach ist Aufmerksamkeit auf der einen Seite jene psychische Kraft, die es ermöglicht, sich auf eine bestimmte Sache fokussieren zu können. Weil zu jedem Zeitpunkt eine Unzahl von Reizen auf den Menschen einströmt, geht es dabei vor allem darum, viele andere Dinge einfach auszublenden. Nur so kann es gelingen, sich zu konzentrieren.

Online bis zur Erschöpfung

Immer nur Input und kaum Zeit für Pausen machen Computer und Handy zu einem Risiko für die geistige Gesundheit – und produzieren Dauerstress im Hirn. Wer den Fokus bewahren will, fängt mit Selbstbeobachtung an.

Illustration von Gloria Mark
ist Psychologin und Informatik-Professorin

Schwierig ist das schon deshalb, weil rein physiologisch die Aufmerksamkeit keine Konstante ist. Alle paar hundert Millisekunden wechselt sie und taktet eine Vielzahl von Gehirnzellen in ultra­schnellem Rhythmus – das zeigt eine Studie aus dem Jahr 2018, die ­der US-Neuro­wissenschaftler Randolph Helf­rich und Kollegen von der Princeton University durchgeführt haben. Warum das so ist, hat evolutionäre Ursachen.

Von Reizen abkoppeln

Die menschliche Aufmerksamkeit ist im Grunde eine Art Warnsystem. Sie kann aus einer Vielzahl von Umgebungsreizen jene herausfiltern, die fürs Überleben relevant sind. So war das früher, als die Gefahren in der Natur lauerten. Herausfiltern bedeutet, sie ins Bewusstsein des Menschen zu lassen, denn der Löwenanteil der aufgenommen Reize wird vollautomatisch und abgekoppelt vom Bewusstsein und damit von einer Selbstbestimmung verarbeitet.

Multitasking ist heute anscheinend normal. Dabei stresst es das Gehirn, was sich auf die Leistungsfähigkeit auswirkt.

Gloria Mark (US-Psychologin und Forscherin)

Obwohl das Ausmaß an ­lebensbedrohlichen Gefahren gegenüber der Steinzeit abgenommen hat, machten sich die Architekten der digi­talen ­Portale die alten Instinkte zunutze. Akustische Reize zum Beispiel schaffen es so gut wie immer über die Bewusstseinsschwelle. Auch das gute alte Gefahrenwarnsystem funktioniert noch immer. Bester Beweis: Auf News-Portalen gehen schlechte Nachrichten viel besser als gute.

Dazu kommt, dass sich immer mehr Lebensbereiche online regeln lassen: Shopping, Arbeiten, Partnerwahl, Banking, Reiseplanung oder Lesen. Scheinbar mühelos springt man zwischen den verschieden Anwendungen auf digitalen Geräten hin und her, allerdings nicht ohne Folgen: Die Aufmerksamkeit der Menschen ist durch dieses permanente Multitasking schlicht überfordert. „Die Dauerpräsenz von Computern stresst das menschliche Gehirn“, warnt die Psychologin Mark, die diesen Umstand in Studien feststellen konnte. Die Gehirnzellen seien heute praktisch dauernd in Alarmzustand.

Überfordertes Hirn

All das beeinträchtigt die Leistungs­fähigkeit merklich, was sich in Form von Konzentrationsschwächen, Vergesslichkeit oder schlicht Erschöpfung bemerkbar macht. Mark konnte vor allem aber auch zeigen, dass die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne – also die Zeit, die Menschen für eine konkrete Auf­gabe aufzuwenden bereit sind – dramatisch gesunken ist. Konnten sich Menschen vor 30 Jahren durchschnittlich 180 Sekunden einer Sache widmen, so ist diese Zeitspanne mittlerweile auf 47 Sekunden gesunken. Dann schweifen die Gedanken ab.

Der hohe Preis der Aufmerksamkeit

Der Ökonom Georg Franck wusste schon vor 20 Jahren, dass Aufmerksamkeit zur neuen Währung werden würde. Im Interview erklärt er, wie Likes unsere Gesellschaft verändern und warum wir gerade einen „emotionalen Klimawandel“ erleben.

Pragmaticus Figur
nimmt sich der großen Fragen unserer Zeit an

Davon abgesehen hat Aufmerksamkeit einen wichtigen zwischenmenschlichen Effekt. „Sie strukturiert das soziale Miteinander“, sagt der Wiener Ökonom Georg Franck. Denn die Aufmerksamkeit füreinander ermöglicht überhaupt erst Kommunikation und spielt – nahezu unbemerkt vom menschlichen Willen – beim Aushandeln von sozialen Hierarchien eine Schlüssel­rolle. Fatal daran ist, dass wir uns dieser strukturierenden Kraft, die den Menschen zu großen Projekten befähigt, kaum je wirklich bewusst sind. Wer wem wie viel Zeit widmet, hat viel mit gegenseitigem Respekt, Teamgeist und Wertschätzung zu tun.

Die Architekten der digitalen Räume haben sich intensiv mit diesen menschlichen Mechanismen rund um die Aufmerksamkeit befasst und ihre Ange­bote entsprechend aufgebaut. Worum es dabei geht, bringt der Ex-Tech-Berater und US-Bestsellerautor Nir Eyal auf den Punkt: die Aufmerksamkeit einer möglichst großen Anzahl von Usern auf eine Plattform zu bekommen.

Wie das am besten gelingen kann? Es gibt dafür drei wichtige Strategien:

  1. Die Online-Angebote müssen interaktiv gestaltet sein und die User zum Mitmachen anregen. Stichwort: Like-Button.
  2. Die Ange­bote müssen menschliche Emotionen ansprechen und ein Wohlgefühl aus­lösen. Auch das funktioniert, wenn der Online-Freundeskreis ständig wächst.
  3. Hinter jeder erfolg­reichen Digitalstrategie steht ein Belohnungsschema – etwa die Möglichkeit, Ziele erreichen zu können. Auch das verkörpert der Like-Button, mit dem sich Applaus und Anerkennung für ein Bild, einen Kommentar oder ein Video im Bruchteil einer Sekunde zum Ausdruck bringen lassen und bei jenen, die Likes bekommen, als Erfolg und Bestätigung verbucht werden. Gutes Gefühl – das mag man. Denn Aufmerksamkeit und gegenseitige Wertschätzung sind im Gehirn unmittelbar miteinander gekoppelt. Jeder Like signalisiert dem körpereigenen Belohnungssystem ein Hoch und setzt eine Kaskade von Botenstoffen in Gang, was sich unglaublich gut anfühlt.

Geld machen

Wie gut dieses System der Aufmerksamkeitsbindung funktioniert, lässt sich an den Nutzungszeiten der sozialen Medienplattformen ablesen. Von 2013 bis 2021 haben sie sich überall fast verdoppelt. Verbrachte ein einzelner User 2013 noch durchschnittlich eine Stunde und 37 Minuten auf den sozialen Plattformen, ist diese Zeit mittlerweile auf zwei Stunden und 27 Minuten angewachsen. Die Pandemie hat diesen Trend noch massiv verstärkt. Zur Erinnerung: Allein Facebook zählt heute 2,9 Milliarden Mitglieder.

„Dort, wo die Aufmerksamkeit der Menschen ist, liegt auch das Geld“, sagt der US-amerikanische Fintech-Berater Theodore Claypoole mit Blick auf die vielen neuen Geschäftsmodelle, die auf diese Weise entstanden sind. Früher einmal, erklärt er, wurde Geld mit der Produktion von echten Waren verdient. Mittlerweile ist ein neues Business mit der Aufmerksamkeit entstanden. David Evans, Ökonom am University College London, schätzt, dass 2019 die welt­weite Aufmerksamkeitswirtschaft bereits ­einen Gesamtwert von sieben Billionen Dollar hatte.

2019 hatte die welt­weite Aufmerksamkeitswirtschaft bereits einen Gesamtwert von sieben Billionen Dollar.

„Beliebtheit ist messbar und damit zu einer neuen Währung geworden“, betont Ökonom Georg Franck, der sich seit 40 Jahren mit den Entwicklungen im digitalen Raum beschäftigt. Er hat beobachtet, wie sich vor ­allem der Werbemarkt sukzessive digitalisiert hat. Auf sozialen Plattformen funktionieren Produktwerbungen viel zielgerichteter, unmittelbarer und effizienter als zu Zeiten, als sich die Branche noch an Auflagenhöhen und Einschaltquoten orientierte. Denn auf digitalen Plattformen lassen sich mit Algorithmen User-Profile generieren, die Vorlieben und Persönlichkeitsstrukturen der User sichtbar machen. So können maßgeschneiderte Werbeangebote ausgespielt werden.

Dieses Prinzip funktioniert auf Facebook, Youtube und Instagram hervor­ragend, denn darüber hinaus funktioniert dort auch das alte und mächtige Instrument der Mundpropaganda global und damit supereffizient.

Millionen für ein Werbe-Posting

Denn Aufmerksamkeit, gemessen in der Anzahl der Follower, kann viel Geld wert sein. Influencer mit einer großen Fangemeinde verdienen fantastisch. So bringt ein einziges Posting des portugiesischen Fußballers Cristiano Ronaldo, der über eine Gefolgschaft von 408 Millionen Menschen auf Instagram verfügt, 1,6 Millionen Dollar, sofern er dabei Werbung macht. Auf Platz 2: ­Kylie Jenner aus dem US-amerikanischen Kardashian-Clan. Sie hat 314 Millionen Follower und darf für einen Post 1,4 Millionen Dollar kassieren. Das Geniale daran: Follower und Influencer sind einander im echten Leben nie begegnet, trotzdem respektiert die Gefolgschaft nicht nur ihren Star, sondern lässt sich von ihm auch in Entscheidungen leiten.

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Zahlen & Fakten

Made with Flourish

Jetzt könnte man einwerfen, dass Hollywoodstars schon immer Werbe­vehikel waren. Doch die sozialen Medien haben diese Beeinflussungsmacht auf eine vollkommen neue Ebene ge­hoben, indem sie die Influencer mit effizienten Megafonen ausgestattet haben, so Experte Claypoole. Damit das Platzieren von Logos und Werbebotschaften noch besser funktioniert, wurden neue Formate wie Kurzfilme oder Diashows erfunden. Nicht zuletzt deshalb, weil die menschliche Aufmerksamkeit auf bewegte Bilder gut anspringt. Und: All diese Dinge laufen unter dem Radar der bewussten Wahrnehmung.

Quelle von Frust

Muss das aber überhaupt ein Grund zur Sorge sein? Ja, sagt Fintech-Experte Claypoole. Der Grund: Vieles in den neuen sozialen Medien sei schlicht nicht geregelt. Und die Frage, wer wie viel Geld und wofür bekommt, lasse sich nicht klar beantworten. Zudem warnt er vor Betrügereien. Die Zahlen für die Beliebtheit lassen sich über sogenannte Clickfarmen fälschen: 1.000 Follower auf Youtube kosten 49 Dollar, auf Facebook 24 Dollar, auf Instagram 14 Dollar.

Sorge hat auch Georg Franck, weil er das Missverhältnis zwischen den wenigen Celebritys und Gutverdienern der sozia­len Medien mit den vielen Unerfolgreichen dort in Relation setzt. Er ortet darin auch die Ursache einer allgemein aufkeimenden Unzufriedenheit. In der Ökonomie der Auf­merksamkeit leidet der Selbstwert der Masse. Die aggressive Grundstimmung hat viele Unzufriedene auf die Straßen gebracht und damit im wirklichen Leben sichtbar gemacht. Die Querdenker-Demonstrationen deutet Franck als Hungeraufstand der vielen zu kurz Gekommenen, die den sozialen Zusammenhalt gefährden.

Vollkommen anders sieht es US-­Autor Nir Eyal. Die digitalen Welten bringen unendlich viele Vorteile, meint er. Sie zu verteufeln sei nicht sinnvoll. „Wir müssen den Umgang damit erst lernen“, sagt er und hat aus der „Kunst, sich nicht ablenken zu lassen“ einen Bestseller gemacht. Dabei pocht er auf die Eigenverantwortung. Süchtig würden nur die wenigsten.

Die Lösung für Eyal: ein ausgewogenes Zeitverhältnis zwischen echtem und digitalem Leben. Psychologin Gloria Mark empfiehlt, sich beim stundenlangen Surfen immer wieder selbst die Frage zu stellen: „Welchen Wert hat das, was ich gerade online mache, für mein Leben?“ Ein echtes Gespräch, sagt sie, sei besser als jeder Online-Chat. Denn im echten Leben spielten körpersprachliche Signale und Mimik eine entscheidende Rolle. Und es gebe noch eine andere, viel einfachere Lösung. Sie lautet: Computer und Smartphone einfach auch einmal ausschalten und schauen, was passiert. So viel sei verraten: Wenn die menschliche Aufmerksamkeit wenig gefordert ist und die Gedanken schweifen dürfen, ist das Gehirn besonders kreativ.

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Conclusio

Ohne dass sich Menschen darüber ­bewusst sind, tobt in der digitalen Welt ein Kampf um ihre Aufmerksamkeit. Es gewinnt, wer viel davon binden kann. Besonders erfolgreich dabei sind die ­sozialen Medien, weil ihre Architekten sich ­alter menschlicher Instinkte be­dienen. Beliebt­heit in den sozialen Medien ist messbar und damit zu einer harten Währung geworden, die sich tatsächlich zu viel Geld machen lässt. Die Schattenseite dieser Entwicklung: Die digitale Welt generiert viele zu kurz Gekommene, die den ­sozialen Zusammenhalt einer Ge­sellschaft gefährden. Außerdem: Wer zu viel Zeit mit digitalen Medien verbringt, schadet seiner Psyche. Die Fähigkeit, sich zu konzentrieren, ist messbar gesunken, viele fühlen sich ausgelaugt. Wer sich der Ur­sachen bewusst wird, kann Balance und Selbst­bestimmung zurückgewinnen.