Illustration eines DNA-Strangs mit Medizinern und Reagenzgläsern

Impfen: Der Mensch als Bioreaktor

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Auf den Punkt gebracht

  • Durchbruch. mRNA-Technologie wird schon lange erforscht. Durch die Corona-Pandemie bekam sie die Chance, ihre Wirksamkeit auf breiter Basis zu beweisen.
  • Neues Prinzip. Mit mRNA-Technologie lässt sich die Zellproduktion des Körpers beeinflussen. Das könnte die Therapie von Erkrankungen revolutionieren.
  • Hürden. Nebenwirkungen sind statistisch betrachtet selten. Insofern wird mRNA für die Behandlung von schweren Erkrankungen eine neue Option.
  • Chancen. Diese neue medizinische Technologie könnte die Arzneimittelproduktion von China und Indien nach Europa zurückbringen.

Corona war nicht der Anfang, aber die Initialzündung. Nach dem Durchbruch sogenannter mRNA-Impfstoffe zur Bekämpfung von Covid-19 könnte diese Technologie bei vielen anderen Krankheiten zum Einsatz gelangen – von Alzheimer bis Krebs. Mit allen Vor- und Nachteilen – und mit vielen Konsequenzen: „Jeder einzelne Mensch, der eine Impfung erhält, wird zum Bioreaktor“, meint der Biotechnologie-Pionier Hans Loibner.

Er hat von 2005 bis 2018 das österreichische Unternehmen Apeiron geleitet. Was er meint: Der Organismus kann mittels der körpereigenen Möglichkeiten Wege finden, um gegen Erkrankungen anzukämpfen und Fehler, die sich in das System der Zellbildung einschleichen, auszumerzen oder sie erst gar nicht entstehen zu lassen. Insofern ist mRNA der neue Zaubertrick der Medizin: Dabei wird das Immunsystem jedes Menschen individuell aktiviert, sodass sich der Organismus selbst helfen kann. Das ist die Vision, die neue therapeutische Optionen für viele medizinische Probleme birgt und damit Leben verlängern kann – und gleichzeitig zahlreiche ethische Fragen des menschlichen Eingriffs in die Natur aufwirft.

Historisch einmalig

An dieser neuen Strategie der Krankheitsbekämpfung wird seit langem getüftelt. „Es war sozusagen nur die Ungunst der Stunde, die die mRNA-Technologie zu einem Mittel gegen eine Infektionserkrankung gemacht hat“, konstatiert Loibner und erinnert an Uğur Şahins Vorstoß im Februar 2020. Der Biontech-Chef schickte die Botenstoffe gegen das neu entdeckte Coronavirus ins Rennen. Die pandemische Notlage ermöglichte den Durchbruch.

Was genau macht mRNA? In Impfungen von Biontech/Pfizer oder Moderna ist für den Organismus eine Message verpackt, eine Botschaft sozusagen, die von den Zellen des Immunsystems verstanden werden kann. Konkret ist bei dieser Art der Corona-Impfung eine Bauanleitung für ein ganz bestimmtes Protein enthalten, das Spike-Protein genannt wird. Es löst eine Immunreaktion aus, die Antikörper gegen das Spike-Protein bildet, und diese wiederum hindern das Coronavirus daran, an die menschlichen Zellen anzudocken. 

Messenger ribonucleic acid (deutsch: Boten-Ribonukleinsäure), kurz mRNA, ist der Fachterminus für ein in den 1970er-Jahren entdecktes Molekül. Es transportiert Botschaften von der DNA, also der Gesamtheit des menschlichen Erbguts, in die Zellfabriken des Körpers und sagt ihnen, was zu tun ist. Konkret: welche Proteine produziert werden sollen. Immer wieder wird gemutmaßt, mRNA könnte das menschliche Erbgut selbst verändern. Doch genau das tut sie nicht, auch in der Natur selbst ist das nicht der Fall. „Denn hat sie ihren Auftrag in der Zelle erfüllt, wird sie abgebaut“, so Pieter Cullis, Biochemiker an der University of British Colombia in Vancouver.

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Geschichte des Impfens

vor 1500Aufzeichnungen über Variolation, die Vorstufe des Impfens, in China.
1768Maria Theresia bringt die Variolation nach Wien. 
1796Edward Jenner streicht dem achtjährigen James Phipps Kuhpocken-Erreger unter die Haut und setzt ihn so den Pocken aus. Der Bub überlebt.
1879Louis Pasteur entwickelt im Labor den ersten Impfstoff gegen Geflügelcholera, indem er die Bakterien abschwächt.
1885Jaime Ferrán gelingt schließlich ein Impfstoff gegen die Cholera.
1921Albert Calmette und Camille Guérin entwickeln eine Impfung gegen Tuberkulose.
1936 Der Bakteriologe und Nobelpreisträger Max Theiler entwickelt den Gelbfieber-Impfstoff
1946Der erste Influenza-Impfstoff wird zugelassen. 
1948Hilary Koprowski testet einen neuen Polio-Impfstoff an sich selbst und überlebt.
1963Maurice Hilleman entwickelt den ersten Masern-Impfstoff.
1977Die von den Nazis eingeführte und nach Kriegsende bestätigte Impfpflicht gegen Pocken wird in Österreich abgeschafft, ebenso in Deutschland. 
ab 2020Deutschland beschließt eine Masern-Impfpflicht. Der Covid-19-Impfstoff von Biontech-Pfizer wird in der EU zugelassen; 2021 folgen AstraZeneca, Moderna, Janssen.

Körper und Zellproduktion

Wichtig zum besseren Verständnis: Der menschliche Körper ist eine riesige Zellproduktionsmaschine. Die Tatsache, dass man dem Organismus via mRNA Aufträge erteilen kann, welche Eiweiße gebildet werden sollen, wird für die Behandlung vieler Krankheiten erforscht. Doch niemals zuvor wurde dieses Prinzip bei so vielen Menschen angewendet. Wenn sich die Impfung bewährt, eröffnen sich insofern völlig neue Wege, als sich auch eine ganze Reihe anderer Erkrankungen präventiv verhindern lassen könnte. 

Theoretisch ließen sich auf diese Weise sogar viele Defekte therapieren. Lahm gewordene Zellen von Diabetikern etwa könnten dazu gebracht werden, wieder Insulin zu produzieren. mRNA könnte aber auch dafür sorgen, dass Gewebe wieder neu gebildet wird, etwa dann, wenn es durch einen Schlaganfall oder Herzinfarkt geschädigt wurde. Mit dem mRNA-Prinzip könnte eines Tages auch eine Therapie gegen Alzheimer gefunden werden, weil sich damit verhindern ließe, dass sich Eiweißklumpen oder Plaques bilden und im Gehirn festsetzen. Erste Studien zu diesen Themen erscheinen im wissenschaftlichen Fachmagazin „Cell“.

„Was im Zuge der Pandemie passiert, ist revolutionär“, sagt Pragmaticus-Experte Pieter Cullis, der maßgeblich daran beteiligt war, die an sich instabile mRNA haltbar zu machen. Seine Geheimwaffe sind „Lipid Nanoparticles“ (LPN). Das sind Fettpartikel, mit denen sich der Botenstoff verpacken lässt, aber trotzdem für das Immunsystem lesbar bleibt. „Würde man nur mRNA selbst injizieren, würden Enzyme diese sofort zersetzen und sie so nicht zu den gewünschten Zellen gelangen lassen“, erläutert er.

Es ist erstaunlich, wie gut die mRNA-Impfstoffe funktionieren.

Otfried Kistner, Impfstoff-Experte

Die Revolution ist allerdings relativ. „Was im Kontext der Pandemie wie ein Durchbruch aussieht, ist die Knochenarbeit der letzten Jahrzehnte“, sagt Loibner, auch Mitgründer des 2019 gegründeten Wiener Start-ups Anyxis. Zusammen mit dessen Geschäftsführer Oliver Mutschlechner hat er 2017 ein Immuntherapeutikum gegen das Neuroblastom entwickelt, eine seltene Form von Tumoren des kindlichen Nervensystems. 

Die beiden Forscher sehen in der Coronaimpfung insofern eine nie da gewesene Chance, als es in der Krebsmedizin zu keiner Zeit eine derart groß angelegte Anwendung dieser neuen Technologie gegeben hat. Vor allem das Tempo, mit dem klinische Prüfungen aus der globalen Not heraus gemacht wurden, könnte Folgen haben. Hätten sich die vielen unterschiedlichen mRNA-Therapien, die vor der Pandemie gegen Krebs in Entwicklung waren, bewähren müssen, hätte es Jahrzehnte gedauert, bis eine einzige davon bei einer genügend großen Anzahl von Kranken getestet sowie als wirksam und vor allem als sicher hätte eingestuft werden können. Aber dieser Beweis konnte jetzt erbracht werden. 

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Zahlen & Fakten

Bleibt die Frage: Ist das Verabreichen von mRNA als Impfung gegen Corona tatsächlich so unproblematisch, wie die Mehrheit der Wissenschaftler betont? „Alle haben ein Auge auf das Wirkungs- und Nebenwirkungsprofil. Die Daten werden in Studien gesammelt und kontinuierlich veröffentlicht“, sagt Mutschlechner, der die Entwicklung als Work- in-progress bezeichnet. „Bei einem traditionell produzierten Vollvirusimpfstoff bildet der Körper eine Immunantwort gegen die 27 Proteine, aus denen das Coronavirus insgesamt besteht“, so Mutschlechner weiter. „Bei dem mRNA-Impfstoff wird aber lediglich das Spike-Protein blockiert“, sagt der Experte. Diese Aussage bekräftigt Otfried Kistner, unabhängiger Impfexperte: „Es hat mich erstaunt, wie gut die Corona-Impfungen funktionieren“, sagt er. Entscheidend ist nun die Frage, wie lange der mRNA-Impfstoff gegen das Coronavirus wirksam ist. Nachimpfungen starteten bereits im Herbst.

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Zahlen & Fakten

Vieles ist noch Zukunftsmusik, langfristig könnten dank mRNA auch Vakzine gegen Aids, Tollwut oder die sich ständig wandelnden Influenzaviren produziert werden. Denn die neue Art von Arzneimittel hat auch produktionstechnische Stärken. Der mRNA-Impfstoff gegen das Coronavirus konnte in nur zwei Monaten entwickelt und in weiteren neun Monaten zugelassen und produziert werden. Das ist viel schneller als die Herstellung herkömmlicher Vollvirusimpfstoffe, für die meist erst große Mengen an Viren gezüchtet, entschärft und dann in eine verabreichbare Form gebracht werden müssen. Bei der mRNA-Impfung erspart man sich diesen gefährlichen Prozess. 

Fabriken mit Hochsicherheitsanlagen könnten schon bald der Vergangenheit angehören. „Sobald es ein System gibt, das gut funktioniert, kann damit jede Art von mRNA produziert werden“, meint Experte Pieter Cullis und sagt eine neue Generation von Immuntherapeutika und Impfstoffen voraus. Biotechnologie-Pionier Loibner betont, dass mRNA auch ein Mittel zur Standortsicherung sein und Teile der Arzneimittelproduktion aus China und Indien wieder nach Europa zurückholen könnte. mRNA-Technologie hat das Potenzial, die Entwicklung von Arzneimitteln spezifischer, treffsicherer und kostengünstiger zu machen. 

Boost für die Forschung

„Es sieht so aus, als würden wir einem Paradigmenwechsel am Forschungsmarkt entgegenschauen“, sagt auch Claudia Wild. Die Leiterin des Austrian Institute for Health Technology Assessment sieht kleinere Pharmafirmen und die universitäre Forschung durch die jüngsten Entwicklungen im Aufwind und rechnet ebenfalls mit einer Ver­billigung der Arzneimittel.

Wild sieht noch einen weiteren positiven Aspekt: „Es gibt so viel Aufmerksamkeit für das Thema, so viele Wissenschaftler, die sich jetzt damit befassen, das zieht auch Investoren an.“ Viele neue Therapieansätze für viele unterschiedliche Erkrankungen also: „Genau die individualisierte Wirkung von mRNA ist die Stärke für die Krebstherapie“, betont Loibner und meint die personalisierte Medizin, die eine höchst individuelle Therapie für jeden Patienten möglich machen soll. Mittels mRNA können zelltypische Entgleisungen bei Patienten quasi maßgeschneidert behandelt werden.

„Die mRNA-Impfung ist ein Durchbruch“, sagt deshalb auch der Krebsspezialist Richard Greil, Vorstand der Onkologie an der Paracelsus-Universität Salzburg. Besonders bei Tumoren, die von Viren verursacht werden, kann er sich neue Arten von Therapien vorstellen. Vor allem dann, wenn das körpereigene Abwehrsystem im Krankheitsgeschehen eine entscheidende Rolle spielt. 

Doch es gibt auch Krebsarten, gegen die das eigene Immunsystem kaum eine Chance hat. Tumore bestehen schließlich aus einer Vielzahl unterschiedlicher Zellen, viele davon schotten sich gegen das Immunsystem ab, tarnen sich, um nicht entdeckt zu werden. Wenn das der Fall ist, werden auch mRNA-Therapeutika weniger effizient sein, vermutet Greil. Hier müsse man die Entwicklungen erst abwarten. Er hofft, dass die Erfahrungswerte aus der Corona-Pandemie dazu beitragen werden, die Entwicklung von Krebsmedikamenten in der Zukunft schneller machen zu können. 

Allen Vorbehalten zum Trotz ist klar: In der Medizin gibt es einen neuen Hoffnungsträger mit dem Potenzial, viele schwere Erkrankungen behandelbar zu machen. Oder sie zu verhindern: Denn Impfungen schützen präventiv. Doch vorschnelle Euphorie wäre angesichts der Komplexität vieler Krankheitsbilder fehl am Platz.

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Conclusio

Aus einer Notlage heraus wurde in der Corona-Pandemie eine neue Art von Impfstoffen zum Einsatz gebracht. Es müssen nicht erst Krankheitserreger für Impfungen entschärft werden, sondern das Immunsystem kann sie ohne den Erreger selbst produzieren. Das ist ein neuer effizienter Weg, sich vor Krankheiten zu schützen. Theoretisch könnte der Körper sich nach diesem Prinzip auch gegen andere Krankheiten wappnen, allen voran gegen eine Reihe von Krebs- und Herzerkrankungen. Auch gegen Krankheiten wie Alzheimer könnte mRNA Selbstheilungskräfte aktivieren. Die neue mRNA-Technologie, mitentwickelt in Europa, könnte auch eine Chance für die Pharmaindustrie sein und die nach Indien und China ausgelagerte Arzneimittelproduktion wieder zurück in die EU holen.