Die Rückkehr des Krieges

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Auf den Punkt gebracht

  • Angriff. Russlands Krieg gegen die Ukraine hat die Welt, wie wir sie kannten, verändert. Nun sind Angriffskriege auch mitten in Europa wieder eine Realität.
  • Risiko. Hundertprozentigen Frieden gab es in der Menschheitsgeschichte nie. Die Kriegsführung hat sich verändert, das Leid und Elend der Betroffenen sind geblieben.
  • Brennpunkte. Derzeit gibt es außergewöhnlich viele Krisen- und Konfliktzonen in der Welt. Diplomatie reicht oft nicht aus, um Eskalationen zu verhindern.
  • Zeitenwende. Ein schwacher Hoffnungsschimmer: Der Krieg hat dem Bewusstsein eines vereinten Europa geholfen. Wir sehen ein Umdenken in der Sicherheitspolitik.

Das über Generationen hinweg Unvorstellbare ist also eingetreten: Es herrscht wieder Krieg in Europa. Kein Bürgerkrieg wie bei der Aufspaltung Jugoslawiens, sondern ein Angriffskrieg einer Weltmacht auf einen unabhängigen Staat. Aktuell ist der Ausgang dieses Konflikts keineswegs klar.

Sicher ist: Russland hat mit seiner vielfachen militärischen Übermacht die Ukraine nicht überrannt und keinen Blitzsieg errungen. Sterbende Menschen, zerstörte Infrastruktur, Informationskrieg, Cyberwar, Sanktionsgerangel: Ende Februar begann der erste echte hybride Krieg, bei dem die Schlachtfelder unüberschaubarer sind als je zuvor. Eine der verheerenden Folgen: die größte Flüchtlingswelle seit dem Zweiten Weltkrieg, wie es in einer Stellungnahme von Experten heißt, die von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften initiiert wurde.

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Zahlen & Fakten

Dank Strategiefehlern, zumindest teilweise unzulänglichem Material und rapide sinkender Moral der Truppe wirkte die Aggression des Kremls in den ersten Wochen immer notdürftiger. Es zeichnet sich jedenfalls immer deutlicher ab, dass die menschlichen, wirtschaftlichen und geopolitischen Folgen Russland in der Geschichtsschreibung sicher nicht als glorreichen Sieger dastehen lassen werden. Man hat jede Vertrauensbasis zu seinen bisherigen Handelspartnern zerstört und sich vollends von China abhängig gemacht.

Wladimir Putin hat sich gründlich verschätzt, und da muss er jetzt durch. Bei allen Gefährlichkeiten, zu denen ein angeschlagenes, in die Enge getriebenes Individuum fähig ist. Denn wenn wirklich alles schiefläuft, könnte Wladimir Putin noch tiefer in sein Waffenarsenal greifen. Auch die Atomkriegsgefahr gehört zur neuen Weltordnung; und Skrupel könnten dabei eine untergeordnete Rolle spielen.

Putins Werkzeuge

Die amerikanische Putin-Kennerin und -Biografin Fiona Hill meint in einem Interview mit dem US-Politik-Portal Politico: „Wenn Putin ein Werkzeug besitzt, will er es auch verwenden.“ Auf die Frage, ob der russische Präsident im aktuellen Konflikt wirklich Atomwaffen einsetzen würde, antwortet Fiona Hill: „Ja, er würde. Und er will auch, dass wir das wissen.“

Ganz unschuldig sind wir allerdings nicht an der Situation. Rückblickend betrachtet hat der Westen über Jahrzehnte hinweg die falschen Signale ausgesendet, falsche Annahmen getroffen, die falschen Verträge unterzeichnet. Die ehemalige deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer drückte den Status quo in einem Tweet mit geradezu entwaffnender Ehrlichkeit aus:

Ich bin so wütend auf uns, weil wir historisch versagt haben.

Annegret Kramp-Karrenbauer (ehemalige dt. Verteidigungsministerin)

Russland lieferte brav Rohstoffe und Energie und nahm damit Europa, allen voran Deutschland und Österreich, in wirtschaftspolitische Geiselhaft. Umgekehrt taten die meisten europäischen Staaten alles, um ihre Abhängigkeit von russischem Gas zu erhöhen. Gleichzeitig fühlte sich Putin geopolitisch kaum ernst genommen. Dabei hätte nach Tschetschenien, Georgien, Krim und Ostukraine sowie Syrien längst klar sein sollen, dass er sich nicht mit den Grenzen Russlands zufriedengeben würde.

Das Highlight der Fehleinschätzung kam von Barack Obama, der als US-Präsident das Land mit den meisten Atomraketen als „Regionalmacht“ bezeichnete. Die Erkenntnis daraus: Beleidige niemals einen ehemaligen KGB-Agenten, der schon auf dem Schulhof die Muskeln spielen ließ.

Auch die Komplexität des ukrainisch-russischen Verhältnisses und seiner Geschichte wurde unterschätzt, wie der frühere US-Außenminister Henry Kissinger schon 2014 darlegte. Seine Einschätzung zur Positionierung des Landes im Spannungsfeld zwischen Ost und West: „Wenn die Ukraine überleben und gedeihen soll, darf sie nicht der Vorposten der einen Seite gegen die andere sein – sie sollte als Brücke zwischen beiden Seiten fungieren.“

Mögliche Lösungsansätze

Fakt ist: Wir leben gerade mitten in einem Jahrhundertereignis, dessen Konsequenzen zu weitreichenden gesellschaftlichen Wendepunkten führen werden. Deshalb haben wir uns auf die Suche nach den wahrscheinlichen Auswirkungen des Konflikts und möglichen Lösungsansätzen begeben.

Am Anfang steht jenes Thema, bei dem uns der Krieg persönlich am nächsten kommt. Der Schriftsteller und Pazifist Michael Köhlmeier und der deutsche Soziologe Michael Ernst-Heidenreich haben parallel die Frage beantwortet, ob unsere Wohlstandsgesellschaft überhaupt noch Krieg kann.

Essays: Können wir Krieg?

Wir befassen uns mit den vielfältigen Krisenherden des Planeten und holten Expertenmeinungen ein. Die erschreckendste These stammt von unserem Mann für Nordkorea, Rüdiger Frank, der unter anderem erklärt, dass Putin bei einer atomaren Bewaffnung der Ukraine vielleicht nie einen Angriff gewagt hätte. Das wiederum könnte in naher Zukunft zu einer atomaren Aufrüstung von Südkorea und Japan führen.

Brennpunkte

Der Politikwissenschaftler Ulrich Menzel beschäftigt sich mit dem Kampf der Systeme und der daraus resultierenden neuen Weltunordnung. Derzeit sieht es ja für die Autokraten aller Länder ziemlich gut aus, aber das kann sich auch schnell wieder ändern. Die Demokratien müssen jetzt nur schnell aus der Wohlfühlzone finden. Die Militärhistorikerin Federica Fasanotti skizziert die neu zu gestaltende europäische Sicherheitspolitik. Ganz-kurz-Fassung: Keine Verteidigung wird in Zukunft keine Lösung sein. Ausschließlich online finden Sie eine Analyse von Lukas Bittner über die neuen Schrecken eines Cyberwars.

Reports aus dem Dossier

Nur China kann Putin stoppen

Der Ukraine-Krieg verdeutlicht die neue Weltunordnung, in der liberale auf autoritäre Regierungsformen stoßen. Der Rückhalt Russlands in der Welt ist dabei größer als im Westen gerne angenommen.

Illustratiuon von Menzel Ulrich
ist emeritierter Professor für Internationale Beziehungen