Kalter Krieg im neuen Gewand

Der Krieg in der Ukraine zeigt, dass sich die Sicherheitspolitik der Europäischen Union auf den Schutz der Demokratie konzentrieren muss. Die Achse Russland-China könnte die Welt in einen neuen Kalten Krieg führen.

Auswirkung von Krieg: Zerstörte Wohnung mit geborstenen Wasserleitungen und Eiszapfen in Charkiw, Ukraine, März 2022
Eine zerstörte Wohnung in Charkiw, Ukraine, im März 2022. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Paradigmenwechsel. Die Europäische Union muss ihre geopolitische Ausrichtung überdenken und der Verteidigungspolitik größeren Stellenwert beimessen.
  • Glaubwürdigkeit. Für eine wirksame Abschreckung sollte die EU die Verknüpfung von nuklearen und konventionellen Mitteln der Kriegsführung diskutieren.
  • Aufrüstung. Die European Peace Facility war der erste Schritt für eine gemeinsame Verteidigung Europas und wird zu einem Aufrüstungsinstrument werden.
  • Schutz der Demokratie. Durch die Annäherung der Autokratien in Russland und China entsteht eine ernsthafte Bedrohung für die westlichen Demokratien.

Der 28. Juni 1914. Der 1. September 1939. Der 7. Dezember 1941. Der 11. September 2001. Das waren alles Schlüsselereignisse in der Geschichte. Und nun der 24. Februar 2022 – der Beginn der russischen Invasion gegen den souveränen Staat Ukraine. Wird auch dieses Datum zu einem Wendepunkt in der Geschichte?

Ich sage eindeutig: ja. Putins Angriffskrieg wird Europa und die Welt verändern; Europa allerdings stärker. Er wird nicht nur militärische Auswirkungen haben, sondern auch die Denkweise der Menschen verändern. Seit dem Zusammenbruch der UdSSR haben die USA und Russland in Fragen der europäischen Sicherheitsarchitektur meist aneinander vorbeigeredet. Auf Phasen der Ruhe (mehr oder weniger) folgten Phasen der Spannung. Seit 2008, als die NATO der Ukraine und Georgien eine Mitgliedschaft in Aussicht stellte und Russland daraufhin Georgien angriff, haben sich die Beziehungen zunehmend verschlechtert. Den letzten Höhepunkt der Kontroverse stellte 2014 die Annexion der Krim und die Unterstützung des Aufruhrs im Donbass als Reaktion auf die Euromaidan-Proteste dar.

Der Krieg in der Ukraine erzwingt ein Umdenken

Die große Mehrheit der Ukrainer fordert immer lauter den Beitritt zur Europäischen Union. Präsident Wolodymyr Selensky schlug dazu am Abend des 28. Februar 2022 ein besonderes Verfahren vor. „Die Europäer werden Zeugen, wie unsere Soldaten nicht nur für unser Land, sondern für ganz Europa, für den Frieden, für alle Länder der Europäischen Union kämpfen.“ Acht EU-Mitgliedstaaten – Bulgarien, die Tschechische Republik, Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Slowakei und Slowenien – haben bereits ein gemeinsames Schreiben unterzeichnet, in dem sie den Antrag Kiews auf den Beitritt zur EU unterstützen. In jedem Fall erfordert das aber viel Zeit, die Kiew nicht hat, deshalb der Antrag auf ein Schnellverfahren.

Mitten im Krieg: Wolodymyr Selenskiy bei einer Rede am 22. März 2022.
Wolodymyr Selenskiy betont immer wieder, dass es im Krieg gegen die Ukraine um die Zukunft der Demokratie geht. © Getty Images

Der Fall Ukraine hat hohen symbo­lischen Wert. Brüssel hat in einer beispiellosen Entscheidung bereits Rüstungsgüter in Höhe von 450 Millionen Euro finanziert. Die Gemeinschaft muss aber ihre gesamte geopolitische Ausrichtung neu überdenken. Der russische Angriff hat den Europäern die Augen für die Realität der russischen Aggression geöffnet. Es ist noch nicht so lange her, da diagnostizierte der französische Präsident Emmanuel Macron der NATO einen kurz bevorstehenden „Hirntod“, nun ist die Position des Verteidigungsbündnisses enorm gestärkt.

Aufrüstung als Bollwerk gegen den Krieg

Nach Jahren der Untätigkeit werden die europäischen Staaten nun gezwungen sein, ihre Militärausgaben deutlich zu erhöhen, um ihre Unabhängigkeit und demokratischen Werte zu bewahren. Es gab schon lange Forderungen, dass Deutschland die NATO-Richtlinie umsetzt, zwei Prozent seines Brutto­inlandsprodukts für die Verteidigung auszugeben. Es hat aber Putins Einmarsch in die Ukraine gebraucht, damit das auch tatsächlich umgesetzt wird. Für eine sichere Beurteilung der militärischen Folgen ist es noch zu früh. Viele künftige Entscheidungen werden von der Entwicklung des Konflikts abhängen. Aber es wird gewiss Diskussionen zu einer starken Verknüpfung von nuklearen und konventionellen Mitteln der Kriegsführung geben, um eine glaubwürdige Abschreckung zu gewährleisten.

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Zahlen & Fakten

Schon im Vorjahr schuf Brüssel außerhalb des normalen Haushalts die „European Peace Facility“ (EPF), um internationale, militärisch unterstützte Sicherheitsoperationen zu finanzieren – ein erster Entwurf für die gemeinsame Verteidigung unseres Kontinents. Nun wird die EPF wahrscheinlich zu einem Aufrüstungsinstrument Europas werden. Die NATO hat den Weckruf gehört und wird das Hauptaugenmerk ihrer Aktivitäten auf die östlichen Grenzen legen. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg kündigte bereits die Aufstellung großer Gefechtsverbände an, allerdings ohne von genauen Standorten zu sprechen. Sicher ist, dass die NATO angesichts des deutlich angestiegenen Sicherheitsbedürfnisses an Stärke gewinnen wird.

Vom Konflikt zum Kalten Krieg

Die dringlichere strategische Frage geht allerdings weit über den ­Ukraine-Konflikt hinaus. Wie will die sogenannte freie Welt, die Gemeinschaft der Demokratien, in Zukunft mit der Achse Russland – China umgehen? Diese Autokratien spielen zunehmend ihre Macht aus und werden damit zu einer unmissverständlichen Herausforderung für die liberale Weltordnung.

Am 4. Februar gaben Russland und China in Peking eine gemeinsame Erklärung ab, in dem sich beide Länder zu Demokratie, Menschenrechten und der Notwendigkeit der Nichteinmischung in souveräne Staaten bekennen – allerdings zu ihren eigenen Bedingungen.

Die Achse Russland – China wird zunehmend zur Herausforderung für die liberale Weltordnung.

Schöne Worte, ausgesprochen von den Anführern von zwei der autoritärsten Nationen dieser Welt. Putin ist seit knapp 23 Jahren an der Macht und dürfte es bis 2036 bleiben, wenn ihm kein politischer Umsturz dazwischenkommt. Xi Jinping, seit neun Jahren Staatspräsident Chinas, hat sich im vergangenen November sein Amt auf Lebenszeit gesichert.

Auf die Wahrung liberaler Werte darf man nicht hoffen, wenn Russland und China eine Achtung der nationalen Souveränität fordern. Die expansionistischen Ziele beider Nationen sind klar. In dem Abkommen wurde definiert, dass die Freundschaft zwischen den beiden Staaten keine Grenzen kennen soll, keine „verbotenen“ Bereiche der Zusammenarbeit. Eine wahrhaft erschreckende Erklärung.

Neue Achse der Autokratie

Das Signal an die demokratische Welt besteht nicht nur darin, dass diese beiden Staaten diametral unterschiedliche Ziele gegenüber der Gemeinschaft der Demokratien verfolgen. Sie vereinnahmen dieselben Begriffe und schrecken offensichtlich auch nicht davor zurück, konventionelle Gewalt unter Androhung eines Atomkriegs einzusetzen, um ihre Ziele zu erreichen. Es ist also durchaus realistisch, dass uns die Achse Russland-China in einen neuen Kalten Krieg führen könnte. Dessen Auswirkungen würden nicht nur Sicherheitsaspekte betreffen, sondern darüber hinaus auch deutliche Konsequenzen für Europas Wirtschaft zeigen. Wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass es in der Ukraine – und vielleicht auch bald in Taiwan – nicht um regionale Konflikte geht, sondern um das ultimative Aufeinanderprallen von Werten und Kulturen.

Der US-Politikwissenschaftler Joseph Nye hat dazu eine klare Meinung: „Der heutige strategische Wettbewerb mit China und Russland könnte in der Zukunft jede beliebige Wendung nehmen. Wir müssen uns auf Veränderungen und Überraschungen einstellen, dabei aber auch bedenken, wie sich unsere Entscheidungen auf das langfristige Ziel auswirken, das Risiko eines Atomkriegs zu verringern.“

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Conclusio

Der Krieg in der Ukraine ist die gewaltsame Konfrontation von Autokratie und Demokratie. Die Europäische Union kann darauf mit Aufrüstung reagieren und sollte auch nukleare Mittel diskutieren. Doch es gibt noch weitere Konflikte. Die Europäische Union ebenso wie die USA sollten sich im Klaren darüber sein, was auf dem Spiel steht: Die Annäherung von Russland und China wird nicht nur zu einem Problem im vermeintlich regionalen Konflikt Taiwans mit der chinesischen Supermacht, sondern birgt die Gefahr eines zermürbenden Kalten Krieges, der über einzelne Regionen hinaus geht und die westlichen Demokratien bedroht.