Angst und Statistik vertragen sich nicht

Atomkraft macht Angst. Aber warum eigentlich? Dass wir uns bei der realistischen Einschätzung atomarer Gefahren so schwertun, hat evolutionäre Gründe.

Illustration von Angst vor Atomkraft. Man sieht eine dunkle Regenwolke mit dem Symbol für Radioaktivität, darunter steht ein Mensch, der eine Hand schützend über seinem Kopf hält.
Atomkraft macht vielen Menschen Angst. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Konkurrenz im Kopf. Das Angsthirn und das sogenannte „denkende“ Hirn arbeiten nicht immer miteinander.
  • Macht der Bilder. Verstörende Fotos von Atom-Unfällen entfalten große Wirkung auf das Angstverhalten der Menschen.
  • Kühle Rechner. Menschen im Norden sind generell vorsichtiger, haben also auch mehr Angst vor radioaktiver Strahlung.
  • Fakten zählen. Umfassende Aufklärung über reale Atom-Gefahren ist das beste Mittel, um die Angst vor der Kernenergie zu besiegen.

Um die Angst vor Atomkraft und ihre Begleiterscheinungen zu verstehen, muss man das menschliche Gehirn und seine Funktionen kennen und gründlich analysieren. Denn es gibt in unserem Kopf zwei Teilbereiche, die hierfür relevant sind: Hinter der Stirn sitzt das „denkende Hirn”, das man auch als Vernunftgehirn bezeichnen könnte. Hier werden Erfahrungen und Wissen verarbeitet. Mehr im Zentrum des Schädels ist das „Angstgehirn“ lokalisiert, welches sehr einfach strukturiert ist, aber für unser Überleben verantwortlich ist. Diese beiden Systeme harmonieren allerdings nicht notwendigerweise miteinander. Es ist wie in einem Rathaus – die verschiedenen Behörden arbeiten teilweise gegeneinander. Es kann zum Widerstreit zwischen dem Angst- und dem Vernunftgehirn kommen: So kann das Vernunftgehirn sagen, dass eine Hausspinne völlig ungefährlich ist, während das Angstsystem eine panikartige Reaktion auslöst.

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Schreckensbilder wie von den Kernkraftwerken Tschernobyl und Fukushima, oder der gewaltige Atompilz über den Bombenabwurfstellen in Hiroshima und Nagasaki wirken auf das Angstgehirn. Es warnt uns vor Lebensgefahr. In der grauen Urzeit waren das wilde, unberechenbare Tiere, die auf auf uns zugerast sind. Heute können es Terrorangriffe oder eben Fotos von Nuklearkatastrophen sein. Wenn eine unmittelbare Gefahr droht, sorgt das Angstgehirn für eine sekundenschnelle Umstrukturierung des Körpers – vergleichbar mit den Sicherheitssystemen eines modernen Autos, das den Unfall praktisch schon vorher ahnt. Die Gurtstraffer werden angezogen, die Bremsen in Vorspannung gebracht und die Airbags werden aktiv.

Beim Menschen beschleunigt sich der Herzschlag und das Blut wird in die Arme (zum kraftvollen Kämpfen) und in die Beine (zum schnellen Wegrennen) gepumpt. Die Atemfrequenz wird deutlich schneller, man schwitzt, und es kann sogar zu Schwindelgefühlen kommen – weil das Blut, und damit der lebensnotwendige Sauerstoff, im Kopf fehlt.

In großen Krisen übernimmt das Angstgehirn und schaltet das Vernunftgehirn aus.

Atomkraft zur reinen Energiegewinnung spricht das Angstgehirn freilich nicht an. Es gibt keinerlei äußere Reize. Radioaktive Strahlung ist nämlich unsichtbar, geschmacks- und geruchlos. Uns fehlen schlichtweg die Sinnesorgane, um sie wahrzunehmen. Die Arbeiter, die in der Kraftwerksruine von Tschernobyl nach dem atomaren Unfall zum Aufräumen abkommandiert waren, konnten die heftige Strahlung nicht unmittelbar wahrnehmen.

Angst und Vernunft arbeiten gegeneinander

In großen Krisen übernimmt oft das Angstgehirn und schaltet das Vernunftgehirn aus. Das konnten wir in der Coronakrise sehen, als Menschen in den ersten Wochen Mehl und Toilettenpapier hamsterten. Dies kann man auch am Umgang mit dem bekannten Atomunfall in Fukushima sehen, bei dem ein japanisches Atomkraftwerk 2011 durch ein Erdbeben und den darauffolgenden Tsunami schwer beschädigt wurde. Große Mengen radioaktiven Materials wurden in die Atmosphäre und ins Meer freigesetzt. Das Unglück war vor allem in Europa tagelang im Zentrum der medialen Berichterstattung. Obwohl der Schauplatz fast zehntausend Kilometer von Deutschland entfernt ist, hatten viele Menschen Angst. Das Angstgehirn wurde mit Bildern und Nachrichten getriggert und sorgte für Panikreaktionen. Bei Krisen beobachtet man immer, dass sich nach etwa vier Wochen – egal was passiert ist – die Aufregung wieder legt. Etwa vier Wochen nach dem katastrophalen Ereignis verschwand es aus den Medien, obwohl zu diesem Zeitpunkt die Gefahr noch lange nicht gebannt war: Die Anlage stand vier Wochen nach dem Unfall kurz vor dem Super-Gau.

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Zahlen & Fakten

Bemerkenswert: Ich war persönlich wenige Wochen danach in Tokio. Die Menschen dort redeten über Fukushima –allerdings weit weniger häufig und emotional aufgeladen als in Deutschland, wo das Unglück ein wichtiger Mitauslöser des Beschlusses zum Atomausstieg war.

Menschen im Norden sind ängstlicher

Das führt uns zur hochinteressanten Frage, warum in Österreich und Deutschland die Angst vor Kernenergie größer als anderswo auf der Welt ist. Menschen im Norden haben schlichtweg mehr Angst als die Bevölkerung im Süden. Oder anders gesagt: Deutsche und Österreicher sind tatsächlich in jeder Beziehung größere Bedenkenträger. Sie haben vorausschauende Angst. Nach dem Motto: Jetzt funktioniert es, aber wer weiß, was in zehn Jahren oder noch später passiert.

Die Ursache liegt in einer Wanderungsbewegung, die vor etwa 40.000 Jahren eingesetzt hat. Damals kamen erstmals größere Bevölkerungsgruppen nach Mittel- und Nordeuropa und in alpine Regionen und waren dort mit sehr strengen Wintern und ihren Begleiterscheinungen konfrontiert. Ackerbau, wie ihn die Menschen bis dahin kannten, war nicht mehr das ganze Jahr über möglich. Die Vorsichtigen, die Bedenkenträger, dachten vorausschauend und kamen zur Erkenntnis, dass man für die kalte Jahreszeit eben vorsorgen muss. Die anderen lebten hingegen fröhlich in den Tag hinein.

Rund die Hälfte unserer Ängste sind bereits bei der Geburt bestimmt.

Die Folge: Die Unbekümmerten verhungerten, während die Bedenkenträger länger überlebten. Ängstlich zu sein, war also ein klarer Vorteil im Kampf gegen widrige Umstände. Wir können den Unterschied zwischen Nord und Süd auch heute noch beobachten, selbst in Europa. Damit mag auch der entspanntere Umgang der Franzosen mit dem Thema Atomenergie zusammenhängen. Denn die Ängste vererben sich. Rund die Hälfte unserer Ängste sind bereits bei der Geburt bestimmt. Ergebnisse aus Zwillingsuntersuchungen, die Einflüsse der Erziehung ausschalten, bestätigen das ganz klar. Dass Ängste vor Gefahren vererbt werden und nicht immer wieder neu erlernt werden müssen, ist sinnvoll, allerdings führt es eben dazu, dass bestimmte regionale Personengruppen vorsichtiger sind als andere.

Ein weiterer Punkt bei der im deutschen Sprachraum verbreiteten Angst vor Kernenergie liegt etwas weniger weit zurück. Ende der 1960er-Jahre und bis in die 1980er-Jahre war die „Atomkraft, nein danke!”-Bewegung sehr stark präsent – gerade im studentischen Milieu. Da ging es auch um ein Aufbegehren gegen das Establishment. Für viele Studenten, die heute in Führungspositionen arbeiten, war völlig klar: Man ist einfach gegen Atomkraft, weil es alle anderen im Umfeld auch sind. Ist man der gleichen Meinung wie die Peer-Group, dann macht das das Leben einfacher. Weitere gründliche Beschäftigung mit dem Thema wurde für nicht notwendig erachtet.

Ich rate aber dringend dazu, dass jeder Mensch, unabhängig vom Thema, eine eigene Risikobewertung vornimmt, sofern er dazu in der Lage ist. Beim Umgang mit der Coronavirus-Pandemie passiert das gerade recht weit verbreitet. Zunächst folgten alle den Vorgaben der Regierungsbehörden. Nun arbeitet sich aber jeder sein eigenes Risikoprofil heraus, ohne die staatlichen Vorgaben zu beachten. Man bewertet die persönliche Gefahrenlage und will sich entsprechend verhalten. Dabei kommt es nicht bei allen Menschen zu einer realistischen Risikobewertung.

Kann man Angst überwinden? Grundsätzlich ja.


Wer sich mit Angst auseinandersetzt, erkennt weitere signifikante Muster, die auch im Umgang mit der Gefahreneinschätzung von Kernkraft korrelieren. Die ängstlichste Gruppe ist zwischen 30 und 50 Jahre alt. Danach nimmt das generelle Angstniveau wieder ab. Wir können dies auch aktuell im Zusammenhang mit der Coronavirus-Pandemie beobachten. Und: Frauen sind wesentlich ängstlicher als Männer. Zwei Drittel der Patienten mit Angststörungen sind Frauen. Auch das hat mit unserer Entwicklungsgeschichte zu tun. Vereinfacht gesagt mussten sich einst die Männer als Mammutjäger bewähren, um eine Frau zu bekommen. Mutige Männer konnten sich also fortpflanzen, zaghafte weniger. Bei Frauen war Mut weniger gefragt, es war eher die Angst und Sorge um die Kinder, die deren Wohlergehen und Überleben bestimmte.

Fakten gegen die Angst vor Kernenergie

Kann man Angst überwinden? Grundsätzlich ja. Das trifft aber vor allem auf Phobien und andere Angsterkrankungen zu, weniger auf vorausschauende Ängste wie beim Thema Kernenergie. Während bei Ersteren Konfrontation und spezielle Medikamente helfen können, nützen bei der vorausschauenden Angst nur Fakten. Ein praktisches Beispiel, dass zeigt, dass Angst gut überwunden werden kann: Skifahren. Das Angstgehirn warnt: „Das ist ein glitschiger, steiler Abhang, fahr da nicht runter!“ Hat man durch Konfrontation im Skikurs diese Phase aber überwunden, kann man ohne große Angst den Berg hinunter wedeln – ja, sogar Spaß und Freude dabei empfinden. Es gibt auch einen Gewohnheitseffekt. Es ist bekannt, dass Autofahren gefährlich ist – man fährt aber dennoch.

Das Fazit: Angst vor den Gefahren der Atomkraft spricht durch drastische Bilder von Unfällen das Angstgehirn an. Daneben, oder wenn diese Phase abgeklungen ist, übernimmt der vernünftige Teil des Gehirns die Einordnung der Gefahrenlage. Hier geht es um Zahlen, Daten, Fakten. Deren Bewertung kann Beunruhigung auslösen oder auch nicht. Im deutschsprachigen Raum ist die vorausschauende Angst vor gefährlichen Ereignissen, die in der Zukunft liegen, ausgeprägter als in anderen Erdteilen. Das hat Vor- und Nachteile. Nur Faktenbewertungen können hier das Angstpendel in die eine oder andere Richtung ausschlagen lassen. Kurz gesagt: Fakten helfen, Ängste zu überwinden.

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Conclusio

Radioaktive Strahlung ist mit unseren Sinnen nicht wahrnehmbar, aber die einprägsamen Bilder von Unfällen in Kernkraftwerken haben eine starke Wirkung auf unser Angstempfinden. Diese Angst führte in Deutschland zum überhasteten Atomausstieg. Bemerkenswert ist, dass Menschen im Norden, Frauen und die Altersgruppe zwischen 30 und 50 Jahren besonders ängstlich sind. Angst vor Atomkraft ist eine „vorausschauende Angst“ und im deutschsprachigen Raum besonders ausgeprägt. Dieser Angst können nur Fakten, Aufklärung und wissenschaftlich fundierte Daten entgegenwirken.