Die Erneuerbaren brauchen Atomkraft

Deutschland setzt auf erneuerbare Energien wie Wind und Sonne, um das Klima zu schützen. Die smarte Kombination mit Kernkraft würde Probleme abfangen und Versorgungssicherheit garantieren.

Foto von Kernkraftwerk und Windrädern
Kernkraft erzeugt Energie, wobei nur Wasserdampf emittiert wird. Windkraft ist noch sauberer. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Rohstoff-Vorteil. Kernkraft profitiert von der unerreicht hohen Energiedichte von Uran, was hohen Output und stabile Grundlast ermöglicht.
  • Lösung Energiemix. Die kluge Kombination von Kernkraft mit erneuerbaren Energien ist ein wirksames Mittel gegen die Klimaerwärmung.
  • Ermüdung. Jahrzehntelanger Stillstand bei der Atomtechnologie hat Deutschland zu einem Schlusslicht werden lassen.
  • Vor Renaissance. Neue Generationen von Atomreaktoren punkten mit deutlichen Sicherheits- und Kostenvorteilen.

Der globale Klimawandel ist die größte Herausforderung unserer Epoche, vergleichbar der Bedrohung durch einen Nuklearkrieg in der Periode des Kalten Krieges. Wie in der Zeit des Ost-West-Konflikts versucht die Menschheit, die Gefahr durch Vertragswerke zu bannen. Der Gegenstand der heutigen Abrüstungsverhandlungen ist der CO2-Gehalt der Erdatmosphäre, der soweit gesenkt werden muss, dass zumindest eine Erderwärmung von 1,5 bis zwei Grad Celsius nicht überschritten wird. Diesen Wert halten Klimawissenschaftler für die Voraussetzung, um das Allerschlimmste noch zu verhindern.

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Insbesondere die alten Industriegesellschaften des globalen Nordens, aber auch Indien und China, sind gezwungen, emissionstechnisch abzurüsten, denn sie sind für das Gros des weltweiten CO2-Ausstoßes verantwortlich. Gleichzeitig stehen sie vor der Herausforderung, den mit dieser Aufgabe verbundenen Technologiewechsel so zu gestalten, dass er nicht in eine Selbstdemontage der Industriegesellschaft mündet.

Diese Dekarbonisierung soll vor allem mit dem Umstieg von fossilen Energieträgern auf CO2-arm erzeugten elektrischen Strom gelingen. In der Zukunft soll also nicht nur die Elektrizitätswirtschaft dekarbonsiert werden, sondern auch der Sektor Mobilität und der Wärmemarkt (durch Wärmepumpen, elektrische Direktheizung) elektrifiziert werden. Diese Strategie nennt man „Sektorkopplung“. Elektrischer Strom ist also die Leitwährung des Klimaschutzes – darüber sind sich alle Akteure einig.

Die Geister scheiden sich an den Instrumenten zur Bereitstellung CO2-armen Stroms, der zudem in weit größerer Menge als heutzutage zur Verfügung stehen muss. Die Europäische Union legt in ihrem „Green Deal“ den Schwerpunkt auf die Stromerzeugung durch erneuerbare Energien. Deutschland strebt an, bis 2050 über 80 Prozent seines Stroms mit erneuerbaren Energien zu erzeugen.

Die hohe Energiedichte des Urans macht die Kernenergie zu einer Klimaschutz-Technologie

Andere Länder sehen es als unerlässlich an, eine weit schlagkräftigere, weil viel energiedichtere Form der Stromerzeugung zu nutzen: die Kernenergie. Unterstützt wird dieser Trend vom Regierungswechsel in den USA, deren Präsident Joe Biden auf ein integriertes Klimaschutzkonzept setzt, welches alle CO2-armen Technologien fördert und die Kernenergie einbezieht.

Es ist ihre hohe Energiedichte, welche die Kernenergie zu einer bedeutenden Klimaschutz-Technologie macht. Ein Kilogramm Uran-235 enthält, wird es der Kernspaltung zugeführt, über zwei Millionen Mal mehr Energie als ein Kilogramm Steinkohle. Betrachtet man den Energieumsatz verschiedener Anlagen mit Bezug auf die beanspruchte Fläche, so kommen Erneuerbare Energien wie Windkraft oder Photovoltaik auf Leistungsdichten von ein bis zehn Watt pro Quadratmeter, die Kernenergie schafft Leistungsdichten von etlichen Tausend Watt pro Quadratmeter. Das setzt die Kernenergienutzung, was ihren Ressourcen- und Flächenverbrauch angeht, in einen großen ökologischen Vorteil gegenüber den extensiven Erneuerbaren.

Kernenergie-Kritiker sehen jedoch gerade diese Energiedichte als größtes Problem an, denn es müssten aufwendige sicherheitstechnische Vorkehrungen getroffen werden, um die enormen Wärmemengen aus dem Kern von Leistungsreaktoren sowohl im Normalbetrieb als auch im Störfall sicher abzuführen.

Stromspeicherung als Schlüsselproblem

Wenn elektrischer Strom die Leitwährung des Klimaschutzes ist, so ist die Stromspeicher-Infrastruktur der Zukunft sozusagen seine Zentralbank. Jedenfalls in Ländern, die vor allem auf erneuerbare Energien setzen. Insbesondere Deutschland – das anders als die Alpenländer über keine wesentlichen Wasserkraftreserven verfügt – hat seine technologische Wahl fast ausschließlich auf die wetterabhängigen erneuerbaren Energien Wind und Photovoltaik verengt. Und steht daher mit wachsendem Erneuerbaren-Anteil bei gleichzeitigem Atom- und Kohleausstieg vor dem Problem, für Backup und/oder Stromspeicherung sorgen zu müssen.

An den Kosten der im Industriemaßstab notwendigen – aber noch nicht einmal in Ansätzen vorhandenen – Speicher-Infrastruktur wird sich das Schicksal der deutschen Energiewende entscheiden. Fachleute rechnen je nach Studie mit einem Bedarf zwischen 30 und 100 Terawattstunden Langzeitspeicherkapazität. Da Batteriespeicher kleiner Kapazität, die in letzter Zeit erhebliche Kosteneinsparungen erreichen konnten, nur für den Ausgleich von Kurzzeitschwankungen genutzt werden können, steht und fällt die Lebenstüchtigkeit von vorwiegend auf erneuerbaren Energien aufgebauten Systemen also mit der Langzeitspeicherung, welche im Extremfall lange winterliche Dunkelflautenwetterlagen abdecken muss.

Kernkraft als Energie-Backup

Beabsichtigt ist die Erzeugung von Wasserstoff durch Elektrolyse mit überschüssigem Wind- und Sonnenstrom, die anschließende Methanisierung mit Hilfe von Biogasanlagen als Kohlenstoffquelle und die Rückverstromung des „Grünen Gases“ in Gaskraftwerken. Während als Transport- und Aufbewahrungsinfrastruktur das vorhandene Gaskavernen- und Pipelinenetz des Erdgassystems genutzt werden könnte, ist ungewiss, ob Elektrolyse- und Methanisierungskosten wirklich so stark sinken werden, um mit direkter – aber klimaschädlicher – Erdgasverstromung konkurrieren zu können. Voraussichtlich kann ein solches System nur unter einer sehr hohen CO2-Bepreisung fossiler Brennstoffe mit konventionellem Erdgas konkurrieren.

Aus diesem Grunde erscheint ein Kernenergie-Erneuerbaren-Mix, der auf Speichertechnik nicht im selben Ausmaße angewiesen wäre, eine naheliegende Lösung. Man bräuchte dann weder den flächenfressenden „overbuild“ an Erneuerbaren, noch Synthesegasanlagen in jener Anzahl, die ein ausschließlich erneuerbares Energie-System erfordern würde.

Kernkraftwerke wiederum können zwar im Mittellastbereich ein CO2-freies Backup für Erneuerbare zur Verfügung stellen, besonders wirtschaftlich und verschleißarm sind sie aber erst in Volllastbetrieb. In einem Kombisystem aus nuklearer und erneuerbarer Energie könnten Kernkraftwerke in Volllast gleichzeitig die Endverbraucher und Elektrolyseure für die Wasserstoffwirtschaft kontinuierlich versorgen. Ist viel Windstrom im Netz, produzieren sie mehr Wasserstoff, herrschen schlechte Wetterbedingungen, versorgen sie vor allem Industrie und Bevölkerung

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Zahlen & Fakten

Auf diesem Wege produziertes grünes – oder vielmehr nukleares – Gas würde CO2-neutral den Spitzenlastbedarf abdecken. Also das tun, was heute schnell regelbare Erdgaskraftwerke machen. Auch die OECD argumentiert, dass ein solches Mischsystem unterm Strich weit günstiger zu haben sei als das exklusive erneuerbare Energie-System, das Deutschland anstrebt. Aus dieser Perspektive hat die Kernenergie ihre Zukunft also noch vor sich, zumindest in kapitalkräftigen Industriestaaten.

Aufstrebender Osten, ermüdeter Westen

Derzeit ist ein Aufstreben der Kerntechnik aber vor allem auf Russland und Asien beschränkt. Während Russen, Koreaner und Chinesen seriell Leistungsreaktoren der fortgeschrittensten Druckwasserreaktorgeneration bauen, haben die Traditions-Nuklearwirtschaften des Westens mit Ermüdungsproblemen zu kämpfen. Nach einer langen Lücke in der Bautätigkeit seit Mitte der 1980er Jahre – als die Strommärkte gesättigt und die Nuklear-Befürworter durch Unfälle in der Defensive waren – kämpfen die Neubauprojekte mit Kostenexplosionen und Fertigungsfehlern aufgrund verlernter Routinen.

Dazu kamen ständig wechselnde regulatorische Anforderungen selbstbewusster Aufsichtsbehörden. Mit solchen Problemen muss sich weder die russische noch die chinesische Konkurrenz herumschlagen, die unter den Bedingungen autoritärer Systeme mit Staats-Atomwirtschaften operiert. Allerdings hat der russische Konzern Rosatom in den letzten beiden Jahrzehnten auch seine Fähigkeiten in der seriellen Organisation von Atombaustellen im Ausland perfektioniert und drückt auf diese Weise die Kosten. China will bis 2060 komplett CO2-neutral werden, und Kernenergie soll dabei eine bedeutende Rolle spielen. 2020 ging der erste komplett selbst entwickelte chinesische Reaktor in Fuqing ans Netz. 

Akzeptanz und Emotion

Im Westen jedoch setzen gut organisierte anti-nukleare NGO-Netzwerke und Ausstiegsbeschlüsse den Atomwirtschaften zu. Sie bringen nicht nur Sicherheits- sondern auch Kostenargumente vor. Was wiederum die öffentliche Akzeptanz der Kernenergie und die mit dieser Energieform verbundenen Emotionen wesentlich beeinflusst.

Die Atomkontroversen in westlichen Ländern werden häufig auch als Stellvertreter-Kontroversen darüber ausgefochten, wie eine Gesellschaft der Zukunft aussehen solle. Das Kernkraftwerk stand, je nach Perspektive, entweder für einen gnadenlosen Atomstaats-Kapitalismus oder galt als Garant einer optimistischen Konsumgesellschaft mit niedrigen Strompreisen.

Gleichzeitig müssen Kernkraftwerks-Betreiber belegen, dass künftige Bauprojekte keine Kostenfallen werden

Doch die Kernenergie kann in demokratischen Ländern nur dann einen klimarelevanten Anteil an der Stromversorgung aufbauen, wenn sie auf gesellschaftliche Akzeptanz trifft. Diese beruht im Wesentlichen auf den Faktoren Reaktorsicherheit, Bezahlbarkeit, Entsorgung, Versicherbarkeit (auch gegen Großunfälle), Versorgungssicherheit und Klimafreundlichkeit. Während die Kernenergie hinsichtlich der beiden letztgenannten Faktoren ein Top-Scorer ist, muss sie auf den anderen Feldern noch kräftig Punkte sammeln, um eine Zukunftsperspektive zu haben.

Kernkraft braucht eine Offensive

Zur Akzeptanz der Kernenergie würde ohne Zweifel beitragen, wenn wissenschaftliche und mediale Akteure der Gesellschaft plausibel machen könnten, dass die Kernenergie im Vergleich zu anderen Energieträgern als extrem sichere Technologie zu sehen ist. Gleichzeitig müssen Kernkraftwerks-Betreiber oder -Bauherren belegen, dass künftige Bauprojekte keine Kostenfallen werden, und dass es versicherungstechnische Lösungen gibt, welche einerseits die Stromgestehungskosten nicht explodieren lassen, andererseits aber für jene Schadensabdeckung sorgen, welche derzeit im Falle eines zwar unwahrscheinlichen, aber denkbaren Großunfalls auf den Staat zurückfällt.

Was die technische Ausgereiftheit, Sicherheitskonzepte und Entsorgung angeht, kommen die hoch standardisierten Generation III+-Druckwasserreaktorkonzepte und die tiefengeologischen Endlagerkonzepte dem Anforderungskatalog, der für eine breite Akzeptanz sorgen könnte, schon sehr nahe. Im Moment ist diese Technologie auch noch viel weiter und ausgereifter, als das medial vielbeachtete, aber bislang nur auf dem Papier existierende oder am Beginn der Pilotphase befindliche Reaktorkonzepte der sogenannten Generation IV.

Die Generation IV will mit Sicherheit punkten, da die Wärmeabfuhr vollständig passiv im Natur-Umlauf funktioniert. Diese neuen Kernkraftwerke versprechen hohe Flexibilität und Anpassbarkeit an Erneuerbare. Und vor allem stellen sie eine energetische Verwertung von Atommüll in Aussicht. Ein Durchbruch in diesem Bereich würde das Volumen an Abfall, für den man langfristige Lagerungs-Lösungen braucht, stark reduzieren. Und damit die Akzeptanz der Bevölkerung enorm erhöhen. Außerdem würde es die Kosten senken und auch die Kernkraftwerks-Versicherung erleichtern und verbilligen.

Erprobte Technologie

Die derzeit sofort einsetzbaren modernen Reaktorkonzepte sind hingegen Kernkraftwerke der Generation III+. Sie verfügen über passive Systeme zur Nachwärmeabfuhr. Was bedeutet, dass sie auch eine Fukushima-Situation (mit tagelangem „station blackout“ ohne Stromversorgung) beherrschen und sogar eine Kernschmelze als Unfallursache ohne radioaktive Freisetzung jenseits der Anlagengrenzen überstehen würden. Im Vergleich zu den herkömmlichen Druckwasserreaktoren ist das nochmals ein großer Sicherheitsgewinn.

Bereits in den 1990er Jahren wurden Konzepte erforscht, welche auch die letzten noch offenen Fragen nach der Robustheit gegen den Absturz großer Verkehrsflugzeuge abräumen sollen. Gelingt dies, würde die Kernschadenswahrscheinlichkeit solcher Reaktoren auf derart kleine Werte reduziert, dass auch die Anlagenversicherung ohne Staatshaftung keine nennenswerte Herausforderung mehr darstellen sollte. Unfälle in solchen Anlagen wären zwar nicht auszuschließen – eine Evakuierung der Bevölkerung in ihrem Umkreis wäre nicht mehr erforderlich.

Es bleibt die Frage, ob all diese pragmatischen Lösungen auch schnell genug umgesetzt werden können, um einen nennenswerten Beitrag zur CO2-Reduzierung zu leisten. Den schnellsten Erfolg mit Blick auf die Erreichung von Klimazielen versprechen staatsgarantierte Finanzierungsmodelle. Solche Finanzierungsmodelle machen die Kostenentwicklung beherrschbar und geben den Energieversorgern Planungssicherheit.

Die Standardisierung von Reaktortypen und standortunabhängigen Genehmigungsverfahren ist wiederum der Schlüssel zur Bauzeitreduzierung. Hier beabsichtigt Frankreich mit seinem EPR2 ein Modell vorzulegen, das nicht mehr an den Kinderkrankheiten der Langzeit-Baustellen Flamanville oder Olkilouto leidet. 

Die Technologie des langen Atems

Im Kostenvergleich mit den Erneuerbaren sind solche Projekte zwar sehr teuer in der Anschaffung, haben mit 60 bis 80 Jahren Laufzeit aber einen weit längeren Atem als sämtliche Erneuerbaren mit Ausnahme der Wasserkraft. Während der Lebenszeit eines modernen Kernkraftwerks müsste auf einem Windpark-Standort desselben Outputs (mit bis zu tausend 5-Megawatt-Anlagen modernsten Fabrikats) angesichts der Anlagen-Lebensdauer von 20 bis 30 Jahren der gesamte Bestand zwei- bis viermal verschrottet und neu gebaut werden. Auf lange Sicht ist also das Kernenergie-Erneuerbare-Mischsystem mit modernen Reaktoren nachhaltiger, preisgünstiger und klimapolitisch ethischer als ein reines erneuerbare Energien-System, das hohe Unsicherheiten birgt, weil es noch nirgends wirklich aufgebaut wurde, und überdies seine hohen Speicherkosten einpreisen müsste.

Gleichzeitig ist jedoch festzustellen, dass all diese Lösungen – die vorhandenen der Generation III+ und die noch zu etablierenden der Generation IV – für eine erfolgreiche serielle Umsetzung politische Rahmenbedingungen benötigen, welche langfristige Entscheidungen absichern. Auch mit Unfällen in Atomanlagen und den von ihnen ausgelösten Ängsten müssen die Entscheider und Betreiber dann transparent, kommunikationsstark und integrativ umgehen können. Ein Hü und Hott, wie es Deutschland zwischen 2000 und 2011 mit Atomausstieg, Laufzeitverlängerung und übers Knie gebrochenem Wiederausstieg hinlegte, kann sich kein Land mehr erlauben, das an einer nachhaltigen und langfristigen Klima- und Energiestrategie interessiert ist.

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Conclusio

Sicherheits- und Kostenargumente haben die Kernkraft in den letzten Jahrzehnten ins Hintertreffen gedrängt – zumindest in Deutschland. Dadurch ging technologisches Know-how verloren. Um den Klimawandel effizient zu bremsen, sollte Kernkraft aber wieder eine Zukunft haben. Vor allem in Form moderner Reaktortypen und im Zusammenspiel mit erneuerbaren Energien. Erst der Einsatz von Atomkraft ermöglicht die Energiewende und die Klimaneutralität.