Kommt jetzt der Atomkrieg?

Seit den 1990er-Jahren bröckelt die nukleare Ordnung. Der Krieg in der Ukraine könnte sie nun endgültig zum Einsturz bringen – oder ihr neues Leben einhauchen.

US-Truppen während der Operation Buster-Jangle in der Wüste von Las Vegas am 1. November 1951
1. November 1951: US-Truppen bei einem Atomwaffentest der Operation Buster-Jangle in der Wüste von Las Vegas. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Wendepunkt. Nach dem Atombombenabwurf in Hiroshima und Nagasaki einigten sich die USA und die Sowjetunion auf eine gemeinsame Rüstungskontrolle.
  • Selbstschutz. Das Prinzip der gegenseitigen Abschreckung funktionierte. Über die Jahrzehnte wurde die nukleare Ordnung um etliche Verträge erweitert.
  • Stopptaste. Seit Mitte der 1990er Jahre wurden immer mehr dieser Verträge aufgekündigt. Die nukleare Ordnung befindet sich im Umbruch.
  • Abrüstung ade? Russlands Krieg gegen die Ukraine trifft ein Land, das einst nuklear abgerüstet hat. Das könnte Atomwaffen für andere wieder zur Option machen.

Die Atombombenangriffe auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki im August 1945 machten deutlich, dass die Nutzung der Kernenergie Regeln unterworfen werden musste. Es galt, diese Energieform für die Menschheit nutzbar zu machen und gleichzeitig ihr zerstörerisches Potenzial im Zaum zu halten. Somit markierte das Jahr 1945 die Entstehung eines Regelwerkes zur Kontrolle der Kernenergie, der sogenannten nuklearen Ordnung. In den fast acht Jahrzehnten seither hat sich diese Ordnung zu einem vielschichtigen und komplexen Gebilde entwickelt.

In letzter Zeit ist es zu neuen Herausforderungen gekommen: Die nukleare Ordnung ist aus dem Gleichgewicht geraten. Auch der Krieg in der Ukraine wird sie beeinflussen, wobei sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht abschätzen lässt, in welche Richtung sich die Dinge entwickeln werden.

Aufrüstung, Abrüstung, Entrüstung

Immer mehr Staaten rüsten auf

Die erste Herausforderung ist die neuerdings verschärfte Dynamik nuklearer Aufrüstung. Auch wenn sich die Anzahl an Nuklearwaffen von mehr als 70.000 im Jahr 1986 auf derzeit 12.700 verringert hat, darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass alle neun Nuklearwaffenstaaten derzeit substanziell in den quantitativen und/oder qualitativen Ausbau ihrer Nuklearstreitkräfte investieren.

Diese unerfreuliche Entwicklung kann auf die schlechten politischen Beziehungen zwischen den Staaten und auf den Druck von Interessensgruppen zurückgeführt werden. Ein Beispiel für Letzteres ist die so genannte „ICBM-Coalition“ (ICBM steht für Intercontinental Ballistic Missile) in den Vereinigten Staaten. Diese Gruppe von US-Senatoren setzt sich für den Erhalt solcher Waffen im Arsenal der Vereinigten Staaten ein – vordergründig zur Aufrechterhaltung der nationalen Sicherheit.

Im Kern jedoch geht es um Arbeitsplätze und Wertschöpfung durch Basen und Produktionsstätten. Nicht zuletzt heizen auch technologische Entwicklungen im Bereich von Defensiv- und Offensivwaffen die Dynamik der Rüstung zusätzlich an. In diesem Zusammenhang sind etwa der Auf- und Ausbau von Raketenabwehrsystemen sowie die Entwicklung von Überschallgleitern zu erwähnen.

Schwindende Sicherheit

Erschwerend kommt hinzu, dass die Instrumente zur nuklearen Rüstungskontrolle nicht mehr in der Lage zu sein scheinen, die Beschleunigung der Aufrüstung einzubremsen und damit die Abschreckungsverhältnisse zwischen Nuklearwaffenstaaten vor zunehmender Instabilität zu bewahren. Nukleare Rüstungskontrolle zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion war von der Einsicht getragen, dass im Nuklearzeitalter Sicherheit voreinander nur durch Sicherheit miteinander zu erreichen ist – also durch Kooperation trotz intensiver Rivalität.

Durch beidseitige Beschränkungen in der Entwicklung der Nuklearwaffenarsenale sollte eine weitere Eskalation der nuklearen Rüstungsdynamik verhindert und damit das Abschreckungsverhältnis stabilisiert werden. So einigte man sich zunächst auf Obergrenzen für strategische Nuklearwaffen (SALT I und II) und gegen Ende des Ost-West-Konfliktes auf die Reduktion von Mittelstreckenwaffen (INF-Vertrag) und strategischer Nuklearwaffen (START I-Vertrag).

Der NEW START Vertrag ist das letzte verbleibende Instrument der nuklearen Rüstungskontrolle.

Seit Mitte der 1990er Jahre jedoch lässt sich eine fortschreitende Erosion der nuklearen Rüstungskontrolle zwischen den USA und Russland feststellen. So stiegen die USA im Jahr 2002 aus dem ABM-Vertrag aus, der als Teil des SALT-Vertragswerkes die Errichtung nationaler Raketenabwehrsysteme verboten hatte. Und im Jahr 2019 verabschiedeten sich die Amerikaner aus dem INF-Vertrag, was sie mit der Verletzung des Vertrages durch Russland argumentierten.

So ist nunmehr der im Jahr 2010 unterzeichnete NEW START Vertrag betreffend die Reduktion strategischer Nuklearwaffen das letzte verbleibende Instrument nuklearer Rüstungskontrolle zwischen den USA und Russland. Zwar wurde die Gültigkeit des Vertrags im Februar 2021, quasi in letzter Minute, um weitere fünf Jahre verlängert; ob dieser Zeitraum aber für Verhandlungen über einen Nachfolgevertrag genutzt werden kann, erscheint angesichts des Ukraine-Krieges mehr als fraglich.

Debatte um den Atomwaffensperrvertrag

Auch die politische Polarisierung innerhalb der Vereinigten Staaten und die Rüstungskontroll-Skepsis – um nicht zu sagen Aversion – republikanischer Senatoren machen substanzielle Schritte in diese Richtung weniger wahrscheinlich. Bei den anderen Nuklearwaffenstaaten ist Rüstungskontrolle nahezu nicht existent.

Dazu kommt die zunehmende Polarisierung der Staaten innerhalb der nuklearen Ordnung. Diese dreht sich vor allem um die unterschiedlichen Auffassungen über jene Verpflichtungen, die sich aus dem „Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag“ (Non-Proliferation Treaty, NPT) ergeben. Dieser Vertrag erkennt fünf Staaten als Nuklearwaffenstaaten an : die USA, Russland, das Vereinigte Königreich, Frankreich und China.

Diese Staaten verpflichten sich, keine militärische Nukleartechnologie an andere Staaten weiterzugeben und in Verhandlungen über nukleare Abrüstung einzutreten. Allen anderen Unterzeichnerstaaten, den sogenannten Nichtnuklearwaffenstaaten, ist es verboten, militärische Nukleartechnologie zu besitzen. Gleichzeitig wird diesen Staaten das Recht eingeräumt, Nukleartechnologie für zivile Zwecke zu nutzen.

Wachsende Unzufriedenheit entsteht aus dem Umstand, dass die Nichtnuklearwaffenstaaten den Nuklearwaffenstaaten vorwerfen, den Bereich der Abrüstung zu vernachlässigen. Darüber hinaus kritisieren einige Nichtnuklearwaffenstaaten, vor allem aus den Reihen der Blockfreien Bewegung, dass auch die zivile Nutzung der Kernenergie Beschränkungen unterworfen wurde (speziell im Bereich sensibler Technologien wie der Uran-Anreicherung), wodurch es zu einer weiteren Ungleichbehandlung und Ungleichheit der Vertragsparteien komme.

Krieg in der Ukraine als Wendepunkt

Die Kritik und zunehmende Frustration über die Haltung der Nuklearwaffenstaaten war schließlich der Auslöser für die „Humanitäre Initiative“ – einer neuen Abrüstungsinitiative, gestützt auf eine breite Koalition aus staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren. Sie führte zur Unterzeichnung des Vertrags über das Verbot von Nuklearwaffen im Dezember 2017. Ziel der Initiative war es, die Debatte über Nuklearwaffen von der nationalen Sicherheit weg auf die menschliche Sicherheit zu lenken. Vorbild dafür waren die Konventionen zu Landminen und Streumunition.

Es bleibt die Frage, wie sich der Krieg in der Ukraine auf die nukleare Ordnung auswirken wird, die schon vor Kriegsbeginn ziemlich instabil war. Wie schon eingangs erwähnt, ist es noch zu früh, um dies absehen zu können. Es zeichnet sich jedoch ab, dass es in Richtung einer weiteren Modernisierung und Ausbaus der Nuklearstreitkräfte geht.

Auch der Umstand, dass mit der Ukraine ein Staat Opfer einer militärischen Aggression wurde, der zuvor freiwillig auf den Besitz von Nuklearwaffen verzichtet hatte, könnte in Staaten mit prekärem Sicherheitsumfeld wie etwa Südkorea jene bestärken, die sich für eine nukleare Bewaffnung aussprechen und sich nicht auf den nuklearen Schutzschirm anderer Staaten verlassen wollen. Nicht zuletzt wird der Krieg in der Ukraine aber auch alle jene bestärken, die nukleare Abrüstung fordern – vor allem angesichts der Tatsache, dass Russland einen Aggressions- und Vernichtungskrieg unter dem Schutz eines Nukleararsenals führt.

Ungewisse Zukunft

Welche Auswirkungen der Ukraine-Krieg auf die nukleare Ordnung hat, wird sich bereits bald besser beurteilen lassen, denn im Sommer dieses Jahres stehen zwei große diplomatische Konferenzen an: das erste Treffen der Parteien des Verbotsvertrags wird von 21.-23. Juni unter dem Vorsitz des österreichischen Diplomaten Alexander Kmentt in Wien stattfinden. Von 1.-26. August folgt die Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrages in New York. Beide Veranstaltungen werden einen Blick auf den Zustand und die Zukunft der nuklearen Ordnung ermöglichen.

Eine Auswirkung lässt sich jedoch bereits jetzt feststellen: das Thema ist wieder in das öffentliche Bewusstsein gerückt und wird dort auch auf absehbare Zeit bleiben. Auf dieses öffentliche Interesse gilt es nun aufzubauen – mit der Vermittlung von solidem Wissen zu diesem Thema und öffentlichen Debatten. Denn wie der britische Staatsmann Winston Churchill bereits anlässlich der Zerstörung Hiroshimas am 6. August 1945 sagte: „Diese Offenbarung der Geheimnisse der Natur, die dem Menschen lange Zeit gnädigerweise vorenthalten wurde, sollte die ernsthaftesten Überlegungen im Verstand und im Gewissen eines jeden vernunftbegabten Menschen hervorrufen.“

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Conclusio

Es war ein mühsamer Weg, bis die USA und die Sowjetunion sich auf ein Regelwerk geeinigt hatten, um die Gefahr eines nuklearen Krieges zumindest ansatzweise zu bannen. Doch der Moment des Aufatmens scheint in Vergessenheit geraten zu sein, schwindet das Interesse an Rüstungskontrolle doch seit Ende des Kalten Krieges beständig – auf beiden Seiten des Atlantiks. Dabei ist eine funktionierende nukleare Ordnung heute, da immer mehr Länder über Atomwaffen verfügen, dringlicher denn je. Russlands Angriffskrieg in der Ukraine droht, die Lage noch weiter zuspitzen, da sich Staaten mit einem fragilen Sicherheitsumfeld jetzt dazu entscheiden könnten, nuklear aufzurüsten. Ob das geschieht, hängt letztlich auch von der Weltöffentlichkeit ab. Wir alle sollten uns an der Debatte zur nuklearen Rüstungskontrolle beteiligen, denn ein globales Wettrüsten wird uns auch alle betreffen.