Auslaufmodell Freihandel?

Russlands Angriff auf die Ukraine hat Europa seine wirtschaftliche Verwundbarkeit aufgezeigt. Die Zeit der wechselseitigen Abhängigkeiten ist vorbei. Der Glaube an Freihandel als Friedensgarant schwindet. Was nun?

Luftaufnahme eines voll beladenen Containerschiffs, das von Schleppern in Thailands größten Hafen Laem Chabang geführt wird.
Ein voll beladenes Containerschiff wird von Schleppern in Thailands größten Hafen Laem Chabang geführt. Mit der steigenden Rivalität und wirtschaftlichen Entkopplung zwischen China und den USA verlagern sich Handelsströme nach Südostasien. © Getty Images

Ob Gas oder Öl: Europa lebt schon lange über seinen Verhältnissen. Das war und ist auch jedem bewusst, vielen aber egal. Irgendwie ist es immer gegangen. Früher (also ganz früher) hatte man Kolonialgebiete, dann kam das Öl aus den mittlerweile unabhängigen Staaten des Nahen Ostens, später das Gas aus der UdSSR, ab den 1980ern stiegen die Importe aus China immer stärker an.

Das ist für sich genommen kein Problem, ganz im Gegenteil: Freihandel hilft allen Beteiligten, jedes Land beziehungsweise deren Produzent können sich damit auf die Waren konzentrieren, bei denen sie am „besten“ sind. Diese werden gewinnbringend exportiert, was daheim fehlt, kommt wiederum von außen ins Land. Niemand soll alles selbst produzieren: In den meisten Fällen wäre das unmöglich, in anderen wiederum höchst ineffizient.

Wirtschaft und Frieden

Dazu kommt die Hoffnung auf die friedensstiftende Wirkung von Warenhandel. Oder, umgekehrt, die Sorge vor einer Verschränkung von Krieg und (Wirtschafts-)Protektionismus. Wer seinen Nachbarn nicht braucht, kann ihn leichter angreifen.

Kein neuer Gedanke: „Wenn Waren nicht Grenzen überqueren, dann werden es Soldaten tun“, soll der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebende französische Ökonom Claude Frédéric Bastiat gesagt haben. Damit fasste er die These des kapitalistischen Friedens zusammen, die auf Montesquieu und Adam Smith zurückgeht.

Seitdem ist das Denken über Freihandel und Krieg von Hoffnungen, Missverständnissen und bisweilen auch von Naivität geprägt. Der britische Friedensnobelpreisträger Norman Angell erklärte in seinem Opus magnum „Europe’s Optical Illusion“ (später als „The Great Illusion“ fortgeführt), dass es für die Kriegsführung keine rational-wirtschaftliche Erklärung gibt: Der Einmarsch in ein fremdes Land ist ungleich „teurer“ – nicht nur hinsichtlich der Opfer, sondern auch finanziell – als der friedliche Warenaustausch. Angell wurde seitdem immer wieder als naiv verunglimpft, weil er seine Thesen noch am Vorabend des Ersten Weltkriegs vertreten hatte. Nur, so viel Ehrenrettung muss sein, hat er nicht gesagt, dass Handel Krieg verhindert. Seine zentrale Aussage war, dass er ihn unnötig macht.

Ähnlich sollte es gute acht Jahrzehnte später Francis Fukuyama ergehen, der nach dem Ende des Kalten Krieges von einem „Ende der Geschichte“ sprach, bei dem die liberale, auf Marktwirtschaft basierende Demokratie den Kampf der Ideologien für sich entschieden hatte. Entgegen dessen, was ihm manche seiner Kritiker bis heute in den Mund legen, hatte auch er nicht behauptet, dass diese Entwicklung unausweichlich wäre – vielmehr hatte er eine Hoffnung formuliert, keine Prophezeiung.

Organisierter Weltfriede

Was aus heutiger Sicht naiv klingen mag, scheint aus damaliger Sicht durchaus begründet. Die frühen 1990er Jahre waren eine Phase der Hoffnung, wie man sie sich heute kaum noch vorstellen kann. Sinnbildlich dafür steht die Charta von Paris für ein neues Europa, die im November 1990 von Staats- und Regierungschefs aus dem Westen und des „Ostblocks“ verabschiedet wurde, also Bulgarien, Polen, Rumänien, der Tschechoslowakei, Ungarn und – allen voran – die Sowjetunion.

Darin wurde das „Bekenntnis zur friedlichen Beilegung von Streitfällen“ ebenso bekräftigt wie Menschenrechte, Demokratie und die „gemeinsamen Bemühungen um die Entwicklung von Marktwirtschaften hin zu dauerhaftem Wirtschaftswachstum, Wohlstand, sozialer Gerechtigkeit, wachsender Beschäftigung und rationeller Nutzung der wirtschaftlichen Ressourcen“, inklusive einem Verweis auf die Bemühungen der ehemaligen sozialistischen Länder, ihr politisches und wirtschaftliches System zu ändern. Nochmals, zur Erinnerung: Auch die in der Auflösung begriffene Sowjetunion hatte diesem Dokument zugestimmt.

Juni 1991: Außenministern aus 34 Ländern sitzen vor ihren Nationalflaggen bei der 18. Tagung der KSZE in Berlin: Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl steht in der Mitte am Rednerpult im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes
Juni 1991: Außenminister aus 34 Ländern treffen sich in Berlin zur 18. Tagung der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE). Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl sprach in seiner Eröffnungsrede davon, dass ein Grundstein gelegt werde für „eine neue Kultur des Zusammenlebens der Völker: statt Konfrontation gute Nachbarschaft, statt Rivalität Zusammenarbeit, statt Hegemonie Gleichberechtigung.“ © Getty Images

Danach ging es Schlag auf Schlag, 1993 folgte die Schaffung des europäischen Binnenmarkts, 1995 wurde die Welthandelsorganisation gegründet, zwei Jahre später die EU-Osterweiterung auf den Weg gebracht.

Vom Irak zur Ukraine: große Dämpfer

Freilich, das sind die positiven Entwicklungen. Anfang der 1990er zerbrach Jugoslawien inmitten blutiger „Bruderkriege“, dazu kamen mehrere Konflikte in Subsahara-Afrika mitsamt dem Völkermord in Ruanda 1994. Wirtschaftlich erlebten ehemals sozialistische Länder wie Polen und Russland einen „Schockmoment“, 1994 folgte die Tequila-Krise in Mexiko, 1997 die asiatische Finanzkrise, wenig später die Argentinienkrise.

Ungeachtet dessen blieben große zwischenstaatliche Kriege jedoch aus. Noch 1999 schrieb der bekannte US-amerikanische Publizist Thomas Friedman in seinem Buch The Lexus and the Olive Tree daher von der friedensstiftenden Wirkung der Globalisierung und des mit ihr verbundenen steigenden Lebensstandards. Dabei formulierte er auch die „McDonald’s Theorie“, derzufolge Staaten, in denen es McDonald’s-Filialen gibt, einander nicht angreifen würden. Also einmal mehr Montesqieu, Smith und Bastiat, nur eben mit Hamburgern.

Der erste große Dämpfer kam 2003, als die USA völkerrechtswidrig den Irak angriffen. Zwar gab es in Bagdad keinen McDonald’s, wohl aber Öl – eines der entscheidenden Motive der damaligen Bush-Administration. Wenn es nach Angell und Co. gegangen wäre, hätten die USA dieses einfach importiert, anstatt Saddam Hussein vom Diktatorenthron zu stoßen.

Nahaufnahme eines amerikanischen Soldaten mit US-Flagge an der Schulter während des Irakkriegs 2003. Im Hintergrund lodert ein Feuer und dichter, schwarzer rauch steigt über einem brennenden Ölfeld auf.
Ein US-Soldat steht während des Kriegs 2003 vor einem brennenden Ölfeld, das fliehende irakische Truppen in Brand gesteckt hatten. Übrigens: Die amerikanische Flagge an der rechten Schulter der Uniformen zeigt traditionell mit dem Sternenfeld (Gösch) voran in Richtung Front, so als würde sie im Wind wehen, während die Truppen vorstoßen. © Getty Images

Allein, so funktioniert Geopolitik nicht. Die Zusammenarbeit mit Saddam hätte seine Herrschaft schließlich weiter einzementiert, obwohl die USA einen strategischen Anker in einer für sie aufgrund der dortigen Ölvorkommen wichtigen Region wollten.

Blauäugiges Europa

Europa war hier bloßer Passagier. Mehr als Kritik – die Außenminister Fischer und Dominique de Villepin machten sich damals einen Namen – hatte der alte Kontinent dem Irakkrieg nicht viel entgegenzusetzen. Umso weniger, als die EU damals (wie heute) weitgehend von arabischen Ölexporten abhängig war.

Wie allgemein bekannt, wurde der Irakkrieg zum Desaster. Die anschließende Besatzung verschlang Unsummen, kostete unzähligen irakischen Zivilisten und auch US-Soldaten das Leben. Die erhoffte Umwandlung in eine funktionierende Demokratie blieb aus. Man darf sich bis heute fragen, wie sich das Land und überhaupt die Region ohne den von außen herbeigeführten Sturz Saddam Husseins entwickelt hätte.

Die USA selbst verloren schon bald ihr geopolitisches Interesse am Nahen Osten, zumal sie ihre Abhängigkeit durch steigende Ölimporte aus Kanada und dem Einsatz von „Fracking“ zum Abbau eigener Ressourcen stark reduzieren konnten. Barack Obama wandte sich daher verstärkt dem südostasiatischen Raum zu, dessen Nachfolger Donald Trump brach überhaupt einen „Handelskrieg“ gegen China vom Zaun.

Bis heute darf und muss man sich fragen, wieso die ÖMV sich Russland ausgeliefert hat.

Europas Energie-Abhängigkeit von anderen Ländern und Regionen hielt indessen weiter an, zwischen 2010 und 2020 blieb der Anteil von Energie-Importen stabil über 53.9 Prozent (2013), 2019 erreichte er einen Höchstwert von 60.5 Prozent. Noch 2021 musste Europa 83 Prozent seines Gases importieren. Dazu kommt die fehlende Diversifizierung; der hohe Anteil von russischem Gas bei den österreichischen (80 Prozent) oder deutschen Importen (etwa 60 Prozent) ist hinlänglich bekannt. Bis heute darf und muss man sich fragen, wieso die ÖMV sich Russland ausgeliefert hat.

Abhängigkeit von China

Seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine versucht Europa, seine Abhängigkeit von Russland zu reduzieren: Also neue Handelspartner zu finden, bestehende Kooperationen zu vertiefen, eigene Energiequellen zu erschließen und – auch wenn viele das nicht hören wollen – zu sparen. Ob und inwiefern das gelingt, bleibt offen.

Selbst wenn Europa mit einem blauen (Energie-)Auge davonkommt, entstehen dadurch neue Abhängigkeiten. Von Saudi-Arabien (man denke an die Ermordung von Jamal Khashoggi und den gleichermaßen „vergessenen“ Krieg im Jemen) bis hin zu Aserbaidschan und seinem brutalen Konflikt mit Armenien: Eigenständige Außenpolitik stößt an ihre Grenzen, wenn man vitale Partner nicht verärgern will und kann.

Dazu kommt der eigentliche Elefant im Raum: China, die „globale Werkstatt“, mit der die EU bei Waren 2021 ein Handelsdefizit von 249.2 Milliarden Euro verzeichnet. Das betrifft nicht nur vermeintlich verzichtbares „Klumpert“, sondern auch lebensnotwendige Güter wie Pharmazeutika, bei denen die EU zu 80-90 Prozent von chinesischen Bestandteilen abhängig ist. Eine gefährliche Asymmetrie, wie jedem politisch denkenden Menschen seit Ausbruch der COVID-19-Pandemie bewusst sein muss.

Die rasante Verbreitung seit den jüngsten Öffnungen in China nährt bereits Sorgen vor einer Verknappung und ansteigenden Preisen für Medikamente. Bei einem allfälligen Angriff Chinas auf Taiwan wären der EU die Hände gebunden.

Comeback des Protektionismus?

Wirtschaftliche Verflechtung galt lange Zeit (zu Recht) als Segen, von dem alle profitieren. Nur ging das auf Kosten strategischer Autonomie bei vitalen Ressourcen, von Energie bis hin zu Medikamenten. Wenn jetzt die Notwendigkeit betont wird, sich in diesen Bereichen unabhängig(er) zu machen, wird das lange dauern. Außerdem lauert hinter Subventionen, Zöllen und gar Importverboten zum Schutz vor ausländischer Konkurrenz die Gefahr von Ineffizienz und auch Korruption. Ein hoher Preis für Geopolitik.

Mehr von Ralph Janik

Unser Newsletter