Und jetzt? Wege aus dem Brexit-Blues

Downing Street hat genau drei Optionen, um Großbritannien sauber durch die Brexit-Krise zu bringen: zwei davon verheißen den Zerfall, die dritte grenzt an ein Wunder. Eine Analyse.

Straßenkehrer vor 10 Downing Street
Noch warten die Menschen in Großbritannien auf die versprochenen Brexit-Erfolge. Die Regierung muss handeln. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Stolpersteine. Im Dezember 2020 lief die Brexit-Übergangsphase ab. Seither ist die britische Wirtschaft am Straucheln – vor allem durch Einfuhrzölle.
  • Engpässe. Von Sprit bis Lebensmittel gibt es Versorgungsprobleme. Die zusätzliche Belastung zur Corona-Pandemie führt zu Unmut in der Bevölkerung.
  • Toter Winkel. Wenn die Downing Street den Spannungen nicht entgegengewirkt, könnte das Königreich an ihnen zerreißen.
  • Sonderweg. Doch es muss nicht so kommen: Als unabhängiges Offshore-Drehkreuz könnten sich die Briten auch von der EU emanzipieren.

Vor zwei Jahren verließ Großbritannien die Europäische Union. In den Monaten und Wochen vor dem Brexit schien es möglich, dass das Land ins Ungewisse aufbrach – ohne irgendein Abkommen mit der EU, das Unternehmen oder Menschen einen Anhaltspunkt versprach. Eine Übergangsfrist bis 2020 bewahrte Einwohner und Betriebe vor den meisten unmittelbaren Verwerfungen. Erst in den letzten Tagen des Dezembers 2020 wurde ein Deal zwischen London und Brüssel erzielt. Auch wenn die Einigung mit Unsicherheiten behaftet war, so beruhigte sie doch die Wirtschaft. Das Schlimmste war abgewendet.

Doch der Moment der Erleichterung war nur von kurzer Dauer. Bald darauf traf die Covid-19-Pandemie die Welt und fokussierte die Öffentlichkeit auf die dringende Aufgabe, das Virus einzudämmen und gleichzeitig die wirtschaftlichen Folgen so gering wie möglich zu halten. Erst kürzlich wurde deutlich, welche Folgen es für die Briten hatte, die „vier Freiheiten“ der EU – für Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital – aufzugeben.

Großbritanniens Wirtschaft unter Druck

Während die ganze Welt mit Lieferkettenproblemen und Preissteigerungen, vor allem bei Energie, zu kämpfen hat, kommt es im Vereinigten Königreich zu schweren Versorgungsengpässen. Den Tankstellen geht der Treibstoff aus und die Regale in den Supermärkten weisen immer mehr Lücken auf. Hunderttausende von EU-Bürgern, viele aus Osteuropa, haben Großbritannien wegen des Brexit verlassen, sodass im Handel Arbeitskräfte fehlen.

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Zahlen & Fakten

Vor allem ein Mangel an LKW-Fahrern sorgte für Engpässe. Schätzungen zufolge benötigt der Logistiksektor 100.000 zusätzliche Lenker. Der Mangel an Arbeitskräften in der Landwirtschaft und der Produktion bedroht die Versorgung zusätzlich. Eine Welle von Stromversorgern, die aufgrund des Anstiegs der Großhandelspreise in Konkurs gehen, erhöht das Risiko von Engpässen noch weiter. In lokalen Medien wird vor einem weiteren verhängnisvollen „Winter der Unzufriedenheit“ gewarnt ­– in Anlehnung an die Massenunruhen, Streiks und Stromausfälle im Jahr 1978, die Margaret Thatcher an die Macht brachten.

Neue Handelshürden für britische Wirtschaft

Abgesehen vom Arbeitskräftemangel stehen die Unternehmen beim Handel mit Partnern aus der EU vor neuen Hürden. Das mag viele überraschen, da sowohl von London als auch Brüssel verkündet wurde, mit dem Brexit-Abkommen würden Zölle und Quoten abgeschafft. Doch vor allem für kleine Unternehmen liegt die eigentliche Herausforderung darin, ihre Waren durch den Zoll zu bringen.

Ein Beispiel: Die in London betriebene Restaurantkette Olivo begeisterte Kunden mit frischen, hochwertigen Zutaten aus Italien. Das kleine Unternehmen verließ sich auf eine wöchentliche Lieferung von Produkten aus Sardinien. Zeitungsberichten zufolge kann sich das der Betrieb möglicherweise nicht mehr leisten. Die Zollabfertigung erfordert es, jeden einzelnen Artikel in den Transportpapieren zu codieren und zu erfassen. Die Einfuhr eines wöchentlichen Assortiments saisonaler Produkte in kleinen Chargen wird rasch überfordernd.

Für kleine Unternehmen ist es eine Herausforderung, ihre Waren durch den Zoll zu bringen.

Lebensmittel und Getränke haben den Vorteil, dass ihre Herkunft meist eindeutig ist. Italienische Orangen oder Käse sind genau das. Bei komplexeren Produkten wie Autos ist es nicht so eindeutig, ob sie aus der EU stammen. Strenge Ursprungsregeln verlangen von den Importeuren, dass sie dokumentieren, zu welchem Prozentsatz die Wertschöpfung eines Autos aus der EU stammt, damit der Zoll gemäß Abkommen entfällt.

Das volle Ausmaß dieser Belastung für die Unternehmen kommt seit dem 1. Januar 2022 zum Tragen, da die Schonfrist ausgelaufen ist. Vor allem kleine und mittlere Unternehmen sind betroffen. Mitarbeiter in einem kleinen Team müssen viele Stunden zusätzlich damit verbringen, Formulare auszufüllen.

Sinkende Wettbewerbsfähigkeit bereits vor Brexit

Die regulatorischen Probleme rund um den Brexit könnten allzu leicht als vernachlässigbar abgetan werden, wenn man sie im Kontext der gesamten britischen Volkswirtschaft betrachtet. Doch das Centre for European Reform schätzt, dass der tatsächliche Austritt aus dem Binnenmarkt den Außenhandel des Vereinigten Königreichs in der ersten Hälfte des Jahres 2021 um etwa zehn Prozent verringert hat – und das zusätzlich zu einem bereits erfolgten Rückgang um zehn Prozent, der seit dem Referendum erlitten wurde.

Der Brexit bringt Sand ins Getriebe eines Motors, der schon bisher nicht reibungslos lief. Die größte Herausforderung für die Wirtschaft Großbritanniens ist das schleppende Produktivitätswachstum. Darunter verstehen Ökonomen, wie viel Wert ein durchschnittlicher Arbeitnehmer pro Stunde schafft. Das Vereinigte Königreich hat in den letzten 15 Jahren im Vergleich zu seinen wichtigsten Konkurrenten ein langsames Produktivitätswachstum verzeichnet. Die Produktion pro Stunde und die Reallöhne sind seit der Finanzkrise 2008 nur langsam gewachsen. Langfristig können reiche Volkswirtschaften wie das Vereinigte Königreich nur wachsen, wenn sie mit weniger mehr erwirtschaften.

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Zahlen & Fakten

Unter Experten gibt es eine anhaltende Debatte darüber, warum genau das Vereinigte Königreich weniger wettbewerbsfähig geworden ist. Ironischerweise liegen zwei Hauptgründe für die Stagnation daran, dass das Vereinigte Königreich attraktiv für viele ausländische Arbeitskräfte und internationale Investoren war. Günstiges Personal ermöglichte es den Betrieben, ihre Produktion zu steigern, ohne in deren Effizienz zu investieren.

Zudem bremst Ungleichheit die Produktivität: Während London als Zentrum sowohl nationale als auch globale Talente und Gelder aufsaugte, fiel der Rest Englands zurück. Die Konzentration von Reichtum, Macht und Ressourcen in der Hauptstadt verstärkte sich selbst. Die Gewinne Londons konnten jedoch die Verluste der Peripherie nicht ausgleichen, was die schwache Wirtschaftsleistung erklärt.

Der Brexit bringt Sand ins Getriebe eines Motors, der schon bisher nicht reibungslos lief.

Sowohl Einwanderung als auch Ungleichheit bewegten jene Bürger, die für den Brexit stimmten. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass die Abkoppelung von Brüssel die grundlegenden wirtschaftlichen Probleme lösen wird. Angesichts des neuen Handlungsspielraums könnten die Briten aber versuchen, widerstandsfähiger zu werden und damit das Leben der Bürger zu verbessern. Andererseits könnte die Union unter den sich bereits abzeichnenden Strapazen auseinanderbrechen. Die weitere Entwicklung lässt sich kaum prognostizieren, allerdings können drei Szenarien entworfen werden:

Szenario 1: Durchwursteln

Das allerwahrscheinlichste Ergebnis ist eine Fortsetzung dessen, was in den letzten zwei Jahren geschehen ist. Das Vereinigte Königreich wird sich weiter durchwursteln. In diesem Szenario bleibt das Land auf halbem Weg zwischen globalen Ambitionen und der Bindung an Europa stecken. Bestehende wettbewerbsfähige Sektoren und ein schwaches Pfund sorgen für ein bescheidenes Wirtschaftswachstum. Bei diesem Verlauf, schätzt das Conference Board, ein wirtschaftsnaher US-Thinktank, wird die britische Wirtschaftsleistung im laufenden Jahrzehnt im Schnitt nur um ein Prozent jährlich wachsen.

Was den Zusammenhalt des Königreichs in diesem Szenario betrifft, so würde Schottland mehr Autonomie anstreben und gleichzeitig eine engere Anbindung an Europa anpeilen. Die schottische Wirtschaft könnte davon profitieren, dass sie sowohl die Märkte des Vereinigten Königreichs als auch der EU bedient, aber die Bewältigung solch komplexer Arrangements würde die öffentliche Verwaltung und die Unternehmen noch mehr belasten als es der Brexit bereits getan hat. Ein solcher Prozess würde Zeit in Anspruch nehmen, und die Schotten müssten zum vierten Mal in 50 Jahren in einem Referendum über ihre Beziehungen zu London abstimmen. Im Vorfeld einer Entscheidung würden die politischen Spannungen zunehmen, deren Eskalation das zweite Szenario darstellt.

Szenario 2: Zerfall

Das noch Vereinigte Königreich könnte infolge des Brexits auseinanderfallen. Nach dem jetzigen Abkommen mit der EU bleibt Nordirland im europäischen Binnenmarkt. Es ist mit der Republik Irland verbunden – ohne Grenzübergänge mit Personen- und Warenkontrollen. Wenn die britische Wirtschaft die Folgen des EU-Austritts nicht verkraftet, könnte die Stimmung in Nordirland zu einem Referendum über die formelle Wiedervereinigung der Insel führen. Dies würde das Land automatisch zurück in die EU bringen.

Eine Unterstützerin des Unabhängigkeitsreferendums in Schottland mit Flaggen-Brille
Seit dem Brexit-Votum wächst in Schottland die Bereitschaft für ein weiteres Unabhängigkeitsreferendum. © Getty Images

Schottland könnte folgen, indem es für die Unabhängigkeit stimmt und den Beitritt zur EU als 28. Mitglied beantragt. Was vom Vereinigten Königreich übrig bliebe, würde als globaler Akteur weiter geschwächt. Es wäre für London noch schwieriger, Verbindungen zu den Märkten in Amerika und Asien zu knüpfen; stattdessen würde das Land noch abhängiger von Europa. Möglicherweise könnte in einem solchen Szenario eine Bewegung für einen erneuten Beitritt zur EU an Fahrt aufnehmen.

Für Brüssel könnte sich dieses Szenario als zweischneidiges Schwert erweisen. Ein Beitritt Schottlands würde zwar die Attraktivität der Union unterstreichen, könnte aber auch Separatisten in Mitgliedstaaten wie Spanien oder Belgien anspornen und so politische Spannungen verstärken.

Szenario 3: Aufstieg

Das dritte Szenario ist das der britischen Widerstandsfähigkeit. Als unabhängiges Offshore-Drehkreuz für einen der größten Wirtschaftsblöcke könnte das Vereinigte Königreich mit der EU konkurrieren. Dazu müsste sich das Land neu erfinden und gleichzeitig seine beträchtlichen Stärken ausbauen: erstklassige Universitäten sowie die wettbewerbsfähigen Branchen Pharma und Finanz. Regulatorische Freiheit könnte Innovation und Wachstum anstoßen, Fintechs und Biowissenschaften würden für einen Produktivitätsschub sorgen. Darüber hinaus verschafft eine starke Rechtsstaatlichkeit Großbritannien einen Vorteil gegenüber den aufstrebenden asiatischen Volkswirtschaften.

Als unabhängiges Offshore-Drehkreuz könnte das Vereinigte Königreich mit der EU konkurrieren.

Um den Außenhandel jenseits Europas auszubauen, müssten die Briten die verbleibenden Bindungen mit der EU lockern. Eine aggressive Handelspolitik ist für dieses Szenario essenziell, da Abkommen mit Partnern erforderlich wären, mit denen die EU keine bestehenden Handelsverträge hat – allen voran mit den USA, China und Indien. Ein Abschluss von Abkommen mit Überseemärkten würde daher zu einem regulatorischen Wettbewerb mit der EU führen, wobei die Standards weiter auseinanderdriften und den Handel über den Kanal behindern würden. Darum ist es für das Vereinigte Königreich praktisch unmöglich, gleichzeitig große Handelsabkommen mit Europa und anderen großen Akteuren abzuschließen.

Folglich würden die Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU in diesem Szenario leiden. Brüssel könnte entweder mit Protektionismus reagieren oder durch Innovation mit dem neuen Offshore-Herausforderer konkurrieren.

Zeit zum Handeln für London

London steht unter Zugzwang: 2022 treten zusätzliche Handelsschranken mit der EU in Kraft. Engere Handelsbeziehungen mit den USA wären ein großer Segen, aber dieser Prozess liegt außerhalb der Kontrolle Großbritanniens. US-Präsident Joe Biden hat sich zurückhaltend geäußert, das Thema anzugehen.

Drei nationale Politikfelder erfordern jedoch größte Aufmerksamkeit: Erstens können die Versorgungsengpässe nur durch eine wesentlich lockerere Einwanderungspolitik gelöst werden. Zweitens müssen die seit dem Brexit erlahmten privaten Investitionen wieder zulegen. Öffentliche Investitionen haben den privaten Ausfall nicht kompensiert, sollten es aber. Die Klimaziele wären eine gute Gelegenheit, das im Land verfügbare Anlagekapital wiederzubeleben und neu zu erfinden.

Drittens sind Investitionen in den sozialen Zusammenhalt erforderlich, um dem Anstieg der Ungleichheit entgegenzuwirken. Schließlich sind nicht wenige Menschen und Gebiete bei den Umwälzungen der letzten Jahre zurückgeblieben. Ansonsten drohen die sozialen Fliehkräfte das Vereinigte Königreich zu zerreißen, bevor neue Wirtschaftsbeziehungen Früchte tragen.

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Conclusio

Seit einem Jahr spürt die britische Wirtschaft die Folgen des Brexits. Der Handel ist deutlich bürokratischer geworden, die jüngsten Versorgungskrisen fordern zusätzlich Tribut. Wie geht es jetzt weiter? Das Königreich kann sich weiterhin durchwursteln – oder dem Zerfall entgegenschlittern. Dritte Option: Durch einen Kraftakt könnten sich die Briten zum Konkurrenten der EU aufschwingen. Dazu sollte das Vereinigte Königreich aber zunächst die frappante Ungleichheit zwischen London und dem Rest des Landes beheben, den Investitionsstau überwinden und anerkennen, dass der Standort vom Zuzug ausländischer Arbeiter abhängig ist.