Gunst und Ungunst der Geschichte
Aus der Geschichte lernen ist ein Credo für alle, die in die Zukunft blicken wollen. Es ist die einzige Möglichkeit, historische Entwicklungen vorhersehen zu können. Unsere Buchtipps für Weihnachten und den Jahreswechsel.

Alle, die immer nur im Hier und Jetzt leben, können von den aktuellen Ereignissen überrollt werden. Denn große politische Umwälzungen kündigen sich selten an, vielmehr sind es kleine subtile Veränderungen, die zu großen Veränderungen führen. Das wissen Historiker und Historikerinnen nur allzu genau. Deshalb lohnt es sich, ihnen beim Denken über die Schulter zu schauen, vor allem dann, wenn die Welt – so wie derzeit – im Umbruch ist.
Buchtipp 1

Was genau ist eigentlich Freiheit?
Timothy Snyder, Freiheit. Freiheit ist der wohl am meisten missbrauchte Begriff in der Geschichte. Gerade deshalb braucht es eine Klärung, findet der US-Historiker Timothy Snyder, und legt mit diesem Buch eine umfassende Betrachtung vor. Seine Grundthese: Freiheit kann als „Freiheit für“ oder als „Freiheit von“ betrachtet werden und darauf bauen sich jeweils vollkommen unterschiedliche politische Konzepte auf, die der Yale-Historiker anhand der Begriffe Souveränität, Unberechenbarkeit, Mobilität, Faktizität, und Solidarität vertieft.
Abstrakt ist das nicht, denn Snyder exemplifiziert seine Thesen an den geschichtlichen Ereignissen seiner Lebenszeit, die vom Kalten Krieg, dem Fall des Eisernen Vorhangs bis zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine geprägt sind. Als kenntnisreicher Wandler zwischen den Welten ordnet ein, vergleicht und setzt Politik in einen größeren Rahmen. Snyder hat dabei keineswegs ein abstraktes, sondern im Gegenteil, ein sehr persönliches Buch geschrieben. Es ist eine Art Bestandsaufnahme und macht ihn zum Protagonisten einer Generation, der die aktuelle Lage der Welt beschreibt und Missstände beim Namen nennt.
C.H.Beck, 31,50 Euro
Buchtipp 2

Große Geschichte Mitteleuropas
Martyn Rady, Vom Rhein zu den Karpaten. Es gibt geografische Einheiten, die in vielen Köpfen als eine Art Selbstverständlichkeit verankert sind und trotzdem in ihrer Essenz diffus bleiben. Mitteleuropa ist so ein Begriff, der scheinbar selbstverständlich und unfassbar zugleich scheint. Dieser Herausforderung hat sich Martin Rady, Professor für Mitteleuropäische Geschichte am University College London, gestellt.
Welcher geografische Raum ist damit gemeint? Welche Eigenarten verbinden? Und was prägte das Denken am Kontinent? Mit unglaublicher Leichtigkeit pflügt Rady durch die Jahrhunderte, erzählt vom Land hinter dem Limes, so als ob er damals gelebt hätte. Er identifiziert Christianisierung, Reformation und Aufklärung als kulturelle Schwergewichte, die das Denken Mitteleuropas genauso wie die Entwicklung zu Rechtsstaatlichkeit bis heute bestimmen. Dabei ist jedes der 34 Kapitel ein Fundus für sich. Rady lässt vergangene Epochen durch sein kulturgeschichtliches Wissen, seine Kenntnis über Architektur, Kunst und Literatur wiederaufleben. Nach diesen 600 Seiten ist eines sicher: Mitteleuropa hat in den Köpfen Kontur angenommen und ein Stück weit zur Selbstreflexion beigetragen.
Rowohlt, 40,50 Euro
Buchtipp 3

Warum Rom fiel
Peter Heather & John Rapley, Stürzende Imperien. In Krisenzeiten wollen die Menschen wissen, wie es weitergeht. Eine beliebte Methode ist es, in die Vergangenheit zu blicken, dort Parallelen zu aktuellen Situationen zu finden und aus solchen gemeinsamen Konstellationen Zukunftsszenarien abzuleiten. Genau das tut Peter Heather, Historiker mit Spezialisierung auf römische Geschichte, und der politische Ökonom John Rapley. Die beiden untersuchen den Niedergang des römischen Reiches anhand seiner Wirtschaftsgeschichte.
Die Hauptthese: Rom ist an seinem Erfolg zugrunde gegangen, weil die Provinzen an der Peripherie des Reiches Teil am Reichtum haben wollten und das zum Kollaps führte. Die beiden Wissenschaftler sehen in dieser Grundkonstallation eine vergleichbare Gefahr für Westen: Durch Globalisierung und Verlagerungen von Warenproduktion nach Asien haben Menschen ihre Arbeit verloren und finden in populistischen Strömungen die Illusion, wieder zu einstiger Größe zu gelangen. Demokratie versus Autokratie, das ist das Endspiel aus Sicht der Autoren. Ihre gute Nachricht: Der Westen hat es in der Hand, gegenzusteuern, wer zukunftsfit sein will, darf nicht an überholten Modellen festhalten. Eine anspruchsvolle Lektüre für alle, die die Welt aus wirtschaftlicher Perspektive betrachten.
Klett-Cotta, 26,50 Euro
Buchtipp 4

Die Welt als Polit-Bühne
Richard Sennett, Der darstellende Mensch. Warum eigentlich Theater? Wenn der berühmte britisch-amerikanische Soziologe Richard Sennett sich auf die Suche nach Antworten begibt, dann darf das Lesepublikum gespannt sein, was er zu Tage befördert. Und tatsächlich ist es erstaunlich, wie er die Sache angeht. Da geht es erst einmal um die Frage, was alles auf der Welt-Bühne ist oder einmal war. Sennett hat sich in seiner Forschung intensiv mit dem öffentlichen Raum beschäftigt und kann dem Themenkomplex viel Erstaunliches abringen – inklusive einer kurzen Kulturgeschichte des Theaters und seiner Funktion.
Folglich kommt er wie automatisch zum Themenkomplex der Darstellung und Selbstdarstellung und die Gefahren, die damit verbunden sind, vor allem in der Politik. Und schließlich geht es um die Macht der Botschaften in einer Gesellschaft, deren Inhalte oft weniger wichtig sind der Personenkult an sich ist. Und damit diskutiert Sennett ein Phänomen seiner Zeit, das über verbale Kommunikation hinausgeht, eben weil sie darstellend ist.
Das ist anspruchsvolle Lektüre, bietet jedoch viele erhellende Momente zu Politik und Menschsein im Allgemeinen. Zur Entspannung flicht Sennett immer wieder auch Persönliches in die Kapitel ein. Die Magie der Bühne spürte er in seinen jungen Jahren als Cellist werden, musste jedoch nach einer schweren Handverletzung diesen darstellenden Beruf aufgeben – und ist Wissenschaftler geworden. In diesem Buch vereint der heute 80-Jährige das Wissen aus beiden Welten. Eines ist sicher: Nach der Lektüre dieses Buches hat Theater eine neue Dimension.
Hanser 33,50 Euro
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Oh, Du Europa!
Krieg und Frieden
Feminismus im Aufwind
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