Buchtipps II: Erzählte Welt

Was hat Wissenschaft mit Weltanschauung zu tun? Warum gibt es kaum mehr Universalgelehrte? Und was ist das Geniale an Forschern, die sich in ein Thema vertiefen? Fünf Buchtipps zur Erweiterung des Horizonts.

Foto von fünf Buchcovern auf grünem und gelbem Grund. Das Bild zeigt Buchtipps aus Wissenschaft und Geschichte.
Teil II unserer Buchtipps zu Weihnachten 2022. © Der Pragmaticus

Historiker beschäftigen sich mit der Vergangenheit, damit nachfolgende Generationen daraus lernen können. Zumindest wäre das der höhere Sinn der Geschichtswissenschaften. Vieles, was heute selbstverständlich erscheint – etwa die Tatsache, dass die Erde eine Kugel und keine Scheibe ist – war einst verpönt. Vieles, was einst revolutionär war, ist heute anerkanntes Allgemeinwissen. Und: Geschichte wiederholt sich, auch das beweist die Lektüre dieser Bücher aus der Geschichte.

Cover des Buchs von Thomas Bührke, Die Verfolgten. Das Cover illustriert Buchtipps Wissenschaft und Geschichte.
  • Thomas Bührke: „Die Verfolgten“
    Wissen aus der Beobachtung der Natur kann toxisch sein. In „Die Verfolgten“ erzählt Astrophysiker Thomas Bührke die Biografien von insgesamt sieben Menschen, die die Naturwissenschaften maßgeblich geprägt haben, jedoch aus religiösen, politischen und weltanschaulichen Gründen zu ihren Lebzeiten verfolgt wurden. Ein großer Feind der Wissenschaft war jahrhundertelang die Kirche. Exemplarisch erzählt Bührke das Leben von Giordano Bruno, der die Unendlichkeit des Weltalls mathematisch zwar nachweisen konnte, doch genau deshalb wegen Gotteslästerung hingerichtet wurde. Wie sehr Wissenschaft von politischen Umständen geprägt ist, zeigt die Lebensgeschichte von Lew Landau. Er legte die Grundlagen zur Quantenphysik, doch seine mangelnde kommunistische Einstellung machte ihn zum Ziel der Sowjet-Schergen, die seine Arbeit als zu wenig praxisnah beurteilten. Doch ein Hinderungsgrund für Forschung war lange Zeit auch die schlichte Tatsache, eine Frau zu sein. So wurden die herausragenden Leistungen von Lise Meithner und Emmy Noether ignoriert und männlichen Kollegen zugerechnet. Ebenso tragisch ist die Vita von Alan Turing, dem Erfinder des ersten Computers, der wegen seiner sexuellen Orientierung Selbstmord bedingt. Fazit: Wissenschaft, Gesellschaft und Politik sind eng miteinander verbunden. Darüber hinaus werden in diesem Band nicht nur die Grundprinzipien der modernen Physik und damit des modernen Lebens erzählt, sondern auch aufgezeigt, wie sehr naturwissenschaftliche Entdeckungen eine Kanon bilden, der Jahrhunderte miteinander verbindet.
    Klett-Cotta, € 22,50
Cover des Buchs von Georgina Ferry, Max Perutz und das Geheimnis des Lebens. Das Cover ist Teil von einem Beitrag mit Buchtipps.
  • Giorgina Ferry: „Max Perutz“
    Biografien von Wissenschaftlern können viel mehr als nur Lebensgeschichten sein. Sie sind eine wunderbare Art, auf relativ unterhaltsame Weise ziemlich schwierige naturwissenschaftliche Zusammenhänge zu verstehen. Sie beginnen, dem Genre entsprechend, stets von einem Nullpunkt, der die Kindheit des Porträtierten ist. Ein Beispiel dafür ist Georgina Ferrys Buch über den aus Österreich stammenden Nobelpreisträger Max Perutz, der – wie der Untertitel unmissverständlich klar macht – das „Geheimnis des Lebens“ lüftete. Soviel vorneweg: Er gilt als Begründer der Molekularbiologie und schuf die Grundlagen zur Entschlüsselung der DNA und damit der Genetik. Der Wechsel zwischen dem stets einfach zu begreifenden biografischen Werdegang des Max Perutz und jenen Passagen, in denen wissenschaftliches Grund- und Fachwissen vermittelt werden, ist perfekt ineinander verwoben. Es ist, als ob man ihm über die Schulter schaut und bei seinen Erkenntnisprozessen dabei ist. Im Grunde genommen beginnen sie im Wiener Theresianum, wo ein genialer Chemielehrer Max Perutz' Leidenschaft entfachte. Geboren und aufgewachsen in einer jüdischen Familie in Wien, hatte Perutz dann das Glück, in den frühen 1930er Jahren ein Stipendium nach Cambridge zu bekommen, wo er in einem Labor für Kristallographie dabei war, wie unterschiedliche molekulare Strukturen erstmals sichtbar gemacht werden konnten. Diese Technologie, mit der man plötzlich in die Materie hineinschauen konnte, war eine Revolution, bis dahin verborgene Einheiten wie Moleküle wurden für das menschliche Auge erfassbar. Perutz dehnte diese Einblicke auf die lebende Materie aus. Konkret auf die Proteine als die kleinsten Bausteine des Körpers. Wer verstehen will, wie der menschliche Organismus funktioniert, wird bei der Lektüre dieser Biographie tatsächlich viel begreifen, etwa wie Perutz die Grenze zwischen Chemie und Biologie eingerissen hat, welche Rolle die Erforschung des roten Blutfarbstoffs Hämoglobin dabei hatte und warum ihm 1962 dafür der Nobelpreis verliehen wurde. Rundherum gibt es viele große und kleinere Geschichten, die auch die politische und gesellschaftliche Dimension dieses Wissenschaftlerlebens ausleuchten: Von der Flugzeugplattform Habakuk im Zweiten Weltkrieg über die Hürden des Wissenschaftsbetriebs bis hin zu Max Perutz' Leidenschaft fürs Bergsteigen, die ihm zeitlebens ein wichtiger Ausgleich war. Unbedingte Leseempfehlung. Braumüller € 25
Cover des Buchs von Michael Kempe, Die beste aller möglichen Welten. Das Cover illustriert einen Beitrag mit Buchtipps, die sich mit Wissenschaft und Geschichte beschäftigen.
  • Michael Kempe: „Die beste aller möglichen Welten“
    Es gab einmal eine Zeit, als Wissenschaftler sich keinen Fachbereichen zuordnen ließen, weil sie einfach über alles nachdenken wollten und konnten. Das Paradebeispiel so eines Universalgenies war Gottfried Wilhelm Leibniz. Über diesen Mathematiker, Philosophen, Ingenieur, Politikberater und Weltverbesserer hat der deutsche Historiker Michael Kempe ein wunderbares Buch geschrieben. In „Die beste aller möglichen Welten“ wird in sieben Kapiteln Leibniz' Gedankenwelt für Leser und Leserinnen von heute aufbereitet. Indem Kempe wichtige Jahre herausgreift, gelingt es ihm auf biografische Art und Weise zu erklären, wie Leibniz die Integralrechnung erfand, wie er immer und überall darüber nachdachte, die Realität zu verbessern und dafür allerlei Maschinen entwickelte, und wie er zu einem Berater der mächtigen Herrscherhäuser wurde. Dabei richtet Kempe seinen Blick auf jene Leistungen, die die Naturwissenschaften, die Philosophie und die Politik nachhaltig geprägt haben. Leibniz ist der Erfinder der Integralrechnung, er hat über die Beziehung von Körper und Seele nachgedacht und daraus die Monadenlehre entwickelt. Es gelingt Kempe auf leichtfüßige Weise, im Erklären von komplexen Gedankengebäuden immer wieder auch kleine Verschnaufpausen einzubauen. Auf diese Weise wird viel über die Welt an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert erzählt. Kenntnisreich und respektvoll schafft es Kempe aber auch, Leibniz zu kritisieren und die Rastlosigkeit dieses genialen Denkers darzustellen. Es ist ein Lesegenuss von der ersten bis zur letzten Seite. Vor allem zeigt es, wie sehr ein einzelner Mensch die Wissenschaft, Philosophie und Politik über Jahrhunderte lang prägen kann. Ein Spoiler: Seine Gedanken haben die Basis für die digitale Moderne gelegt. S. Fischer, € 24,95
Cover des Buchs von Peter Reichel, Rettung der Republik?
  • Peter Reichel: „Rettung der Republik?“
    100 Jahre ist eine lange Zeit und genau jene Spanne, die eine Kluft zwischen den Generationen darstellt. Wer das Jahr 1923 selbst erlebt hat, wird heute nicht mehr am Leben sein. Geschichtsschreibung ist eine Möglichkeit, sich trotzdem ein Bild davon zu machen. Der Historiker Peter Reichel hat dem Krisenjahr 1923 in Deutschland ein ganzes Buch gewidmet. „Die Rettung der Republik“ ist der Titel und es ist für all jene geschrieben, die sich – erstens – für deutsche Geschichte dieser Zeit schon immer interessiert haben und – zweitens  – eine Liebe zum Detail mitbringen. Denn genauer als Peter Reichel hat wohl kaum jemand die politischen Vorgänge dieses Jahres, das er als richtungsweisend einschätzt, durchleuchtet. Deutschland lag nach dem Ersten Weltkrieg am Boden, hatte Reparationszahlungen zu leisten und musste intern mit rechts- und linksradikalen politischen Strömungen fertig werden. Es gelingt Reichel, ein vollkommen vergiftetes politisches Klima nachzuzeichnen, das den Nährboden für Adolf Hitler und die Nationalsozialisten schuf. Und seltsamerweise erinnert vieles, was damals geschah, versatzstückhaft an die heutige Zeit. Schon damals gab es Reichsbürger, die den Staat ablehnten, es gab Putschversuche, die scheiterten. Es gab sogar eine Energiekrise, allerdings ging es damals um Kohle und nicht um Gas. Es wäre nicht richtig zu sagen, dass sich Geschichte wiederholt, doch aus einigen Konstellationen von damals lässt sich das eine oder andere fürs Heute lernen. Peter Reichel versteht es, Geschichte unter die Lupe zu nehmen, es bleibt jedem einzelnen selbst überlassen, Verbindungen zwischen 1923 und 2023 zu ziehen. Hanser, € 27,50
Cover des Buchs von Margaret MacMillan, Krieg.
  • Margaret MacMillan: „Krieg“
    Russland greift die Ukraine an, der Westen unterstützt das überfallene Land und plötzlich ist Krieg in Europa wieder in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Seit Februar 2022 ist er spürbar und die Nachrichten von Waffenlieferungen, Schlachtplänen und Kriegsgräueln überfordern das Fernsehpublikum vor allem auch deshalb, weil die wirtschaftlichen Auswirkungen auch außerhalb der Ukraine spürbar sind. In Europa wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aufgehört, über Krieg nachzudenken, behauptet die britische Historikerin Margaret MacMillan und empfindet es als Fehler. Ihr gut geschriebenes Buch „Krieg. Wie Konflikte die Menschheit prägten“ kann deshalb als eine Art große Nachhilfestunde gelesen werden. Es ist für all jene empfehlenswert, die das Wesen von bewaffneten Konflikten besser verstehen und einschätzen lernen wollen. MacMillan geht das Phänomen, das die Menschheit seit seinen Anfängen begleitet, grundlegend an und startet bei den Affen und der Frage, wie sich deren Streitigkeiten durch die von Menschen ausgetragenen Konflikte unterscheiden. Warum führen Menschen Kriege? Wie kommt es dazu? Welche Teile der Gesellschaft sind dabei wie involviert? Und was entscheidet über Sieg oder Niederlage? Um diese Fragen zu beantworten, führt Margaret MacMillan ihre Leser durch tausende Jahre Geschichte, sie stellt die wichtigsten Militärtheoretiker vor und erzählt zur Auflockerung immer wieder auch köstliche Anekdoten. Vor allem: Der Historikerin gelingt es zu zeigen, dass Kriege trotz ihrer Schrecklichkeit langfristig auch positive Auswirkungen hatten. Zum einen trieben sie schon immer den technischen Fortschritt voran, zum anderen haben sie stets auch den Weg für positive Errungenschaften wie etwa die Demokratie ermöglicht. Insofern sind bewaffnete Konflikte Teil eines gesellschaftspolitischen Prozesses und jeder ist Teil davon. Wer Krieg versteht, kann auch Frieden machen, ist eine der vielen Hoffnungen, die sich bei der Lektüre ergibt. Propyläen, € 30,95

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