I-L: Intoleranz bis Lynchmob

Einst wurden Personen gelyncht, die sich nicht an gesellschaftliche Normen hielten. Heute wird man dafür an den öffentlichen Pranger gestellt. Das nennt sich Shitstorm. Fortsetzung des ABC der politischen Korrektheit.

Zeichnung eines Angehörigen der Royal Canadian Mounted Police aus Kanada in roter Uniform mit beigem Hut, der eine Menschenmenge in einem Käfig gefangen hat, in dem er diesen über die menschen stülpt. Dabei bricht ein großer LKW auseinander. Die Zeichnung soll einen Beitrag über Cancel Culture illustrieren.

I wie Intoleranz

Sind selbst ernannte Wahrheitsbesitzer nun Rechte oder Linke? Beides. Oder weder noch. In erster Linie sind sie intolerante Nervensägen. Es sind Narzissten, die verschiedene gesellschaftliche Gruppen in Geiselhaft genommen haben und sich als Vertreter aller Frauen, Ausländer, Menschen mit Behinderungen, Menschen ohne Behinderungen sowie sämtlicher Verstorbener der Weltgeschichte aufspielen, ohne von den Betreffenden darum gebeten worden zu sein. Das sind nur geringfügig andere Symptome derselben Krankheit, die in Form von nationalistischer oder völkischer Paranoia dazu führt, dass Russen überall auf der Welt russische Minderheiten unterdrückt wähnen oder zweisprachige Ortstafeln in Kärnten abmontiert werden. Welche politische Ausrichtung sowohl virtuelle als auch reale Trolle haben, ist an sich leicht festzustellen: Die Rechten sind aggressiv, die Linken passiv-aggressiv. Vertreter der Cancel Culture fallen jedoch weitgehend aus diesem Raster, sie sind frei nach Ernst Jandl lechts-rinks-extremistisch.

J wie Jagdgesellschaft

Als Jagdgesellschaft bezeichnet man eine größere Gruppe von Menschen, denen es solchen Spaß macht, mit Gewehren und Bluthunden ausgerüstet in einen Wald einzudringen, um dort unbewaffnete Tiere umzubringen, dass sie für dieses Vergnügen sogar am Sonntag den Wecker auf vier Uhr früh stellen. Zum Teil einer Jagdgesellschaft erklärten Anhänger der FPÖ zu Jörg Haiders Zeiten auch alle Menschen, die sich öffentlich von Haiders primitiver Xenophobie und seinen Lobgesängen auf SS-Veteranen angewidert zeigten. Sich selbst sahen FPÖ-Parteigänger als Opfer, ihre Gegner wurden von ihnen als „Gutmenschen“ verhöhnt, die als „Gesinnungspolizei“ auftreten und mit der „Moralkeule“ über aufrechte Bürger herfallen würden.

Zeichnung eines Mannes, der wie ein Dirigent die Arme bewegt. Die Zeichnung soll einen Beitrag über Cancel Culture illustrieren.

Tatsächlich verhielt es sich umgekehrt. Das ist heute prinzipiell nicht anders. Da der Meinungskorridor immer enger wird, können seine Grenzen versehentlich sogar von jemandem verletzt werden, dem für gewöhnlich die Bereitschaft zur Selbstzensur nicht abzusprechen ist. Wenn so jemand irrtümlich sagt, was er wirklich denkt, und sein Unbehagen darüber ausdrückt, dass manche Tierschützer ein Fortpflanzungsverbot für Fleisch verzehrende Männer fordern, oder dass PayPal seinen Kunden bis zu 2.500 Dollar Bußgeld von ihren Konten abzieht, falls sie irgendwo eine Meinung äußern, die PayPal nicht gefällt, wird er überrascht sein, wie sich die Dinge für ihn von da an entwickeln. 

K wie Kanada

Mitglieder der kanadischen Trucker-Protestbewegung wissen, was gecancelt werden bedeutet. Auf ihre Proteste gegen die radikale Covid-Impfpflicht-Politik reagierte Premierminister Justin Trudeau, indem er erstmals in Kanadas Geschichte das Notstandsgesetz von 1988 in Kraft setzte (sein Vater Pierre hatte 1970 gegen die linken Kämpfer für ein unabhängiges Québec noch das Kriegsrecht ausgerufen).

Ihre Grenzblockade wurde durch Polizeigewalt beendet, die Trucks wurden beschlagnahmt, die Bankkonten der Teilnehmer eingefroren – ohne jeden richterlichen Beschluss. Auch Unterstützer der Bewegung wurden verfolgt. Wer mehr als 50 Dollar an die Trucker gespendet hatte, dessen Konten wurden ebenfalls gesperrt, und zwar wegen „Unterstützung von Terrorismus“. Zu diesen Terrorbräuten gehörte auch eine Pensionistin, die den Truckern von ihrer Mindestrente 50 Dollar hatte zukommen lassen. Von einem Tag auf den anderen durfte in Kanada ein Bankangestellter ohne richterliche Anordnung die Konten von Einzelpersonen und Unternehmen einfrieren, wenn er den Verdacht hatte (oder den Verdacht haben wollte), der Inhaber stehe mit so gefährlichen Terroristen wie Lastwagenfahrern in Verbindung.

L wie Lynchmob

In der guten alten Zeit wurden Menschen, die man eines Verbrechens bezichtigte, in Abwesenheit eines Richters, der sie womöglich freigesprochen hätte, von besorgten Bürgern vorsichtshalber gelyncht. Manchmal stellte sich heraus, dass die Getöteten das Verbrechen sogar tatsächlich begangen hatten. Manchmal nicht. Meistens stellte sich gar nichts heraus, weil in Wahrheit damals wie heute niemand Interesse daran hat, ein Unrecht aufzuklären.

Zeichnung eines Mannes mit richterlicher Perücke, der sich von einem Lynchmob abwendet und die Hände zum Gebet faltet. Man sieht einen erhängten menschen und darunter eine empörte Menge mit Mistkabeln. Die Zeichnung soll einen Beitrag über Cancel Culture illustrieren.

Die Obrigkeit stand dem Volksbrauch, mit Fackeln und Heugabeln vor der Tür unbeliebter Gemeindebewohner zu erscheinen, nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber, schließlich erfüllten diese Zusammenrottungen eine Ventilfunktion, stärkten das Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der Gemeinde und sparten Prozesskosten. Um jedoch ihre Autorität zur wahren, ersann sie eine Kompromisslösung: die öffentliche Bloßstellung am Pranger, die man heute auf Twitter Shitstorm nennt. 

... weiter geht’s im Abc

noch mal von vorne?