Die Angst vor Veränderung

Der Panik um die Cancel Culture wohnt etwas Totalitäres inne, findet Adrian Daub. Im Interview erklärt der Wissenschaftler, warum panisch eine heile Welt verteidigt wird, von der man selbst weiß, dass es sie nie gab.

Ein Schaufelbagger ist neben einem Arbeiter und einer schwarzen Statue einer Frau mit erhobener rechter Faust zu sehen. Der Arbeiter und die Frau stehen auf der Ladefläche eines LKW. Daneben steht ein leerer Sockel aus Gestein..
Bristol im Juli 2020: Die Statue „A Surge of Power“ des Künstlers Marc Quinn und der Black Lives Matter-Aktivistin Jen Reid wird von der Stadtverwaltung entfernt. Einen Tag lang hatte die Statue den ehemaligen Platz der Statue von Edward Colston eingenommen. © Getty Images

Der Literaturwissenschaftler Adrian Daub, der an der kalifornischen Stanford University lehrt, wollte wissen, woher die Panik über Cancel Culture eigentlich kommt, die seit einigen Jahren auch durch die europäischen Feuilletons geistert. Daub hat recherchiert und stellt fest: Die Bedrohung für die offenen Gesellschaften, die vermeintlich von der Kultur des Cancelns ausgeht, ist eine Neuauflage der alten Empörung über Political Correctness. Nur diesmal hat die Kritik an Wokeness und Identitätspolitik einen totalitären Zug bekommen, und darin liegt das eigentliche Problem, erklärt er im Interview.

Der Begriff Cancel Culture entgleitet einem, sobald man eine Definition versucht. Was ist Cancel Culture?

Adrian Daub: Eigentlich alter Wein in neuen Flaschen: Was wir erleben, ist im Grunde eine Neuauflage der Kritik an Political Correctness, die es ja seit den 1980er-Jahren gibt. Die Rede vom „Canceln“ kam ja – einigermaßen selbst­ironisch – aus einer Art Selbstkritik von gewissen, insbesondere afroamerika­nischen Diskurs-Bubbles im Internet, wo sich Fans gegenseitig vor überzogener moralischer Kritik oder Rigorismus warnten. Das hatte durchaus eine gewisse Triftigkeit.

Jetzt nicht mehr?

Im deutschsprachigen Raum hat der Begriff eine ganz neue Bedeutung und eine totalitäre Note bekommen – und zwar hat man aus „canceln“ sehr schnell eine Art „Kultur der totalen Auslöschung“ gemacht. Dies ist aber nicht nur eine Fehlinterpretation, sondern eine gewollte Fehlinterpretation.

Eine Statue ist dabei, von einem Sockel gestürzt zu werden und befindet sich im Fall. Eine Menschenmenge steht dabei. Das Bild soll einen Beitrag über Cancel Culture bzw. Cancel Culture Panik illustrieren.
Gut einen Monat zuvor, am 7. Juni 2020, war die Statue des Sklavenhändlers Edward Colston gestürzt worden. Sie landete etwas später im Hafenbecken. © Getty Images

Sie beschreiben das Phänomen als ­Panik. Steckt kein realer Kern darin?

Ich will nicht bestreiten, dass manche Fälle, die als Fälle von Cancel Culture behandelt werden, tatsächlich problematisch sind. Es ist durchaus ein Pro­blem, wenn Lehrende das Gefühl haben, ihr Wissen nicht mehr vermitteln zu können, wenn Vorlesungen gestört und Lehrende diffamiert werden. Jedoch lässt sich nicht sagen, ob dergleichen heute häufiger vorkommt als vor zwanzig Jahren. Mein Verdacht ist daher: Es geht gar nicht darum, irgendein Pro­blem anzusprechen oder es zu lösen. Das wird deutlich, wenn man die Debatten um Cancel Culture, die wir seit circa drei Jahren haben, mit jenen um Poli­tical Correctness in den 1980er- und 1990er-Jahren vergleicht: Die Diskurse sind sich sehr ähnlich – vom Vokabular angefangen über die Dramaturgie bis hin zu den Geschichten, auf die man sich bezieht. Diese Geschichten sind immer Anekdoten, sodass nicht nachvollziehbar ist, was wirklich passiert ist. Beide Diskurse wollen mit Dringlichkeit deutlich machen, dass es gerade mit der Meinungsfreiheit steil bergab geht, dass es ein Redeverbot gibt, das akut schlimmer wird. Würde man aber die Probleme, die heute angesprochen werden, wirklich lösen wollen, würde man sich nicht so bereitwillig am Vokabular und an den Überlegungen von vor dreißig Jahren orientieren. Es geht eher darum, Probleme zu negieren.

Es werden ja tatsächlich Statuen gestürzt, zum Beispiel jene des Kaufmanns Edward Colston, der Sklavenhändler war.

Das schon. Aber was macht die Cancel-Culture-Panik? Sie erreicht, dass nicht über die koloniale Vergangenheit Großbritanniens gesprochen wird, sondern über Befindlichkeiten. Menschen echauffieren sich plötzlich über das Stürzen von Statuen, deren Existenz sie vorher gar nicht wahrgenommen haben. Damit wird eine heile Welt verteidigt, an die man selbst nicht glaubt: Man will ja gar nicht so genau wissen, womit dieser Kaufmann auf dem Sockel sein Geld verdient hat. Oder Karl May: Man weiß, dass er mit Winnetou das Klischee des edlen Wilden bedient, und man weiß auch, dass das problematisch ist. Statt darüber zu reden, wird zum Problem erklärt, wer Winnetou problematisiert. Und dies wird dann als Verteidigung der liberalen Demokratie dargestellt. Tatsächlich aber will man einfach seine eigene Komfortzone nicht verlassen und weiß das auch. Deshalb ist die Aufregung ja auch gar nicht ernst gemeint.

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Zahlen & Fakten

Eine Statue in dunkler Bronze ist liegend zu sehen An der Wand dahinter steht der Text "I feel I cant't move these days without getting jumped in by the woke brigade".
Die Statue von Edward Colston im Museum in Bristol. © Getty Images

Wie Edward Colston stürzte

  • Sklavenhändler: Der Kaufmann Edward Colston aus Bristol (1636-1721) war führend bei der Royal African Company (RAC), die so viele Sklaven im Atlantischen Sklavenhandel verschiffte, wie keine andere Organisation. 84.000 Menschen wurden allein in Colstons Zeit bei der RAC (1680-1692) versklavt und verkauft.
  • Kulturkämpfe, Proteste, Sturz: Die 1895 errichtete Statue war bei ihrer Errichtung eine Reaktion auf eine ein Jahr ältere Statue von Edmund Burke (1729-1797), einem Philosophen, Ökonomen und Kritiker des Sklavenhandels. Der Vikar Henry Wilkins aus Bristol war 1920 der erste, der einen Hinweis auf Colstons Engagement im Sklavenhandel als Ergänzung an der Plakette auf dem Sockel forderte. Auf dieser wird Colston als Philanthrop gewürdigt. Die Forderung wurde bis heute nicht erfüllt, trotz aller Proteste insbesondere seit den 1990er Jahren. Das nicht eingelöste Versprechen war der Auslöser für den Sturz des Standbilds am 7. Juni 2020.
  • Bristol History Commission: Im September 2020 richtet die Stadt Bristol eine Geschichtskommission ein, die einen Umgang mit der Statue erarbeiten soll. An diesem Prozess wurde die Bevölkerung von Bristol beteiligt. Der Abschlussbericht hält fest, dass drei Viertel der Einwohner den Sturz der Statue begrüßen und für ihre Ausstellung in einem Museum sind.
  • Wirkung: Die Historikerkommission wird sich weiterhin mit der Geschichte von Bristol auseinandersetzen und den Fokus auf sozialpolitische Themen wie die Geschichte der Sklaverei und des Skalvenhandels, die Geschichte der Arbeiterbewegung, die Rolle der Chartisten (Wahlrecht für Arbeiter) und Suffragetten (Wahlrecht für Frauen), Bildung oder Gentrifizierung legen. Die Auseinandersetzung mit der Rolle von Bristol im Sklavenhandel und Edward Colston geht weiter, da zahlreiche Orte, Plätze und Feiertage in Bristol Colston gewidmet sind. Die Kritik an der unkommentierten Präsenz Colstons im Stadtbild von Bristol ist Jahrzehnte alt.

Sondern?

Es geht darum, ein neues Gefühl des Bedrohtseins, des Nichts-mehr-sagen-Dürfens zu schüren. Dahinter steht Angst vor Veränderung. Als vor 15 Jahren in Berlin ein Teil der Kochstraße in Rudi-Dutschke-Straße umbenannt wurde, sagte man, das sei respektlos gegenüber Johann Jacob Koch. Das war ein Bäckermeister, und ich bin mir sicher, dass ihn vorher niemand gekannt hat. Nun regt man sich auf, dass er nicht respektiert wird. Im Grunde macht dieser Diskurs ständig selbst, was er anderen vorwirft: Man entdeckt einen Trigger und flippt total aus, obwohl es einem kurz zuvor noch absolut egal war.

Aber warum bricht diese Lust am vermeintlichen Verbot gerade jetzt aus?

Sie war niemals weg und hat insofern dann doch einen realen Kern, als heute ja nicht mehr eindeutig ist, wer eigentlich die Deutungshoheit über die Welt hat. Dass es möglicherweise niemand mehr ist, will man nicht wahrhaben, und mit alternativen Ansichten will man sich nicht auseinandersetzen. Da ist es bequemer, man zieht sich zurück.

Eine schwarze junge Frau steht neben dem Sockel einer Statue und hält einen Karton mit der Aufschrift "This Place is dedicated to the Slaves that were taken from their homes". Das Bild soll einen Beotrag über Cancel Culture Panik illustrieren.
Versuch einer lang geforderten Umwidmung des Sockels und des Platzes in Bristol, wo zuvor die Statue von Colston stand. Nach ihrem Sturz entstand eine landesweite Debatte über die Rolle Großbritanniens im Sklavenhandel. Noch immer würdigen aber viele Orte und Denkmäler in Bristol unkommentiert Colston als Wohltäter der Stadt. © Getty Images

Das Thema Political Correctness ist irgendwann in den 2000er Jahren wieder abgeebbt, scheint mir. Gibt es diese Konjunkturen?

Wenn man das Ganze als moralische Panik analysiert, dann muss sich das irgendwann verlaufen. Der Soziologe Stanley Cohen, der den Begriff geprägt hat, hat es in den 1970er Jahren so erklärt, dass sich die hohe emotionale Investition irgendwann einfach nicht über einen langen Zeitraum aufrecht erhalten lässt. Dafür passiert auch einfach zu wenig. Interessant ist auch, dass die moralische Panik später einer seltsamen Amnesie unterliegt: Wenn sie ein paar Jahre später wieder aufpoppt, hat man vergessen, dass man sich schon mal über ähnliche Dinge aufgeregt hat.

Das heißt, die Panik kommt und geht?

Ja, aber in anderer Gestalt. Zwischen den Jahren 2000 bis 2015 ist die Aufregung um Political Correctness nach rechts gewandert. Der Diskurs ging weiter, aber eben in rechts stehenden Verlagen und wanderte von dort wieder zurück in den Mainstream. So kann es kommen, dass heute einer der Hauptkritiker der Cancel Culture eigentlich Wladimir Putin ist. Heute kommt – anders als in den 1990er Jahren – außerdem erschwerend hinzu, dass die Gesellschaften, besonders die amerikanische, sehr polarisiert sind. 60 Prozent der Republikaner glauben, dass der derzeitige Präsident nicht ihr Präsident ist! Das ist demokratisch bedenklich, wenn diese 60 Prozent eine Verschwörungstheorie als Erfahrung von Totalitarismus verkaufen können.

Foto des leeren Sockels für ein Denkmal auf einem kleinen Platz.Im Vordergrund ein weiterer Teil des Denkmals. Das Bild illustriert einen Beitrag über Cancel Culture Panik.
Ob und wie der Sockel der Colston-Statue genutzt wird, ist noch offen. Die Plakette, die Colston als Philanthrop würdigt, ist weiterhin zu sehen. © Getty Images

Bei der Cancel Culture-Debatte wird oft der Vorwurf der Identitätspolitik gemacht. Dabei wird das Stereotyp des alten weißen Mannes bemüht, der durch Identitätspolitik bedroht ist. Was ist mit Identitätspolitik gemeint?

Es ist ein typischer Gestus der Cancel Culture Panik: Man spricht etwas aus – sogar sehr, sehr häufig – indem man immer wieder betont, dass man etwas nicht sagen darf. Der alte weiße Mann wird einmal mehr zentriert, indem man behauptet, es gehe ihm nun an den Kragen. Das ist natürlich selber Identitätspolitik, aber den Vorwurf der Identitätspolitik macht man der Gegenseite. Diese Volten sind ein fixer Bestandteil der Cancel Culture Panik, auch im deutschsprachigen Feuilleton. Positionen, die Diskriminierung sichtbar machen wollen, werden unter Stichwörtern wie Kränkung, Empfindlichkeit oder Hysterie diffamiert. Und sich selber positioniert man implizit als das Gegenteil von alledem. Der Vorwurf der Identitätspolitik ist auf diese Weise zu einem wirksamen Mittel geworden, um alle Positionen zu diskreditieren, die einem gerade nicht passen, man spricht ihnen schlicht die Ernsthaftigkeit ab, während man die eigene Position als „unaufgeregt“ darstellt. Das kann man interessanterweise auch tun, während man sich selbst gerade lustvoll echauffiert.

Foto von Adrian Daub in hellem Anzug vor einem Baum.
Adrian Daub ist Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Stanford n Kalifornien. Sein jüngstes Buch „Cancel Culture Transfer“ erschien im November 2022 im Suhrkamp Verlag. © Jennifer Townhill