Das Ende der Vernunft

Unliebsame Wissenschaftler werden ausgemistet, unbequeme Autoren gemobbt, Denkmäler gestürzt. Wie die Cancel Culture zum Tribunal der politischen Korrektheit verkommt.

Illustration einer gestürzten Kolumbus-Statue
Cancel Culture fordert Gesellschaften dazu auf, dominante Geschichtsnarrative neu zu denken. © Benedetto Cristofani

Seit einiger Zeit wird aufgeräumt und sauber gemacht. Schmutzige Gedanken und Worte werden verbannt, unliebsame Autoren und Wissenschaftler gemobbt, Redner werden am Sprechen ge­hindert, Denkmäler gestürzt, die Spielpläne von Theater- und Opernhäusern von rassistischen und sexistischen Stücken befreit, Museen entledigen sich ihrer Beutekunst und distanzieren sich von den Machwerken weißer Männer und Frauen, und die Literatur vergangener Tage wird nach den moralischen Maßstäben der Gegenwart umgeschrieben. Die Stimmen bislang unterrepräsentierter ethnischer, religiöser und sexueller Minderheiten und Gruppen wollen nicht nur gehört werden, sie wollen andere zum Schweigen bringen.

Was in kleinen akademischen Zirkeln als moralisch gut und politisch korrekt gilt, wird zu einem Maßstab erhoben, der keinen Widerspruch, keine Einwände duldet. Die Befindlichkeit und subjek­tive Betroffenheit von Menschen, die sich diskriminiert fühlen, bestimmen über Verlagsprogramme und die Ausrichtung der Feuilletons, über die Karrieren von Wissenschaftlern und Übersetzern, über den musikalischen und literarischen Kanon, über Straßennamen und Denkmäler im öffentlichen Raum. Auch bedeutende historische Personen und klassische Werke, die nicht absolut un­tadelig erscheinen, werden aus dem Verkehr gezogen, dürfen keinen prominenten Platz in Lehr- und Studienplänen mehr einnehmen.

Ein Furor hat das geistige Leben der westlichen Welt erfasst, der vor nichts haltmacht. Es geht den Aktivisten nicht darum, sich mit fragwürdigen Positionen, unbequemen Denkern, widersprüchlichen Kunstwerken kritisch oder polemisch aus­einanderzusetzen, sondern man will Menschen zum Schweigen und Dinge zum Verschwinden bringen, man will eliminieren, durchstreichen, beseitigen. Man will canceln.

Eine Kultur des Löschens

Der Begriff Cancel Culture, der sich für diesen Trend eingebürgert hat, ist dabei unfreiwillig ironisch: Die „Kultur“ des Streichens, Löschens und Ausladens bezieht sich ja nicht auf die Barbarei, sondern auf Aspekte und Erscheinungsformen der Kultur selbst. Bestimmte Formen von künstlerischen Äußerungen zu verbannen beziehungsweise den Blicken oder Rezeptionsmöglichkeiten zu entziehen hat eine lange Geschichte. Bilderstürmer, Fanatiker und Asketen aller Art hatten immer wieder versucht, die Kultur vom Bösen zu reinigen und alles zu unterdrücken, was der herrschenden Ideologie widersprach. Im Zuge der Aufklärung und der damit verbundenen Revolten galt es als Fortschritt, staatliche oder kirchliche Zensurpraktiken zu überwinden. Die Freiheit von Wissenschaft und Kunst ist mittlerweile in der Verfassung verankert.

Illustration eines Malers, der den Grundgesetztext zur freien Meinungsäußerung übermalt
Cancel Culture: In den Augen vieler greift sie die freie Meinungsäußerung an. © Benedetto Cristofani

Umso erstaunlicher ist es, dass es nun neue Zensurbestrebungen gibt, die nicht von der Herrschaftsbürokratie, den etablierten Religionsgemeinschaften oder den Behörden ausgehen, sondern aus dem Innersten der Kultur, der Kunst und des Wissenschaftsbetriebes kommen. Es ist paradox, dass diejenigen, deren Geschäftsgrundlage die Freiheit ist, nun Gefallen daran zu haben scheinen, sich dieser Freiheit selbst zu berauben – nur um auf der vermeintlich richtigen Seite zu stehen. Die Beispiele für diesen Prozess sind zahlreich, und jeden Tag kommen neue hinzu. Manchmal mag es sich um Einzelfälle handeln, die medial hoch­gespielt und aufgebauscht werden, manchmal mögen sich die Gegner oder Betroffenen dieser Cancel Culture selbst mit nicht immer angemessenen Mitteln lautstark zur Wehr setzen, und manchmal wird man angesichts der erbitterten Kulturkämpfe, in denen die Kriterien für das Gute und moralisch Gebotene, die richtigen Begriffe und korrekten Ausdrucksweisen fast täglich wechseln, den Überblick verlieren und einigermaßen ratlos zurückbleiben.

Der nun auch in Deutschland heftig diskutierte Fall der britischen Philosophin Kathleen Stock an der University of Sussex kann dafür als Beispiel dienen. Stock, eine deklarierte Feministin, die der eher nüchternen Richtung der analytischen Philo­sophie zuzurechnen ist, hatte in der emotional aufgeladenen Genderdebatte die Auffassung vertreten, dass das biologisch bestimmte Geschlecht eines Menschen nicht durch einen Akt der Um­benennung einfach außer Kraft gesetzt werden kann. Obwohl Genetik und Humanbiologie für diese These sprechen, geriet Stock unter den Verdacht, transphob zu sein, und es begann eine medial inszenierte und aktionistisch exekutierte Hetzjagd, die dazu führte, dass die Professorin entnervt die Universität verließ.

Die Behauptung, dass das Geschlecht eines Menschen ein jederzeit revidierbares soziales oder kognitives Konstrukt sei, das allein einer subjek­tiven Gefühlslage entspringt, ist zu einem Dogma geworden, das nicht mehr angezweifelt werden darf. Wie viel Denk- und Forschungsfreiheit ist an Universitäten noch möglich, wenn kleine Gruppen mit exzentrischen, aber unter dem Banner einer überlegenen Moral vorgetragenen Positionen jede offene Kontroverse sabotieren können? Doch es regt sich Widerstand. Kathleen Stock wechselte an die neu gegründete University of Austin, die sich als Ort der freien akademischen Rede in Zeiten zunehmender Verengung der Diskursräume versteht. Natürlich konnte es nicht ausbleiben, dass diese Neugründung als Initiative von konservativen und neurechten Wissenschaftlern kritisiert wurde, die weniger der Freiheit als einem veralteten Weltbild frönen wollen. Aber damit macht man es sich wohl zu einfach.

Medien spielen bei Zensur mit

In diesen Kontext gehört auch die immer öfter geübte Praxis, missliebige Personen, die von Universitäten, Literaturhäusern oder anderen Veranstaltern eingeladen wurden, am Sprechen zu hindern; wenn es nicht anders geht, durch phy­sische ­Attacken. Deplatforming nennt sich diese Variante der Cancel Culture: Wer einem nicht passt, dem darf keine Plattform geboten werden. Als der ehe­malige deutsche Minister Thomas de Mai­zière beim renommierten Göttinger Literatur­herbst sein Buch Regieren. Innenansichten der Politik vorstellen wollte, wurde er von linksgerichteten Demons­tranten daran gehindert. Was dieser Mann aus ­erster Hand über deutsche Politik zu sagen ­hatte, wollte man gar nicht erst hören. Erschreckend: Diese Attacke auf die Freiheit der Rede wurde sogar von renommierten Zeitungen enthusiastisch begrüßt.

Selbstverständlich steht es Kulturveranstaltern frei, wen sie einladen wollen. Es muss nicht jedem, der danach giert, eine Bühne geboten werden, und nicht alle, die gerne bei bestimmten Veranstaltungen reden wollen, jedoch nicht zum Zug kommen, sind Opfer der Cancel Culture. Das rückgratlose Verhalten von Veranstaltern, geht es darum, in vorauseilendem Gehorsam dem Zeitgeist gegenüber die Freiheit der Rede zu beschneiden, ist dennoch ein beunruhigendes Signal. Dass der Versuch islam­freundlicher Aktivistinnen, eine Veranstaltung mit Alice Schwarzer an der Universität für angewandte Kunst in Wien zu canceln, scheiterte, ist dem Rektor dieser Hochschule, der sich nicht erpressen ließ, hoch anzurechnen.

Amanda Gorman beim Vortrag ihres Poems The Hill We Climb
Lyrikerin Amanda Gorman präsentiert „The Hill We Climb“ bei der Inauguration Joe Bidens im Januar 2021. © Getty Images

Die Erscheinungsformen der Cancel Culture sind durchaus vielfältig, und nicht alles ist über
einen Kamm zu scheren. Vor allem durch die Debatte, wer nun eigentlich das anlässlich der Inauguration Joe Bidens von Amanda Gorman vorgetra­gene Gedicht The Hill We Climb in andere Sprachen übersetzen darf, ist die Frage in den Vordergrund gerückt, ob ethnische Herkunft, Geschlecht oder Hautfarbe nicht wichtiger sind als etwa professionelle Qualifikationen.

Ein Angriff auf die Kultur überhaupt

Für die deutsche Übersetzung dieses kleinen, lite­rarisch nicht besonders anspruchsvollen Poems wurde deshalb gleich ein Dreierteam engagiert, bestehend aus der Übersetzerin Uda Strätling, der Autorin Kübra Gümüşay und der Journalistin Hadija Haruna-Oelker. Das Ergebnis war, so die einhellige Meinung der Kritik, verheerend. Aber die politisch korrekte Quotierung stimmte. Ein entscheidendes Argument in dieser Debatte lautete, dass das, was sich in einem Kunstwerk ausdrückt, nur Menschen mit ähnlichen Schicksalen, Identitäten und Leiderfahrungen zugänglich wäre. Diese Überlegung ist allerdings ein Angriff auf die Idee von Kultur überhaupt.

Darf ein Künstler, der selbst nie Unterdrückung, Verfolgung und Schmerz erlebt hat, Menschen beschreiben, darstellen oder besingen, die solch ein Tal der Tränen durchwandern mussten? Dürfen Poeten, Designer oder Musiker sich von ästhe­tischen Praktiken anderer, minoritärer, gar unterdrückter Kulturen inspirieren lassen? Vor Jahren noch hätte man diese Fragen gar nicht verstanden. Mittlerweile tendieren immer mehr Theo­retiker und Aktivisten dazu, sie mit einem scharfen Nein zu beantworten.

Kultur lebt von der Aneignung des Anderen, von der Fähigkeit, sich von fremden Erfahrungen inspirieren zu lassen.

Unter dem Stichwort „kulturelle Aneignung“ werden zunehmend alle ästhetischen Verfahren kritisiert, bei denen sich die Vertreter einer angeblich privilegierten weißen Dominanzkultur aus dem Reservoir anderer Gemeinschaften bedienen. Nur die legitimen Angehörigen einer Ethnie oder Religion hätten das Recht, mit den damit verbundenen kulturellen Traditionen und ästhetischen Zeichen zu operieren, und nur Menschen, die dasselbe Schicksal teilen, dürften dieses zum Gegenstand einer künstlerischen Aktion machen. Alles andere gilt als Übergriff.

Man kann das so sehen. Jedem das Seine mag eine Devise sein, die Kulturen davor bewahren soll, von einem unersättlichen globalen Markt aus­ge­saugt und ausgebeutet zu werden. Das eifersüch­tige Wachen darüber, wer in wessen Namen über wen sprechen darf, sorgt nebenbei dafür, dass die damit verbundenen medialen Wellen der Empörung nicht verebben können: Irgendjemand vergreift sich immer. Kultur schlechthin lebt von der Aneignung des Anderen, von der Fähigkeit, sich von fremden Erfahrungen inspirieren zu lassen, von der Bereitschaft, alles, was die Welt so zu bieten hat, den eigenen ästhetischen Ansprüchen anzuverwandeln, von der Gabe, intuitiv die Situation und Lage eines anderen Menschen zu erfassen.

Die Gerichte der politischen Korrektheit

Den Bemühungen der Cancel Culture ist nicht nur ein zorniger, unduldsamer, sondern oft auch, in ihren sanfteren Varianten, ein ausgesprochen besorgt-pädagogischer Ton eingeschrieben. Man möchte die Menschen vor schlimmen Gedanken, bösen Bildern und zweideutigen Texten schützen. Die spektakuläre Verschiebung einer Wanderausstellung des Ku-Klux-Klan-Zyklus des amerikanischen Künstlers Philip Guston, die mehrere Museen geplant hatten, ist dafür vielleicht das beste Beispiel. Der 1980 verstorbene Guston hatte sich in unmissverständlich kritischer Form mit dem Rassismus auseinandergesetzt. Aber der Anblick von gezeichneten Kapuzenmännern ist offenbar unzumutbar, man traut erwachsenen Menschen nicht mehr zu, die Intention dieser Bilder zu verstehen.

Das Argument der Museumsdirektoren, man müsse sich mit dem Werk erst intern auseinandersetzen, bevor man es präsentiere, ist hanebüchen: Die öffentliche Auseinandersetzung liegt im Wesen der Kunst. Warum dürfen an Kunst Interessierte nicht ihre eigenen Schlussfolgerungen ziehen?

Gemälde von Philip Guston in einer Ausstellung
Philip Gustons „Riding Around“ bei einer Wanderausstellung in Hamburg im Jahr 2014. © Getty Images

Es gibt in Kultureinrichtungen und Redaktionsstuben eine Tendenz zur Bevormundung der Bürger, die in ihrer Penetranz nur schwer zu verkraften ist. Nicht nur die Lebenden, auch die Toten werden vor die Gerichte der politischen Korrektheit gezerrt und, falls sie den Moraltest nicht bestehen, ge­cancelt. Plakativ entzündet sich diese Debatte gerne an Denkmälern, die an Figuren der Vergangenheit erinnern, an die man heute nicht mehr anstreifen will. Zumindest einige dieser Standbilder werden nun gestürzt; wer immer in den Verdacht gerät, am Kolonialismus partizipiert und rassistisch gedacht zu haben, muss hinab: ins Depot, ins Meer, in den Müll.

Keine Frage: Die Demolierung von Denk­mälern gehört zum politischen Geschäft, nach jeder Revolution, nach jedem Umsturz wurden die steinernen Repräsentanten des alten Regimes geschleift. Der Bildersturm, aus welchen religiösen oder ideologischen Motiven er auch entfesselt wird, ist jedoch nur allzu oft Ausdruck eines Ressentiments, einer ohnmächtigen Wut, die sich einmal in den Rausch der Macht verwandeln will.

Der paranoide Blick zurück

Hinter dieser Symbolpolitik steckt ein paranoid gebannter Blick auf die Vergangenheit, bereit, alles wieder und immer wieder zu durchleuchten, stets auf der Suche nach Ideen, Taten und Werken, die dem heutigen Wissensstand und unseren aktuellen ethischen Standards nicht genügen, um dann die Toten mit einer triumphalen Geste der moralischen Überlegenheit noch einmal zu töten. Ein gutes Beispiel dafür ist die Mode, Statuen von Christoph Kolumbus zu entfernen. Es stimmt: Kolumbus’ unfreiwillige Entdeckung eines neuen Kontinents öffnete den Weg für Kolonisation, Ausbeutung, Sklaverei und Völkermord.

Doch ohne Kolumbus gäbe es keine amerikanischen Erfolgsgeschichten. Die Historie lässt sich nicht rückgängig machen, sie lässt sich nur neu schreiben und bewerten. Es ist legitim, ja geboten, dass man Kolumbus nicht nur als Entdecker und kühnen Seefahrer feiert, sondern auch seinen zwielichtigen Charakter und die negativen Konsequenzen seiner Aktivitäten mitbedenkt und erforscht.

Nicht nur die Lebenden, auch die Toten werden vor die Gerichte der politischen Korrektheit gezerrt und gecancelt.

Aber all das sind keine Gründe, Kolumbus-Denkmäler zu stürzen, zumal wenn diese, wie etwa das in Chicago, von Immigrantengruppen auf­gestellt wurden, die dem Genuesen ihren Dank für das in Amerika gewonnene Reich der Freiheit abstatten wollten. Gerade ein selbst schon historisch gewordenes Denkmal kann Anlass sein, einen Teil der Geschichte unter neuen Aspekten zu sehen. Wenn Kolumbus und andere umstrittene Gestalten verschwinden – zuerst von den Plätzen, dann aus den Geschichtsbüchern –, ist dafür nichts gewonnen.

Nicht nur Kolumbus, auch der Mohr kann gehen. Soeben hat die Stadt Zürich beschlossen, alle Inschriften an Häusern, in denen sich der „Mohr“ findet, zu entfernen. Und den traditionsreichen „Mohrenapotheken“ wird ebenfalls empfohlen, andere, unverfänglichere Namen zu wählen. Diese Aktionen zeugen nicht nur von Geschichtsvergessenheit, sondern blenden bewusst Aspekte aus, die nicht der zeitgeistigen Moral entsprechen. Dem Wort „Mohr“ wird eine rassistische Bedeutung zugeschrieben, die dieses nie hatte.

Bild der Mohrenapotheke in Wolfsburg
Mohrenapotheken: Gar nicht so politisch unkorrekt, wie von Befürwortern der Cancel Culture behauptet? © Getty Images

Etymologisch ist es mit dem Mauren, der Bezeichnung für nordafrikanische und spanische Araber, ebenso verwandt wie mit dem heiligen Mauritius, der oft mit dunkler Hautfarbe dargestellt wurde. Der Status eines Heiligen aber markiert das Gegenteil einer Abwertung. Und im Mittelalter wurden Apotheken in Anerkennung und Bewunderung für die überlegene arabische Medizin und Heilkunst nach den Mohren benannt. Die rabiate Reduktion des Wortes „Mohr“ auf rassistische Aspekte, die ihm später zugeschrieben wurden, streicht damit eine Geschichte inter- und transkultureller Beziehungen aus, an die man doch auch in positiver Weise anknüpfen könnte. Der Mohr, so heißt es bei Friedrich Schiller, hat seine Arbeit getan, der Mohr kann gehen. Vielleicht war dies voreilig formuliert. Es bleibt noch viel in Sachen Aufklärung zu tun – aber anders, als es sich die Verächter des „Mohren“ gerne denken.

Die Geschichte ist keine moralische Anstalt

Der Hochmut, der sich in der Annahme zeigt, dass alle Geschlechter vor uns irrten, ist ein Missverständnis. Nicht zuletzt wir selbst sind das Resultat dieser Irrtümer. Wir werden weder zu besseren Menschen, noch schaffen wir eine bessere Welt, wenn wir diese von allen Dokumenten reinigen, die uns daran erinnern könnten, dass die Geschichte keine moralische Anstalt ist. Dass Menschen in der Regel ambivalente Wesen sind, mit guten und weniger guten Seiten, wird gerne vergessen. Der moralische Aspekt wird absolut gesetzt.

Zwei oder drei Bemerkungen von Immanuel Kant, die man rassistisch lesen kann, zählen dann mehr als das ansonsten untadelige Werk des großen Philosophen und Aufklärers. Gemäß der antiken Weisheit, dass es immer auf das rechte Maß ankommt, gibt es im Sprachgebrauch und im Umgang miteinander und mit unserer wechselhaften Geschichte sehr wohl sinnvolle Formen der Zurückhaltung, des Respekts und der Vorsicht. Früher sprach man von Höflichkeit und Taktgefühl. Aber aus jeder Tugend kann, geht das rechte Maß ver­loren, ein furchtbares Laster werden. Die aus hehren Motiven entstandene Cancel Culture hat längst die Züge solch eines Lasters angenommen.