China: Im Eiltempo zur Atommacht

Im nuklearen Wettstreit galt China lange als Nachzügler. Inzwischen ist das Reich der Mitte den USA und Russland dicht auf den Fersen – und lässt deren Fähigkeit zum Erstschlag zunehmend fraglich erscheinen.

Wachmann in Chinas Militärmuseum neben einem Video zur Atombombe
Militärmuseum Beijing, 2007: Ein Wachmann steht neben einem Video über Chinas Atombomben- und Wasserstoffbombenforschung. China führte am 16. Oktober 1964 seinen ersten Atomtest durch, der erste Wasserstoffbombentest folgte 1967. Die Tests wurden bis 1996 fortgesetzt. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Vormachtstellung. Russland und die Vereinigten Staaten besitzen mehr als 90 Prozent aller Atomsprengköpfe. Neun Nationen auf der Welt haben Atomwaffen.
  • Aufrüstung. China ist jedoch im Vormarsch. Schätzungen zufolge besaß Beijing 2020 das drittgrößte Sprengkopfarsenal unter den Atommächten.
  • Verheimlichung. Die exakte Anzahl der Sprengköpfe ist aber ein Staatsgeheimnis. Gewiss ist nur: China rüstet kontinuierlich auf.
  • Abrüstung? Die USA haben Chinas Bestrebungen zu lange ignoriert und so die Chance auf ein Rüstungskontrollabkommen verspielt – eventuell für immer.

Das nukleare Wettrüsten zwischen den Vereinigten Staaten und China ist bereits in vollem Gange. Es wird durch Chinas Entschlossenheit angeheizt, den Status einer echten Großmacht zu erreichen – mit einem strategischen Einfluss, der dem der USA und der Sowjetunion auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges gleichkommt, als beide Supermächte die Fähigkeit zur „gesicherten gegenseitigen Vernichtung“ besaßen. Das Streben nach nuklearer Vorherrschaft soll Beijing nicht nur entscheidende Vorteile gegenüber den USA verschaffen: Es soll das Land auch gegen Russlands ungewisse Zukunft nach dem Ukraine-Krieg absichern. Der Wettstreit mit den USA wird das kommende Jahrzehnt oder gar noch einen längeren Zeitraum prägen.

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Rote Raketen auf dem Vormarsch

Der chinesische Spionageballon, der vor kurzem Nordamerika überflog – und von dem die USA öffentlich erklärt haben, dass es sich um ein Überwachungsflugzeug zur Erfassung und Auswertung von SIGINT- und MASINT-Informationen (Fernmelde- und elektronische Aufklärung sowie unbeabsichtigte Emissionen von Aufklärungsobjekten) handelte – sollte höchstwahrscheinlich Informationen über die Frühwarn- und Nuklearkapazitäten sowie die Befehls- und Kontrollsysteme der USA in Erfahrung bringen.

Zeitlich fiel dieser Vorfall mit dem Eingeständnis von US-Regierungsvertretern zusammen, China habe die USA bei der Anzahl nuklearfähiger, landgestützter Interkontinentalraketen (ICBM) vermutlich überholt. Ungeprüften Schätzungen zufolge wird Chinas nukleare Raketenkraft in naher Zukunft mit der Russlands oder der USA nicht nur gleichziehen können, sondern diese sogar übertreffen.

Chinas Raketenstreitkräfte übersteigen bereits jetzt die Fähigkeit der US-Raketenabwehr, ankommende ICBMs, die auf das US-Festland gerichtet sind, abzufangen. Darüber hinaus ist China nicht klassifizierten Schätzungen zufolge in der Lage, gleichzeitig „Countervalue“, das heißt US-Städte, anzugreifen und „Counterforce“ zu betreiben, also die nukleare Erstschlagkapazität der USA zu unterwandern.

Neue Fragen im atomaren Wettrüsten

Chinas wachsende Streitkräfte führen zu einer Reihe neuer Dynamiken im nuklearen Wettbewerb. Die strategischen Nuklearstreitkräfte der USA sind so dimensioniert und ausgerichtet, dass sie in erster Linie die russischen Nuklearstreitkräfte und in begrenztem Umfang Angriffe aus anderen Ländern abwehren können. Die USA verfügen jedoch nicht über ausreichend Kapazitäten, um gleichzeitig der Bedrohung einer „gegenseitigen gesicherten Zerstörung“ mit Russland und einem besser bewaffneten China entgegenzutreten.

Besucher im Militärmuseum Peking, 2023
Beijing, 2023: Besucher in Chinas Militärmuseum, auch Militärmuseum der chinesischen Volksrevolution genannt, vor einem Porträt Mao Zedongs. Er beschloss während der ersten Taiwan-Krise (1954-1955), ein chinesisches Atomwaffenprogramm zu starten. © Getty Images

Das stellt die Wirksamkeit des amerikanischen Abwehrschirms und seiner erweiterten Abschreckung in Frage. Erweiterte Abschreckung bedeutet, dass mit den USA verbündete Staaten im Falle eines Angriffs vor der Gefahr eines nuklearen Vergeltungsschlags geschützt werden. So sind beispielsweise die NATO-Staaten, aber auch Vertragsstaaten wie Südkorea und Japan in die nukleare Abschreckung der USA mit einbezogen.

Eine robuste Erstschlagkapazität Chinas gegen die USA wirft nun neue Fragen auf: Würden die USA einen Atomkrieg und den Verlust von Städten wie Washington und New York riskieren, um etwa Estland oder Taiwan zu verteidigen? Wird China mit der Ausweitung seines nuklearen Schutzschirms die Verbreitung von Atomwaffen fördern? Würde China einen nuklearen Iran unterstützen? Könnten mit den USA verbündete oder befreundete Nationen eine unabhängige nukleare Abschreckung entwickeln, wie es Frankreich und das Vereinigte Königreich während des Kalten Krieges getan haben? Werden wir schon bald ein nukleares Südkorea oder Japan oder neue Atommächte im Nahen Osten sehen?

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Zahlen & Fakten

Protest gegen Atomwaffen in Kaiserslautern 1980
Moneten statt Raketen: In Kaiserslautern demonstrierten 1980 rund 6.000 Menschen gegen Atomwaffen und forderten Abrüstungsverträge. © Getty Images

Nukleare Rüstungskontrollverträge – inaktiv

  • ABM-Vertrag: In Kraft von 1972-2002, unterzeichnet von den USA und der Sowjetunion (später Russland, Ukraine, Belarus und Kasachstan). Begrenzte die Anzahl der Anti-Ballistik-Raketenkomplexe auf zwei pro Land mit je maximal 100 Anti-Ballistik-Raketen. Die USA traten 2002 aus dem Vertrag aus.
  • SALT I-Vertrag: von 1972-1977 in Kraft. Fror die Anzahl der strategischen ballistischen Raketen in den USA und der Sowjetunion auf dem Stand von 1972 ein und verbot die weitere Aufrüstung.
  • SALT II-Vertrag: Sollte 1979 SALT I ersetzen, aber der US-Senat stimmte der Ratifizierung nie zu. Die Bedingungen des Abkommens – darunter die Reduzierung der Atomwaffenarsenale auf 2.250 strategische Trägersysteme – wurden dennoch von beiden Seiten bis 1986 eingehalten.
  • INF-Vertrag: von 1988-2019 in Kraft. Verpflichtete die USA und die Sowjetunion, alle bodengestützten ballistischen Raketen und Marschflugkörper mit einer Reichweite von 500-5.500 Kilometern nachweislich zu vernichten. Die Trump-Regierung trat aus dem Vertrag aus, da Russland das Abkommen nicht einhalte.
  • START I-Vertrag: von 1994-2009 in Kraft, unterzeichnet von den USA und Russland. Die vereinbarte Reduzierung auf 1.600 strategische Trägersysteme und 6.000 Sprengköpfe wurde bis 2001 abgeschlossen, die Reduzierungsbemühungen aber nach Erreichen der START-Grenzen fortgesetzt.

US-Strategie: Biden folgt Obamas Beispiel

Und was tun eigentlich die USA? Nach dem Kalten Krieg hatte Washington nur ein begrenztes Interesse an der Durchführung weiterer Atomtests oder dem Bau neuer Atomwaffen. Alleiniges Ziel war es, das bestehende Arsenal zu warten und bei Bedarf zu modernisieren. Zwar entwickelten die USA ein Raketenabwehrsystem und schufen ein Raketenschutzschild. Diese Maßnahmen verfolgten allerdings das Ziel, Nordkorea und eine potenzielle iranische Bedrohung abzuwehren – nicht Russland oder China entgegenzutreten.

Unter Präsident Barack Obama verfolgte die Regierung zunächst die „Road to Zero“-Doktrin mit dem Ziel einer atomwaffenfreien Welt. Im Laufe seiner Präsidentschaft gab Obama das Konzept als nicht praktikabel auf. Er legte den Schwerpunkt stattdessen erneut auf Rüstungskontrollverträge und bekräftigte die Wichtigkeit des strategischen Arsenals sowie der Modernisierung der Waffensysteme – einschließlich der Anschaffung eines neuen Bombers und neuer Atom-U-Boote. Joe Biden setzt diese Politik der Um- statt Aufrüstung fort und beendete Trumps bereits begonnenes Projekt zur Entwicklung einer neuen Generation seegestützter atomarer Marschflugkörpern.

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Zahlen & Fakten

Sergej Lawrow und Hilary Clinton halten 2009 gemeinsam einen "Reset"-Button für die russisch-amerikanischen Beziehungen – der irrtümlicherweise mit dem russischen Wort für "Überlastung" statt "Neustart" beschriftet ist
Der Reset-Button, den Hilary Clinton 2009 dem russischen Außenminister Sergej Lawrow präsentierte, war falsch beschriftet – statt des russischen Worts für „Neustart“ wurde „Überlastung“ aufgedruckt. © Getty Images

Nukleare Rüstungskontrollverträge – aktiv

  • Atomteststoppvertrag: Seit 1963 in Kraft, unterschrieben von den USA, der Sowjetunion und Großbritannien. Verbietet alle Atomtests in der Atmosphäre, im Weltraum oder unter Wasser.
  • Atomwaffensperrvertrag: Seit 1970 in Kraft, seit 1995 auf unbestimmte Zeit verlängert. Soll die Verbreitung von Kernwaffen verhindern, die Zusammenarbeit bei der friedlichen Nutzung von Atomenergie und die globale nukleare Abrüstung fördern. Insgesamt sind 191 Staaten dem Vertrag beigetreten.
  • New START-Vertrag: seit 2011 in Kraft, aktuell bis 2026 verlängert. Begrenzt die Zahl der strategischen Atomsprengköpfe und -bomben in den USA und Russland auf 1.550 und die Zahl der Raketen, Bomber und Trägerraketen auf 700.

Einen wichtigen Punkt ließ die US-Strategie jedoch außer Acht: Chinas raschen Ausbau seiner eigenen Atommacht.

Nukleare Ordnung im Umbruch

Inzwischen stehen die Chancen für eine Begrenzung des nuklearen Wettrüstens mit China durch ein Rüstungskontrollabkommen bei Null. Beijing hat sein Desinteresse an einer Vereinbarung mit den Vereinigten Staaten mehr als deutlich gemacht; ebenso unwahrscheinlich ist es, dass China seine nuklearen Ambitionen einschränken wird. China wird seine Erstschlagkapazität weiter ausbauen und auch versuchen, die Kontrolle über seine Küstengewässer auszudehnen, etwa indem es Schutzzonen für seine Atom-U-Boote einrichtet, die sie vor US-amerikanischen Angriffen schützen.

Inzwischen stehen die Chancen für eine Begrenzung des nuklearen Wettrüstens mit China durch ein Kontrollabkommen bei Null.

Auch die Rüstungskontrollen mit Russland liegen auf Eis. Moskau hat seine Teilnahme am New-START-Vertrag ausgesetzt und wird, solange der Krieg in der Ukraine anhält, kaum jene Inspektionen zulassen, die zur vollständigen Einhaltung des Abkommens notwendig sind. Aufgrund der erheblichen Schwächung seiner konventionellen Streitkräfte wird sich Russland zunehmend auf strategische Abschreckung verlassen. In dem unwahrscheinlichen Fall, dass die russische Regierung zusammenbricht, könnte die Nation in sieben oder mehr Einheiten zerfallen, von denen vielleicht drei zu unabhängigen, nuklear bewaffneten Staaten werden könnten.

Patty-Jane Geller, Nuklearwaffenexpertin bei der Heritage Foundation, ist der Ansicht, dass die USA im Zuge der Aufrüstung Chinas „eine Atomstreitkraft brauchen, die China glaubhaft davon überzeugt, dass die Kosten eines Einsatzes von Atomwaffen die Vorteile übersteigen würden“. Daraus könnte dann ein steigender parteiübergreifender Druck resultieren, „die Beschaffungspläne für die bereits laufenden nuklearen Modernisierungsprogramme zu intensivieren, unter anderem für die Sentinel-Rakete, den U-Boot-Typ Columbia und den B-21-Bomber“, argumentiert Geller. Außerdem würde die Entwicklung und der Einsatz von U-Boot-gestützten Marschflugkörpern beschleunigt werden.

Neue Rekruten beim Militärtraining in Ostchina, 2022
Ostchina, 2022: Neue Rekruten beim Militärtraining in Zaozhuang. © Getty Images

Das Wettrüsten hat begonnen. Die Frage ist, ob die Konkurrenten die Doktrin der „gesicherten gegenseitigen Zerstörung“ wieder einführen oder sich für eine Kombination aus Angriff und Verteidigung entscheiden – eine Haltung also, die eine gesicherte Zweitschlagkapazität und eine robustere Raketenabwehr zur Abschreckung vorsieht und die Fähigkeit, einen nuklearen Angriff zu überleben und zu begrenzen, demonstriert.

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Conclusio

Jahrzehntelang standen zwei Mächte stellvertretend für die globale nukleare Ordnung: die Vereinigten Staaten von Amerika und Russland. Inzwischen gehört diese bipolare Weltordnung, ein Erbe des Kalten Krieges, der Vergangenheit an – und China mausert sich mit zunehmendem Tempo zur konkurrierenden Atommacht. Schon in wenigen Jahren könnte das Reich der Mitte mit den USA bei der Anzahl atomarer Sprengköpfe gleichziehen. Anders als zwischen Russland und den USA existieren mit China aber keine Kontrollverträge, die seinem Waffenarsenal quantitative Grenzen setzen. Das Versäumnis der USA, einen solchen Vertrag schon früh zu forcieren, stellt die nukleare Ordnung vor eine noch ungewissere Zukunft, als ohnehin schon – und hat eine neue Phase des globalen nuklearen Wettrüstens eingeläutet.

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