Europa gegen China – in Russland?

Die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen stehen auf einem historischen Tiefpunkt. Doch Russlands Entzauberung mit Europa bedeutet nicht, dass es den Schulterschluss mit China sucht.

Statue von Peter dem Großen in Moskau
Russlands Hinwendung zu Europa begann mit Peter dem Großen, der Sankt Petersburg als „Fenster nach Europa“ bauen ließ. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Vorbild Westen. Nicht nur Gorbatschow verfolgte einst eine pro-europäische Linie für Russland. Auch Putin war zunächst Befürworter dieser Haltung.
  • Schrittweise Entfremdung. Im Laufe der 2000er-Jahre verlor der Westen jedoch an Anziehungskraft – sowohl für den Kreml als auch in Russlands Bevölkerung.
  • Anti-westlich = pro-asiatisch? So einfach ist es nicht. Russlands Position ist zwischen dem europäischen und asiatischen Kulturraum anzusiedeln.
  • Blick nach Norden. Europa verpasst zunehmend Chancen auf eine Zusammenarbeit mit Russland: zuerst in Sibirien, nun in der Arktis.

Anlässlich seines ersten Besuchs in China seit Beginn der Pandemie erklärte der russische Außenminister Sergej Lawrow Ende März 2021 in Peking, dass Moskaus Beziehungen zu Brüssel praktisch nicht existent seien. Währenddessen hätten Beziehungen zu einzelnen EU-Mitgliedsstaaten weiterhin Bestand. Auf der anderen Seite lobte Lawrow die ausgezeichneten Beziehungen Russlands zu China. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell ließ derweil in Brüssel verlauten, Russland sei auf Konfrontationskurs mit der EU. Diese Aussage prägt nun die Strategie der EU gegenüber Russland.

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Politische Enttäuschung

Ursprünglich hatte Russland ganz andere Pläne gehabt. 1989 präsentierte Michail Gorbatschow in einer Rede vor dem Europarat seine Vision eines gesamteuropäischen Hauses. Nach dem Ende des Kalten Krieges keimte die Hoffnung auf eine gemeinsame Sicherheitszone von Vancouver bis Wladiwostok auf. 1994 unterzeichneten die Russische Föderation und die Europäische Union ein Partnerschafts- und Kooperationsabkommen; zehn Jahre später wurde eine Kooperation im Rahmen der sogenannten vier gemeinsamen Räume vereinbart.

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Zahlen & Fakten

Beim EU-Russland Gipfel 2003 in Rom wurden vier Gemeinsame Räume der Zusammenarbeit geschaffen:

  • der Raum der Wirtschaft,
  • der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts,
  • der Raum für äußere Sicherheit und
  • der Raum der Forschung, Bildung und Kultur.

Als materielles Bindeglied zwischen beiden Seiten schlug der Kreml Kreuzbeteiligungen vor: Russland würde die EU mit Rohstoffen versorgen und im Gegenzug von der EU Erzeugnisse der verarbeitenden Industrie beziehen. Noch 2010 plädierte Wladimir Putin für eine harmonische Wirtschaftsgemeinschaft von Lissabon bis Wladiwostok.

Der Versuch Russlands, sich in die Europäische Union zu integrieren, endete jedoch mit der Ukraine-Krise im Jahr 2014. Die Dynamik wandte sich ins Gegenteil, als Russland – anstatt sich weiter zu Europa zu bekennen, wie es Präsident Putin noch während seiner Bundestagsrede 2001 getan hatte – begann, seine distinkte Identität gegenüber dem Westen zu betonen. Dies war nicht nur eine geopolitische Entscheidung des Kremls, sondern auch das Ergebnis eines Wandels der russischen öffentlichen Meinung. Laut einer Umfrage des russischen Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum betrachteten 2008 noch 52 Prozent der befragten Russen ihr Land als europäisch; 2021 lag diese Zahl bei nur noch 29 Prozent. Besonders auffällig ist, dass der Anteil derjenigen, die Russland und auch sich selbst als nichteuropäisch betrachten, in der Altersgruppe von 18–24 Jahren mit 74 Prozent höher ist als in der Altersgruppe ab 55 Jahren (64 Prozent).

Diese deutliche Distanzierung von Europa und dem Westen ist nicht gleichzusetzen mit einer Umorientierung Russlands in Richtung Asien oder China, noch ist sie allein dem offiziellen Narrativ zulasten zu legen. Die junge Bevölkerung Russlands sieht nicht regelmäßig fern; sie gilt auch für andere Formen der Staatspropaganda als weniger empfänglich. Auch macht der öffentliche Meinungsumschwung weg vom Westen die Russen nicht zu Asiaten. Was wir stattdessen beobachten, ist die Ausbildung einer post-imperialen russischen Identität, die auf selbstbestimmte Art und Weise die geopolitische Realität widerspiegelt: Russland unterscheidet sich nun einmal politisch und gesellschaftlich deutlich von Europa. Diese Abgrenzung ist nicht mit grundsätzlicher Feindseligkeit zu verwechseln. In vielerlei Hinsicht hat Europa in Russland immer noch einen hohen Stellenwert (umgekehrt ist dies leider nicht der Fall, was auch den Russen bewusst ist).

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Zahlen & Fakten

Made in Germany vs. Made in China

Analog zu den geopolitischen Entwicklungen ist auch die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen Russland und Europa rückläufig. 2012 wurden im Handelsaustausch zwischen der EU und Russland 410 Milliarden Euro erwirtschaftet; bis 2020 sank diese Summe auf 219 Milliarden. Der Hauptgrund für den starken Rückgang waren weder die Covid-19-Pandemie noch die jahrzehntelange Stagnation und das bestenfalls schleppende Wachstum der russischen Wirtschaft. Seit 2014 verhängten die EU und die USA aufgrund der Ereignisse auf der Krim und in der Donbass-Region zahlreiche Sanktionspakete gegen Russland, auf die Russland mit Einfuhrverboten von Lebensmitteln aus EU-Ländern und verschärften Importsubstitutionen reagierte. Europas Bestreben, sich von russischen Energieimporten zu lösen, wuchs mit dem Ziel, die eigene Energiesicherheit in Zeiten geopolitischer Spannungen zu gewährleisten; parallel dazu sank auch das europäische Interesse an russischen Rohstoffen wie Kohlenwasserstoffen, die mit den Klimazielen der EU nicht konform gehen.

Die Distanzierung Russlands von Europa ist nicht gleichzusetzen mit einer Orientierung in Richtung Asien.

In der Zwischenzeit hat sich China als wichtigster Handelspartner Russlands etabliert und den langjährigen Spitzenreiter Deutschland abgelöst. Chinas Anteil am russischen Außenhandel stieg von 10,5 Prozent im Jahr 2013 auf 18,3 Prozent im Jahr 2020. Zwar liegt diese Zahl deutlich unter dem aktuellen Gesamtanteil der EU (38,5 Prozent), doch was China in den letzten sieben Jahren aufgeholt hat, entspricht in etwa dem Anteil, den Europa verloren hat (2013 betrug der EU-Anteil 49,4 Prozent). Bemerkenswerterweise ist China zudem zum wichtigsten Technologieexporteur nach Russland avanciert und hat Deutschland auch diese Spitzenposition abgerungen. Und auch der zügige Bau der Gaspipeline „Kraft Sibiriens“ steht in deutlichem Kontrast zur misslichen Lage von Nord Stream 2: Die Pipeline, die 2019 in Betrieb genommen wurde, ist Teil eines milliardenschweren Erdgas-Liefervertrags von 2014, gemäß dem Russland 30 Jahre lang Erdgas nach China liefern wird – ein ähnlich bedeutender Durchbruch wie einst die Abkommen der Sowjetunion mit westeuropäischen Ländern in den 1970er-Jahren.

Frage der Souveränität

Russlands wirtschaftliche Abhängigkeit von China ist enorm – doch der Gedanke, dass Europa mit China um Einfluss in Russland konkurriert, ist falsch. Russland flüchtet sich nicht vor Europa in den ostasiatischen Kulturraum. Vorrangiges Ziel ist die Stärkung der eigenen Souveränität im wirtschaftlichen, technologischen und finanziellen Sektor, wo erhebliche Mängel bestehen. Infolge der US-Forderungen einzuknicken, kommt für den Kreml und den Großteil der russischen Bevölkerung nicht infrage, da dies zum Verlust eben jener Souveränität führen und innenpolitische Unruhen provozieren würde. Gleichzeitig hat Russland aber auch erkannt, dass Europa in den Beziehungen zu Moskau der Strategielinie der US-Politik folgt – und dass die meisten aufstrebenden Schwellenländer mit Ausnahme Chinas im geopolitischen Lager der USA zu verorten sind.

Der Gedanke, dass Europa mit China um Einfluss in Russland konkurriert, ist falsch.

Im Wesentlichen ist Russland auf China und bestimmte Golfstaaten angewiesen, um die eigenen Ressourcen aufzustocken. In Zukunft wird Moskau die Interessen Chinas daher stärker berücksichtigen müssen, wenngleich die wichtigsten außenpolitischen Prioritäten des Kremls davon noch nicht beeinflusst werden. Da das einst große Vertrauen in die Macht der europäischen Geschäftsinteressen aber weitgehend geschwunden ist, sind die Zukunftsaussichten für eine Renaissance des „gemeinsamen europäischen Hauses“ düster: Während die Sanktionen eine Zusammenarbeit im Bereich technologisch komplexerer Projekte behindern, werden weniger kritische Formen der Zusammenarbeit – wie zum Beispiel Investitionen des deutschen Mittelstands – von der Furcht ausgebremst, eine Kooperation mit Russland sei angesichts der anhaltenden Konfrontation zwischen dem Westen und Russland zu riskant.

Spielfeld Arktis

Es besteht kein Zweifel, dass sowohl Russland als auch Europa von besseren bilateralen Beziehungen profitieren würden. Der politische Konflikt, der beide Parteien entzweit und sinnbildlich durch die Ukraine dargestellt wird, wird sich aber in absehbarer Zeit nicht lösen lassen. Zwar könnte der Kampf gegen den Klimawandel in der Arktis zum gemeinsamen Nenner werden – doch selbst hier liegen russische und europäische Interessen weit auseinander. Die russische Arktis erstreckt sich auf einer Fläche von etwa 5 Millionen Quadratkilometern über den größten Teil Sibiriens; derzeit plant der russische Ölkonzern Rosneft im Rahmen des Megaprojekts „Vostok Oil“, 100 Millionen Tonnen Erdöl pro Jahr in Nordsibirien zu fördern. Das entspricht einem Fünftel der heutigen jährlichen Ölproduktion Russlands - und steht im klaren Widerspruch zu den erklärten Zielen der EU-Arktispolitik, die Aspekte wie Umweltschutz und eine nachhaltige Entwicklung der Region in den Mittelpunkt stellen.

Arbeiter bei der Konstruktion der Power of Siberia Pipeline
Die „Kraft Sibiriens“-Pipeline verläuft über 3000 Kilometer vom kältesten Teil Sibiriens bis an die chinesische Grenze. © Getty Images

Unter Trump wurde auch das geopolitische Interesse an der Arktisregion neu entfacht. Die territoriale Konkurrenz zwischen Russland, China und den USA wächst sowohl in kommerzieller als auch in militärischer Hinsicht: Bereits 2013 wurde China als „Fast-Arktisstaat“ mit legitimen Interessen in der Region als Beobachter im Arktischen Rat zugelassen. Der Arktische Rat ist das führende zwischenstaatliche Forum der Region und setzt sich aus den Mitgliedsstaaten Dänemark, Finnland, Island, Kanada, Norwegen, Russland, Schweden und USA zusammen. Die EU hat sich nie um eine Mitgliedschaft beworben. Insofern sie aber ihre Klimapolitik weiterverfolgen und eine friedliche internationale Zusammenarbeit in der Arktis bewerkstelligen will, so muss sie ihren Dialog mit allen beteiligten Akteuren intensivieren. Dazu gehört auch Russland, das im Mai 2021 für zwei Jahre den Ratsvorsitz übernahm.

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Conclusio

Derzeit ist kein Ende der Entfremdung zwischen Europa und Russland absehbar. Die Situation könnte sich erst dann ändern, wenn Russland sein beträchtliches Ressourcenpotenzial voll ausschöpft und ein geeignetes Modell für die nationale Entwicklung findet. Wünschenswert wäre ein Verhältnis, das auf nachbarschaftlichem Verhalten beruht und beidseitige Planbarkeit, Respekt vor den Werten des anderen sowie Zusammenarbeit in grenzüberschreitenden Fragen beinhaltet. Um das zu bewerkstelligen, muss aber zunächst das verloren gegangene Vertrauen zurückgewonnen werden. Solange Russland von einer weitgehend eigennützigen und unverantwortlichen Elite mehr schlecht als recht regiert wird, dürfte dieses Vorhaben kaum vollständig gelingen – eine Annäherung in den nächsten 10 bis 20 Jahren wäre aber durchaus denkbar. Am Ende wird Russland weder der östliche Teil des Westens sein, wie es sich einige Europäer wünschen, noch der westliche Teil des Ostens, wie andere es befürchten. Russland wird einfach Russland sein – ein Land zwischen China und Europa, das ein stabiles Gleichgewicht zwischen beiden Nachbarn sucht.