Vom Taliban-Bollwerk zum Failed State?

In Tadschikistan bahnt sich ein größeres Problem an: China sieht seine Interessen in Zentralasien durch die Rückkehr der Taliban massiv bedroht und interveniert. Mit potenziell dramatischen Folgen.

Gegen die Taliban: Chinesische Grenzpatrouille  in Tadschikistan auf Yaks.
Im tadschikischen Grenzgebiet patrouillieren chinesische Soldaten nicht hoch zu Ross, sondern hoch zu Yak. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Machtvakuum. Der Rückzug der USA aus Afghanistan und die Machtübernahme der Taliban haben das Kräfteverhältnis in Zentralasien grundlegend verändert.
  • Interessenlagen. China und Russland teilen die Sorge um Dschihadisten an ihren Grenzen. Peking fürchtet wirtschaftliche Einbußen, Russland die Destabilisierung.
  • Brennpunkt. Tadschikistan spielt eine zentrale Rolle im Kampf gegen die Taliban – nicht nur geopolitisch. Ein Viertel der Bevölkerung in Afghanistan sind Tadschiken.
  • Balance. Noch versucht China, sich die Kooperation der Taliban zu erkaufen. Scheitert das, so droht ein Kräftemessen über nationale Grenzen hinaus.

Der chaotische Rückzug der USA aus Afghanistan wirft Schatten weit über Joe Bidens Präsidentschaft hinaus. In gewisser Weise war es nachvollziehbar, dass Russlands und Chinas politische Eliten mit Häme auf die Demütigung der amerikanischen Supermacht reagierten – doch das Lachen könnte ihnen bald vergehen, stellt die Lage in Zentralasien sie doch vor ebenso große Herausforderungen wie die USA.

Die Chinesen haben es mit einem unwägbare Feind zu tun: Es besteht große Unsicherheit, ob sich die Taliban tatsächlich vom Islamischen Staat (IS) distanziert haben, und ob sie unabhängig von ihren mutmaßlichen Beschützern im pakistanischen Geheimdienst agieren können. Dabei geht es vor allem auch darum, ob die Taliban-Bewegung selbst einheitlich genug ist, um interne Machtkämpfe zu vermeiden.

Projekt Seidenstraße in Gefahr

China steht in dieser Hinsicht vor einer besonders großen Herausforderung: Während Russland unter Präsident Putin wenig strategische Ziele erahnen lässt, die über seinen persönlichen Machterhalt hinausgehen, verfolgt Peking nicht nur eine Reihe von konkreten Zielen, sondern stellt dafür auch reichlich Mittel zur Verfügung. Die Übernahme Afghanistans durch die Taliban droht vielen dieser Pläne einen Strich durch die Rechnung zu machen.

China hat zwei zentrale Prioritäten für Zentralasien, die nun beide gefährdet sind: Zum einen will es verhindern, dass sich der dschihadistische Einfluss in seiner westlichsten Provinz Xinjiang ausbreitet. Die Regierung ist mit allen Mitteln gegen die dortige muslimische Minderheit der Uiguren vorgegangen – unter dem Vorwand, einer vermeintlichen Radikalisierung entgegenzuwirken. Chinas Beziehungen zum Westen haben sich in der Folge ebenso verschlechtert wie jene zu wichtigen muslimischen Nachbarländern wie etwa Kasachstan und Kirgisistan.

Männer vor Moschee in Samarkand
Zentralasien ist überwiegend muslimisch geprägt. Hier zu sehen: Samarkand in Usbekistan. © Getty Images

Nun befürchtet China, dass die Taliban aufständischen Gruppen wie der Islamischen Bewegung Ostturkestan (ETIM), die Xinjiang erobern will, einen Unterschlupf bieten werden. Bei einem Treffen mit Taliban-Mitbegründer Mullah Abdul Ghani Baradar Ende Juli 2021 äußerte der chinesische Außenminister Wang Yi die Hoffnung, dass die Taliban-Bewegung einen klaren Bruch mit allen terroristischen Organisationen, einschließlich der ETIM, vollziehen werde. Die Antwort der Taliban war das routinemäßige Versprechen, keiner Organisation zu erlauben, von ihrem Territorium aus die Nachbarn Afghanistans zu bedrohen. Viele bezweifeln jedoch die Aufrichtigkeit solcher Erklärungen.

Eine weitere Priorität Pekings ist die Umsetzung der Seidenstaßeninitiative (Belt and Road Initiative, BRI). China hat sich diesen Wirtschaftskorridor von Kaschgar in Xinjiang über Islamabad in Pakistan und weiter zum Hafen von Gwadar am Arabischen Meer viel Geld kosten lassen, um sich einen Zugang zum Indischen Ozean und damit zu den westlichen Märkten zu sichern. Zudem hofft Peking auf die Entwicklung einer weiteren BRI-Route durch Usbekistan und Afghanistan. Die usbekische Regierung setzt darauf, mit den Taliban zusammen ein Netzwerk aus Pipelines und Eisenbahnen durch Afghanistan aufzubauen. Diese sollen von Mazar-i-Sharif über Kabul und weiter nach Pakistan reichen. Islamabad hat ebenso wie Peking Sicherheitsgarantien von den Taliban erhalten.

Warum ausgerechnet Tadschikistan?

Tadschikistan spielt in diesem Szenario eine entscheidende Rolle. Zur Erinnerung: Es ist eine kleine, gebirgige Republik, die im Norden an Usbekistan und Kirgisistan, im Osten an China und im Süden an Afghanistan grenzt. Peking will mit Tadschikistan die sicherheitspolitische Zusammenarbeit verstärken. Man hat gute Gründe dafür.

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Zahlen & Fakten

Einer davon ist die 1.357 Kilometer lange Grenze zwischen Tadschikistan und Afghanistan. Sie schlängelt sich durch abgelegenes, gebirgiges Gelände, in dem die Grenzschützer seit langem einen aussichtslosen Kampf gegen den Drogenhandel führen. Sowohl Russland als auch China befürchten, dass die Machtübernahme der Taliban zu Flüchtlingswellen führen könnte, die es Terroristen und Dschihadisten ermöglichen, Tadschikistan zu infiltrieren und von dort aus zu operieren.

Bollwerk gegen die Taliban

Apropos Taliban: Mit rund 42 Prozent der Gesamtbevölkerung sind die Paschtunen die größte ethnische Gruppe in Afghanistan. Die tadschikische Minderheit macht jedoch mehr als ein Viertel der Einwohner des Landes aus. Während die Paschtunen im Süden dominieren, beherrschen die Tadschiken den Norden und sind auch in der Hauptstadt Kabul einflussreich. Sollte die Taliban-Herrschaft zusammenbrechen und Afghanistan erneut in konfessionelle Gewalt abgleiten, wird der nördliche Teil des Landes in tadschikischer Hand sein.

Tadschiken und Paschtunen haben eine lange Geschichte der Feindschaft. Als die Taliban von 1996 bis 2001 an der Macht waren, blieb der Norden unter der Kontrolle der Nordallianz. Ihr Anführer, Ahmad Shah Massoud, der zwei Tage vor 9/11 von Al Qaida-Mitgliedern ermordet wurde, war Tadschike. Sein Erbe ist heute sehr lebendig – und zwar in der Person seines Sohnes Ahmad Massoud, der im vergangenen Jahr die Schlacht um das Panjshir-Tal anführte. Die Region galt als letzte große Hochburg gegen die Taliban. Nachdem auch sie Anfang September eingenommen wurde, floh Massoud Berichten zufolge nach Tadschikistan.

Afghanische Männer vor Wandgemälde von Ahmad Massoud
Für viele Afghanen ist Ahmad Massoud ein Volksheld. Der Widerstandskämpfer gegen die Taliban war Tadschike. © Getty Images

Die Regierung in Tadschikistan ist sehr darauf bedacht, den Paschtunen nicht die vollständige Kontrolle über Afghanistan zu überlassen. Während eines Treffens am 25. August 2021 in Duschanbe erklärte der tadschikische Präsident Emomali Rahmon dem pakistanischen Außenminister Shah Mahmood Qureshi, dass sein Land keine Regierung anerkennen werde, die „durch Demütigung und Missachtung der Interessen des gesamten afghanischen Volkes, einschließlich der Interessen ethnischer Minderheiten wie Tadschiken, Usbeken und anderer, zustande gekommen ist.“

Geopolitischer Stresstest

Und es gibt noch etwas, was China ernsthafte Sorgen bereitet. Tadschikistan stellt geopolitisch die chinesisch-russische Partnerschaft auf die Probe. Im allgemeinen Ringen um Einfluss in Zentralasien haben sich Russland und China seit langem auf eine Rollenteilung geeinigt, bei der Moskau Sicherheitsfragen und Peking die wirtschaftliche Entwicklung der Region übernimmt. Der größte russische Militärstützpunkt außerhalb Russlands liegt in Duschanbe, im Westen Tadschikistans. Aber: In der östlichen Region Gorno-Badachschan hat Peking die Sicherheitsfragen bereits selbst in die Hand genommen. Die Region grenzt sowohl an China als auch an Afghanistan.

Tadschikistan stellt die chinesisch-russische Partnerschaft auf die Probe.

China beschränkt seine Sicherheitskooperation nicht nur auf die Ausrüstung und Ausbildung der tadschikischen Grenzmannschaften. Im Jahr 2016 errichtete Peking einen Militärstützpunkt und brach mit seiner bisherigen Praxis, keine Außenposten in einem fremden Land zu errichten. Seit nunmehr fast sechs Jahren ist eine bewaffnete Volkspolizeitruppe in Schaymak stationiert, einem Ort, an dem die Grenzen von China, Tadschikistan und Afghanistan aufeinandertreffen. Und dann war Peking auch noch federführend bei der Einrichtung des Quadrilateralen Kooperations- und Koordinationsmechanismus, einer Vereinbarung, bei der hochrangige Militärs aus China, Afghanistan, Pakistan und Tadschikistan zusammenkommen.

Die Hauptsorge der Chinesen gilt dem Wakhan-Korridor, einem schmalen Landstreifen Afghanistans, der zwischen Pakistan und Tadschikistan eingezwängt liegt und an der Grenze zwischen China und Afghanistan endet. Obwohl die chinesisch-afghanische Grenze nur etwa 76 Kilometer lang ist, befürchtet Peking, dass Dschihadisten die viel längere Grenze zwischen Wakhan und Tadschikistan nutzen könnten, um nach Afghanistan zu gelangen. Um dies zu verhindern, hat China in der Vergangenheit gemeinsame Patrouillen mit tadschikischen und afghanischen Streitkräften durchgeführt. Seitdem die Taliban die Kontrolle über Afghanistan übernommen haben, ist das nicht mehr möglich.

Geld als Anreiz

Die zukünftigen Entwicklungen hängen davon ab, ob sich ausländische Mächte die Kooperation der Taliban erkaufen können. Am 9. September kündigte China ein erstes Soforthilfepaket für Afghanistan in der Höhe von 31 Milliarden Dollar an. Die Anreize gehen weit über Nahrungsmittel, medizinische Hilfe und Unterstützung beim Wiederaufbau hinaus. Das eigentliche Ziel Chinas ist ein massiver Ausbau der Infrastruktur, der nicht nur Pipelines und Eisenbahnen, sondern auch die Strom- und Wasserversorgung umfasst.

Die zukünftigen Entwicklungen hängen davon ab, ob China die Kooperation der Taliban erkaufen kann.

Wenn sich die Taliban als unwillig oder unfähig erweisen, die Sicherheit solcher Projekte zu garantieren, wird sich China auf Pakistan konzentrieren. Auch dort geht es um den Schutz von Investitionen, denn die pakistanischen Taliban haben bereits angekündigt, chinesische Projekte angreifen zu wollen. Es bleibt jedoch fraglich, ob Peking Islamabad davon überzeugen kann, seine Unterstützung für die Taliban zurückzufahren – oder ob der Einfluss der pakistanischen Regierung in den Stammesgebieten wirklich groß genug ist, um Taliban-Aktivitäten Einhalt zu gebieten.

Der Kern des Problems ist die Vielfalt der Taliban-Bewegung. Bei Verhandlungen ist es schwer zu wissen, mit welcher Fraktion man gerade spricht, welche Interessen diese verfolgt und welche Verbindungen sie zum Islamischen Staat oder auch zu Al Qaida unterhält.

Stabilisieren statt eskalieren

Verschiedene Szenarien zeichnen sich ab:

  • So gut wie sicher ist, dass China seine Strategie, im Ausland lokale Kräfte für seine Interessen zu gewinnen, fortsetzen wird. Es könnte diesen Ansatz durch eine engere Zusammenarbeit mit Tadschikistan verstärken und vielleicht sogar auf private Sicherheitsfirmen zurückgreifen, nach dem Vorbild der Academi in den USA oder der Wagner-Gruppe in Russland. Bei zu großer Instabilität wird aber auch dieser Ansatz zu kurz greifen.
  • Es mag verlockend sein, darüber zu spekulieren – wie es einige einflussreiche amerikanische Politiker bereits tun –, dass die USA eines Tages gezwungen sein werden, nach Afghanistan zurückzukehren. Dieses Comeback könnte mit einer Wiederbelebung der Nordallianz und einer Unterstützung durch Tadschikistan und China einhergehen. Die Wahrscheinlichkeit dieses Szenarios ist jedoch äußerst gering, und das nicht nur, weil die Taliban mit dem raschen Abzug der USA in Besitz von amerikanischer Militärausrüstung im Wert von etwa 85 Milliarden Dollar gelangten.
  • Eine ebenso wichtige Frage ist, ob die afghanischen Tadschiken der Regierung in Tadschikistan gegenüber loyal sein würden. Obwohl die Mehrheit die Taliban vehement ablehnt, haben sich auch viele Tadschiken der Bewegung angeschlossen. Die Taliban ihrerseits haben möglicherweise Verbindungen zu Radikalen in Tadschikistan, die ein eigenes Emirat gründen wollen.

Am wahrscheinlichsten ist, dass die Großmächte mit einem komplexen, vielschichtigen Konflikt konfrontiert sein werden, in dem jede Seite gegen die andere ausgespielt werden kann. Die Unterscheidung von Freund und Feind wird dabei zur Herausforderung. Vor diesem Hintergrund könnte Pakistan sich auch die Frage stellen, ob es wirklich lohnt, noch eine schützende Hand über die Taliban zu halten.

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Conclusio

Zentralasien ist für Russland und China von entscheidender strategischer Bedeutung, wobei China die größten wirtschaftlichen Interessen und daher am meisten zu verlieren hat, sollte Tadschikistan nicht länger als Bollwerk gegen die Taliban funktionieren. China versucht mit Druck, militärischer Präsenz und Geld, den Einfluss der Taliban und anderer Dschihadisten in der Region hintan zu halten, um das Projekt Seidenstraße nicht zu gefährden. Sollte das misslingen und China zudem in Konfrontation mit Russland geraten, droht Tadschikistan das Schicksal eines „failed state“. Sowohl Russland als auch China müssen es darauf anlegen, schwelende Konflikte nicht eskalieren zu lassen.