Zehn Lehren aus der Pandemie

Sind wir für die nächste Pandemie vorbereitet? Nur, wenn wir die richtigen Lehren aus der Corona-Pandemie ziehen. Eine Zwischenbilanz.

Frau mit Maske sitzt in einem Bus
Masken sind Teil unseres Alltags geworden. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Die Pandemie trifft uns alle. Deshalb müssen wir Schritte ergreifen, um die nächste Pandemie zu verhindern.
  • Niemand hat alles richtig gemacht. Aber genau darum brauchen wir verlässliche Daten, die uns mehr über die Nebenwirkungen der Pandemie sagen.
  • Wir brauchen klar verständliche Ziele. Diese Ziele müssen spezifisch, klar definiert und mit einem konkreten Zeithorizont versehen sein.
  • Irgendwann geht jede Pandemie zu Ende. Wir wissen noch nicht, wann es so weit sein wird – aber die Impfstoffe stimmen optimistisch.

Die Lebensweisheit „hinterher sind immer alle klüger“ gilt auch für diese Pandemie. Denn nur wenn hinterher wirklich alle klüger sind und somit etwas gelernt haben, können wir zukünftige ähnliche Herausforderungen besser bewältigen, uns auf die nächste Pandemie vorbereiten. Deshalb ist es so wichtig zurückzuschauen, kritische Fragen zu stellen, Entscheidungen zu evaluieren, vergangene Geschehnisse besser zu verstehen. Schauen wir also einmal kurz zurück auf die wesentlichen „Lessons Learned“ der letzten Monate aus gesundheitswissenschaftlicher Sicht.

1. Eine Pandemie ist immer ein globales Ereignis.

Deshalb braucht es eine globale Analyse der Ursachen, aber auch der Folgen von Pandemien. Es braucht aber auch eine starke und unabhängige Weltgesundheitsorganisation (WHO), die globale Ziele und Strategien vorgibt. Bevölkerungen mit einem hohen Anteil von älteren Menschen wie in Europa, brauchen eine vollkommen andere Strategie, um gut durch diese und zukünftige Pandemie zu kommen, als vergleichsweise jüngere Bevölkerungen wie in Afrika. Für diesen Kontinent hat das Imperial College in London Anfang April 2020 Millionen von Covid-19 Tote prognostiziert. Als Reaktion auf diese Empfehlungen gingen viele afrikanische Länder in einen Lockdown. Die Folgen waren und sind verheerend. Hundertausende Menschen, darunter viele Kinder, werden aufgrund der Maßnahmen zur Eindämmung zusätzlich an Malaria, Tuberkulose und AIDS versterben, oder verhungern. (Mit Stand Ende August wurden in Afrika offiziell rund 195.000 Covid-Tote verzeichnet, in Europa 1,17 Millionen.)

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Gerade weil Pandemien für Bevölkerungen und Individuen unterschiedlich bedrohlich sind, muss die WHO in Zukunft noch stärker auf diese Gegensätze eingehen und ihre Empfehlungen entsprechend anpassen. Dazu gehören auch Strategien zur Vorbeugung zukünftiger Pandemien, die durch die Zerstörung von Ökosystemen begünstigt werden. Der Verlust von Biodiversität und die Zerstückelung von natürlichen Lebenswelten führt dazu, dass Säugetiere näher zusammenrücken, ein Wechsel von Viren von einem Wirt auf den anderen wahrscheinlicher wird. Die Bewahrung funktionstüchtiger Ökosysteme hat somit nicht nur existentielle Bedeutung für die Menschheit, sondern ist auch eine wirksame Maßnahme, um Pandemien zukünftig weniger wahrscheinlich zu machen.

Was in Zukunft deutlich besser gelingen muss, ist eine faire Verteilung der vorhandenen Impfstoffe. Afrikanische Länder haben 2021 im Vergleich zu Europa, den USA und anderen Ländern nur einen Bruchteil der Impfstoffe erhalten. Das sorgt nicht nur für viele unnötige Krankheits- und Todesfälle, sondern wird auch die Pandemie unnötig verlängern und zu weiteren Mutationen führen, die wiederum auch in reicheren Ländern zu Problemen führen können.

Wie gut Europa auf die nächste Pandemie vorbereitet ist, wird vor allem davon abhängen, ob es einen europäischen Pandemieplan gibt, der eine gemeinsame Vorgehensweise in Europa ermöglicht. Sowohl bei der Früherkennung, Eindämmung und Überwachung des Infektionsgeschehens als auch bei der Bekämpfung wirtschaftlicher und anderer Folgeschäden. In einer globalisierten Welt ist Europa nur gemeinsam stark.

2. Keine Gesellschaft kommt ohne Schaden durch eine Pandemie.

Egal für welche Strategie sich eine Gesellschaft entscheidet, jede hat ihre eigenen Risiken und Unabwägbarkeiten. Es gibt kein Land, das alles richtig, und keines, das alles falsch gemacht hat. Die direkten Auswirkungen einer Pandemie betreffen unsere Gesundheit, das Erkrankungs- und Sterbegeschehen. Die indirekten Auswirkungen betreffen unsere Psyche, unseren sozialen Zusammenhalt, unser Einkommen, die Bildung und vieles mehr. Alle diese indirekten Auswirkungen haben auch immer Auswirkungen auf unsere Gesundheit. In zukünftigen Pandemien muss viel mehr auf die Verhältnismäßigkeit geachtet werden.

Auf der einen Seite gibt es den Schaden durch die Unterversorgung bei anderen Erkrankungen. So gab es plötzlich in ganz Europa bis zu fünfzig Prozent weniger Herzinfarkte, weil sich viele Betroffene nicht zum Arzt getraut haben. Aber auch die Früherkennung und Behandlung von Krebserkrankungen war deutlich reduziert. Rehabilitationszentren und psychosoziale Versorgung hatten monatelang eingeschränkten Betrieb. Auf der anderen Seite haben auch alle Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie unerwünschte Nebenwirkungen. Arbeitslosigkeit erhöht nicht nur das Erkrankungs-, sondern verdoppelt das Sterberisiko. Psychosoziale Belastungen und deren Folgen, wie zum Beispiel Depressionen, Angststörungen, aber auch Beschwerden im Bereich des Bewegungsapparats, sind schon jetzt der wichtigste Grund für Frühpensionierung und Krankenstand.

Der Schaden durch Unter- und Fehlversorgung, psychosoziale Belastungen und andere Nebenwirkungen der Maßnahmen muss kleiner ausfallen, als der direkte Schaden durch das neue Coronavirus SARS-CoV-2. Um diese Verhältnismäßigkeit besser abschätzen zu können, braucht es dringend eine bessere Wissensbasis zu den gesundheitlichen, psychischen, sozialen und wirtschaftlichen Nebenwirkungen von Lockdowns, Reisewarnungen und Schulschließungen. Am besten gelingt dies durch sogenannte Gesundheitsfolgenabschätzungen.

3. Eine Pandemie trifft immer alle Menschen und alle Bereiche einer Gesellschaft.

SARS-CoV-2 bedroht vor allem hochbetagte und gebrechliche Menschen. Kinder und Jugendliche, aber auch gesunde Erwachsene erkranken relativ selten schwer. Indirekt betrifft die Pandemie aber alle Altersgruppen, ungeborene Kinder genauso wie sterbende Menschen. Während junge gesunde Menschen von SARS-CoV-2 in etwa gleich bedroht sind wie durch andere Erkältungsviren, steigt das Erkrankungs- und Sterberisiko bei über 65-Jährigen stark an. Gebrechlichkeit und Multimorbidität sind dabei die wichtigsten Risikofaktoren. Unklar ist noch immer wie viele Menschen von andauernden Krankheitsfolgen – Long Covid – betroffen sind.

Aber auch der Schutz von hochbetagten Menschen darf ethische Prinzipien nicht verletzen. Auch eine Pandemie rechtfertigt nicht, dass Menschen isoliert und einsam sterben. Das Recht auf Autonomie und Selbstbestimmung muss immer beachtet werden.

In den vergangenen Monaten wurden in vielen Ländern und Regionen die Strukturschwächen im Pflegebereich offengelegt. Einsparungen und Privatisierungen, aber auch ein permanenter Personalmangel, haben dazu geführt, dass dieser wichtige Bereich schlecht vorbereitet war. Über die Hälfte aller Sterbefälle in der Europäischen Union betrafen Bewohnerinnen und Bewohner von Alten- und Pflegeheimen. Inzwischen ist ein Großteil dieser Personen geimpft. Trotzdem werden auch im nächsten Winter wieder viele ältere Menschen an diversen Erkältungsviren erkranken und versterben. Auch an SARS-CoV-2.

Eine Pandemie betrifft aber auch die Wirtschaft, den Tourismus, den Bildungsbereich, genauso wie den Kulturbereich, den Sport, und vieles mehr. Deshalb ist es wichtig die Sichtweisen und Meinungen dieser Bereiche ebenfalls öffentlich zu diskutieren, in Entscheidungen miteinzubeziehen.

4. Eine Pandemie ist ein komplexes, vielschichtiges, sich ständig wandelndes Ereignis.

Deshalb muss eine Pandemie immer aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden. Sowohl wissenschaftlich, als auch gesellschaftlich. Eine rein virologisch-medizinische Betrachtung ist ein viel zu eindimensionaler Tunnelblick. Um ein pandemisches Geschehen zu verstehen, braucht es Investitionen in Begleit- und Versorgungsforschung. Um gut durch eine Pandemie zu steuern, braucht es ein gutes, öffentlich zugängliches Cockpit mit möglichst präzisen Daten und Informationen.

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5. In einer Pandemie braucht es präzise Ziele und Strategien.

Sowohl in Bezug auf das Erkrankungs- aber auch Sterbegeschehen, als auch für andere wichtige Bereiche der Gesellschaft. Diese Ziele müssen spezifisch, messbar und mit einem Zeithorizont versehen sein. Es braucht aber auch klare Strategien und wissensbasierte Maßnahmen.

Letztere betreffen vor allem die Eindämmung des Infektionsgeschehens. Da haben wir sicher viel gelernt. Wir haben heute einen aufmerksameren Umgang mit Infektionskrankheiten, im professionellen wie im privaten Bereich. Diese neue Achtsamkeit ist, neben der Vermeidung von Super-Spreader-Events und der schnellen Testung von Verdachtsfällen, eine wichtige Lektion für das Verhalten im Falle einer zukünftigen Pandemie.

Alle Ziele, Strategien und Maßnahmen müssen der Bevölkerung korrekt kommuniziert werden. Dies gilt zum Beispiel auch für das offizielle Dashboard, das uns allen ein vollkommen verzerrtes Bild des Infektionsgeschehens zeigt. Ein PCR-Test alleine genügt nicht für die Definition einer Erkrankung oder Todesursache. Dafür gibt es medizinisch-diagnostische Standards, die auch in einer Pandemie eingehalten werden müssen.

6. Eine Pandemie vergrößert immer die soziale und gesundheitliche Ungleichheit.

Eine Pandemie macht Reiche reicher und Arme ärmer. So konnten die 650 US-Milliardäre ihr Vermögen seit Beginn der Coronavirus-Pandemie um eine Billion US-Dollar steigern. Im Gegensatz dazu hat sich die Kinderarmut in vielen Ländern deutlich vergrößert. Ärmere Menschen sind sowohl direkt als auch indirekt stärker betroffen als reichere Menschen. Ärmere Menschen rauchen mehr, sind häufiger übergewichtig und öfter chronisch krank. Sie sind öfter von Arbeitslosigkeit bedroht, oder bereits arbeitslos. Auch Homeschooling und eingeschränkte Schulangebote erhöhen bestehende Bildungsungleichheiten. Diese Verwerfungen in einer Gesellschaft haben direkte Auswirkungen auf die soziale Sicherheit. Diese wiederum garantiert den sozialen Frieden. Solidarität ist wichtig in einer Pandemie. Die soziale Sicherheit und der soziale Frieden kann nur gemeinsam erhalten werden. In der Aufarbeitung dieser Pandemie sollte unbedingt die richtigen und wichtigen Schlüsse für eine gesamtgesellschaftliche Betrachtungsweise von zukünftigen Pandemien gezogen werden.

7. Jede Pandemie verführt zum Machtmissbrauch.

In jeder Pandemie werden Freiheitsrechte eingeschränkt, demokratische Grundprinzipien geschwächt, drakonische Maßnahmen verordnet, Bevölkerungsgruppen sozial ausgegrenzt. Umso wichtiger ist ein Parlament, ein Rechtsstaat, eine Exekutive, auf die sich die Gesellschaft verlassen kann. Verordnungen müssen rechtskonform sein, Amtshandlungen immer verhältnismäßig. Es braucht dringend eine Überarbeitung des aktuellen Pandemieplans auf Basis der jetzt gemachten Erfahrungen. Speziell aus Fehlern kann viel gelernt werden. Pandemiepläne müssen aber auch trainiert werden, um auf den Fall des Falles vorbereitet zu sein.

8. Jede Pandemie spaltet eine Gesellschaft.

Die Corona-Pandemie hat unsere Gesellschaften in vielen Bereichen gespalten und polarisiert. Diese Gräben ziehen sich durch Familien, Freundeskreise, Gemeinden, Firmen; werden sichtbar in den Medien und der Politik, aber auch der Wissenschaft. Diese Spaltung betrifft die Grundhaltung, wie das pandemische Geschehen insgesamt beurteilt wird. Während die Einen die ganze Aufregung und Maßnahmen für vollkommen übertrieben halten, gehen sie Anderen nicht weit genug. Die Meinungsunterschiede betreffen aber auch einzelne Aspekte wie zum Beispiel Maskenpflicht, Impfung, Schulschließungen oder Reisetätigkeit. Es ist aber auch ein Konflikt der Generationen und von Bevölkerungsgruppen, die unterschiedlich von der Pandemie betroffen sind – sei es aufgrund des Erkrankungsrisikos oder aufgrund von Arbeitsplatzverlust und wirtschaftlichen Einbußen.

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Für zukünftige Pandemien braucht es ein klares Kommunikationskonzept, das dieser Spaltung entgegengesteuert. Es braucht ein klares Bekenntnis zu einer offenen gesamtgesellschaftlichen Debatte. Es braucht ein klares Bekenntnis zu mehr Transparenz. Vor allem in Bezug auf mit öffentlichen Geldern erhobenen Daten, Publikationen und Studien. Gerade was das Vertrauen zwischen Bevölkerung, Behörden und Politik betrifft, könnte Österreich viel von skandinavischen Ländern lernen.

9. Jede Pandemie eröffnet Chancen.

Jede Pandemie hat auch positive Seiten, birgt auch Chancen, die genutzt und erkannt werden können. Vielen Menschen wurde in der Phase des Lockdowns erstmals bewusst, wie viel Lebensqualität mit einer verkehrsberuhigten, fast feinstaubfreien und entschleunigten Umwelt verbunden ist. Aber auch die Hilfsbereitschaft, das Engagement und die Kreativität von vielen Menschen war beeindruckend. Diesem Aspekt sollte viel mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden. Auch in Hinblick auf ähnliche Ereignisse in der Zukunft.

10. Jede Pandemie geht vorbei

Offiziell dann, wenn die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sie für beendet erklärt. Letztendlich immer dann, wenn ein ausreichender Anteil der Bevölkerung gegen den Erreger immun geworden ist. Entweder auf natürlichem Weg durch eine Infektion, oder mittels einer Impfung. Letztere steht seit Anfang 2021 zur Verfügung und in Europa sind in den meisten Ländern deutlich mehr als die Hälfte der Bevölkerung zweimal geimpft. Aber auch geimpfte Menschen können sich infizieren und das neue Coronavirus SARS-CoV-2 weitergeben. Das Entscheidende ist aber, dass geimpfte Personen deutlich seltener erkranken und deutlich seltener schwer erkranken. Die Impfungen haben auch unter Alltagsbedingungen eine sehr gute Wirkung. Hundertprozentigen Schutz bieten aber auch sie nicht. Wie lange die auf natürliche Weise oder durch eine Impfung erzeugte Immunität anhält und wie viele Menschen immun sein müssen, um eine ausreichende Immunität in der Bevölkerung zu erreichen, ist im Falle der aktuellen Pandemie nicht einfach zu beantworten.

Mit ziemlicher Sicherheit lässt sich aber sagen, dass ausreichend Impfstoff für alle impfwilligen Personen zur Verfügung steht. Der zunehmende Immunisierungsgrad in der Bevölkerung sollte eigentlich ausreichen, um ohne einschneidende Maßnahmen über den nächsten Winter zu kommen. Wobei die Corona-Pandemie immer für Überraschungen gut war und sich an kein Drehbuch zu halten scheint.

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Conclusio

Auch wenn die Pandemie noch nicht zu Ende ist: Wir können bereits erste Lektionen lernen. Manche davon könnten weitere Pandemien verhindern oder uns zumindest helfen, die nächste besser zu überstehen. Eine der wichtigsten Lektionen, vor allem um eine Spaltung der Gesellschaft zu verhindern: Es braucht eine klare und transparente Kommunikation mit der Öffentlichkeit, auch um das Vertrauen in Behörden und Politik aufrecht zu erhalten – und hier hat Österreich noch viel Verbesserungsbedarf.