Wie man (künstliche) Intelligenz vergrämt

Europa darf sich bei der Entwicklung und Anwendung von Künstlicher Intelligenz nicht erneut ins Abseits stellen.

Ein Mobiltelefon mit einem grübelnden Emoji. Das Bild soll die nachdenkliche Haltung von Deutschland gegenüber KI darstellen.
Bringt Risikoabwägung einen ins Hintertreffen? © Markus Winkler / unsplash

Seit der Jahrtausendwende sind ein Internetzugang gesetzlich garantiertes Menschenrecht und ein digitaler Identitätsausweis für alle Bürger obligatorisch. Alle Steuerangelegenheiten werden digital abgewickelt – was bei einer Flat Tax in Höhe von zwanzig Prozent weder besonders komplex noch besonders schmerzhaft sein dürfte. Seit 2005 wird digital gewählt. 99 Prozent aller behördlichen Dienstleistungen können digital abgewickelt werden, persönlich aufs Amt muss nur mehr, wer heiraten oder sich scheiden lassen will. 

Die Rede ist von Estland, mit rund 1,3 Millionen Einwohnern eines der kleinsten Länder Europas. Demgegenüber nutzten im größten Land des Kontinents im Jahr 2021 immer noch 43 Prozent der Unternehmen häufig oder sogar sehr häufig das Telefax. Nicht nur Unternehmen. Der Spiegel beschreibt, wie Krankenhäuser mitten in der Pandemie Corona-Patienten an die Gesundheitsämter meldeten: „Man druckt eine PDF-Datei mit dem entsprechenden Formular aus, trägt händisch den Namen des Patienten, Geburtsdatum, Symptome und weitere Angaben ein und schickt es per Fax an das örtliche Gesundheitsamt.«

Wer wem die Grenzen aufzeigt

Bei so viel Digitalkompetenz im industriellen Herzen Europas klingt die Schlagzeile von ORF online wie eine gefährliche Drohung: „EU will KI die Grenzen aufzeigen“, ist da zu lesen. Der Chatbot ChatGPT habe Künstliche Intelligenz (KI) und ihre Risiken in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt, heißt es in dem Text: „Brüssel will der Technologie deshalb Grenzen aufzeigen.“

Ich zweifle keine Sekunde daran, dass das ein voller Erfolg wird. Wir sind wirklich gut darin, einer Technologie die Grenzen aufzuzeigen. Andere sind freilich besser darin, unseren Unternehmen deren Grenzen aufzuzeigen. 

Seit 2007 erleben wir einen Nokia-Moment nach dem anderen. Damals sagte Firmensprecher Kari Tuuti zu Der Spiegel: „Das iPhone ist ein ernstzunehmendes Konkurrenzprodukt. Aber ich bin mir sicher, dass wir der Marktführer bleiben. Im Bereich der Multimedia-Handys … [beträgt] unser Marktanteil 50 Prozent, wir sind also unangefochten die Nummer eins.“ 

Das Match Nokia gegen iPhone ist bekanntlich genauso ausgegangen wie das von StudiVZ gegen Facebook. Überraschenderweise hat sogar das „Kaufhaus Österreich“ gegen Amazon den Kürzeren gezogen. Wenigstens haben wir Uber in die Knie gezwungen und dürfen uns wieder von Taxifahrern durch Wien kutschieren lassen, die entweder keine Kreditkarten akzeptieren oder kein Wechselgeld haben oder beides. Letzteres ist übrigens keine Übertreibung, sondern ein Erlebnisbericht. 

Der Nokia-Moment Deutschlands

Der deutschen Automobilindustrie steht ihr Nokia-Moment noch bevor. Niemand kauft ein Elektroauto wegen seiner Spaltmaße oder des überlegenen Fahrkomforts bei Tempo 200. Entscheidend sind das Betriebssystem und die Batterien. Die deutschen Domänen liegen jedoch in Verbrennungsmotor und Fertigungsqualität. Die führenden Batteriehersteller kommen aus Asien, die Betriebssysteme mangels eigener IT-Kompetenz aus den USA. 

Nicht nur in der Automobilindustrie gerät der Standort Deutschland immer mehr ins Hintertreffen. Das Land spielt in vielen Schlüsseltechnologien kaum mehr eine Rolle. Wer erinnert sich noch daran, dass Siemens einmal die sichersten und modernsten Kernkraftwerke baute? Andernorts werden mit Grüner Gentechnik der Einsatz von Pestiziden verringert und die Ernteerträge erhöht, im Land der Dichter und Denker gilt sie als Werk des Teufels. Während die USA durch Fracking zum Nettoexporteur von Erdgas geworden sind und riesige konventionelle Gasfelder in Alaska erschließen, importiert der Exportweltmeister lieber LNG als die heimischen Reserven ökologisch nachhaltig zu nutzen. 

KI-Risiken im Fokus

Ausgerechnet das Paradeunternehmen Biontech verlegt nun Forschung und Entwicklung nach London und erwirbt um mehr als 400 Millionen Euro das britische Unternehmen InstaDeep, das KI-gestützte Entscheidungssysteme für Unternehmen liefert, um seine „Vorreiterrolle auf dem Gebiet KI-basierter Arzneimittelforschung, -design und -entwicklung zu stärken.“ Das sollte niemanden wundern. Die Bräsigkeit der politischen Entscheidungsträger und eine überbordende Bürokratie haben ein gesellschaftliches Klima geschaffen, in dem Innovation nur schwer gedeiht. Der Fachkräftemangel tut ein Übriges. 

Niemand ist besser darin, „Risiken in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken“ als Deutschland. Und längst dominiert die deutsche Skepsis auch in der EU. Brüssel sollte lieber ein Dutzend Experten für ein halbes Jahr nach Estland schicken, als Datenschutzgrundverordnung, Cookie-Richtline und Netzwerkdurchsetzungsgesetz ein weiteres Ungetüm hinzuzufügen. 

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