Ganz schön eigen, die Eidgenossen
Auf der ganzen Welt kennt man die Schweiz, aber selbst die Nachbarn wissen wenig über dieses wunderliche kleine Land. Den Schweizern ist das ganz recht, sie genießen ihr gutes Leben gerne im Stillen.
Manchmal kommt jemand daher und bestätigt alle Klischees. Wie jener Wirt aus dem Schweizer Kanton Zug, dem es missfiel, dass sich Gäste einen Nachtisch teilten. Er sah das als Schnorrerei zu seinen Lasten und schritt zur Tat: Ab sofort verlangte er 2,50 Franken extra für einen zusätzlichen Dessertlöffel.
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Ja, so ist er, der Schweizer, nickt man da wissend im befreundeten Ausland. Nur auf seinen Profit bedacht, immer aufs Geld aus. Es beginnt mit 2,50 Franken für ein Löffelchen und endet mit millionenschweren Kommissionen für die Verwaltung schmutziger Milliardenvermögen auf undurchsichtigen Konten.
Er stimmt wohl schon, der alte Witz vom ersten Schweizer, der sich von Gott Berge und Kühe gewünscht und bekommen hat, eine der Letzteren melkt und dem Schöpfer einen Becher Milch anbietet. Der nimmt dankend an, wischt sich den Bart und fragt, was denn der dritte Wunsch des Eidgenossen sei. „Fünf Franken für die Milch.“ (Schweizer können über den Witz nicht lachen. Nur fünf Franken bei einem Premium-Kunden?!)
Halbwahre Klischees
Aber ist das die Wahrheit über die Schweiz? Obwohl sie wahrscheinlich so bekannt ist, dass die meisten Erdenbürger von ihr gehört haben dürften, haben doch nicht einmal ihre nächsten Nachbarn eine Vorstellung davon, wie sie funktioniert und wie ihre Bewohner ticken. Entweder süßliches Heidi-Idyll mit Schoggi und Fondue oder Hort habgieriger Geld-Gnome und zwielichtiger Fußball-Funktionäre – zwischen diesen beiden Extremen pendelt die Wahrnehmung. Beides ist irgendwo richtig und dennoch falsch.
Die Wahrnehmung der Schweiz pendelt zwischen süßlichem Heidi-Idyll mit Schoggi und habgierigen Geld-Gnomen.
Besonders verwunderlich ist, dass noch nicht einmal die nächsten Nachbarn genaue Vorstellungen haben. Österreicher, zumal im Osten des Landes, sehen im Arlbergtunnel ein Wurmloch, das in ein Paralleluniversum mit den Planeten Dornbirn und Feldkirch führt. Das macht die Schweiz in ihren Augen zu einer Art verschärftem Vorarlberg. Wirklich zur Kenntnis nimmt man die Nachbarn eigentlich nur im Wintersport.
Die Deutschen würden zwar neben Mallorca gerne auch das Engadin als Bundesland eingemeinden. Aber ansonsten betrachten sie die Schweizer mit Argwohn. Sind das nicht die Leute, die eigentlich typisch deutsche Sekundärtugenden wie Fleiß, Pünktlichkeit und Pflichtbewusstsein besser beherrschen? (Gut, genau genommen sind das inzwischen ehemalige deutsche Sekundärtugenden.) Das macht die Schweiz in ihren Augen zu einer Art verschärftem Schwabenland.
Vertraute Nachbarschaft
Zur Kenntnis nimmt man die Nachbarn eigentlich nur, wenn wieder einmal ein Deutscher in der Schweiz mit Schwarzgeld ertappt wurde. Ähnliches gilt auch für Frankreich und Italien, wenn sie auf ihre Sprachverwandten in der Waadt oder im Tessin blicken. Les Suisses und gli svizzeri mangelt es an savoir vivre und dolce vita. Aber auch in Genf und Lugano gibt es Banken, ganz zu schweigen von guten Jobs für Pendler aus Lyon und Mailand.
Wöchentlich im Email
Ein bisschen ist die vorherrschende Unkenntnis der Nachbarn über die Schweizer sogar verständlich. Warum sollten die Helveten denn überhaupt so schrecklich anders sein? Sie teilen schließlich mit ihnen denselben Natur- und Kulturraum der Alpen, sie hocken gemeinsam an den Ufern von Bodensee, Lac Léman und Lago Maggiore, sie parlieren mit ihnen in einer von drei großen europäischen Sprachen, auch sie jodeln und blasen das Alphorn, spielen Jass und Hornussen.
Moment mal. Jass? Hornussen? Was ist das? Das eine ist ein für Außenstehende undurchdringliches Kartenspiel, das andere eine Art Hochgeschwindigkeitsgolf für Lebensmüde. Beides wird fast nur in der Schweiz praktiziert. So wie eben auch vieles andere, was die Eidgenossen zum Sonderfall und zu einem Rätsel in der Mitte von Europa macht. Ein Rätsel, aber immer mehr auch ein Vorbild. Denn mit dem Niedergang der politischen Kultur in Österreich und Deutschland blickt man sehnsüchtig nach Helvetien.
Unter dem Radar
Die Schweiz macht nicht nur vieles anders, sie macht auch vieles besser. Sie ist eine Nation von Besserkönnern. Allerdings gibt es einen Wermutstropfen: Die Mächte der Globalisierung und der Gleichschaltung sowie die Brachial-Methoden von EU-Kommission und US-Finanzministerium setzen auch die Schweiz unter Druck. Vieles, was über Generationen unantastbar galt, beginnt zu bröckeln.
Im Grunde genommen ist’s den Schweizern sogar recht, dass man sie so wenig kennt. Natürlich sind sie stolz auf sich, auf ihr politisches System, auf ihre Leistungen. Aber damit hausieren gehen, es an die große Glocke hängen?
Es grenzt an ein Wunder, dass ihr kleines Land, eine Ansammlung chronisch zerstrittener Kantone, in einer Umgebung aggressiver Monarchien Jahrhunderte überlebt hat. Nicht einfach überlebt. Mehr noch: Egal ob bei Lebensstandard, Lebensqualität oder Lebensfreude – die Schweiz ist eines der erfolgreichsten Länder weltweit.
Das alles fiel den Schweizern nicht in den Schoß. Ihr Land hat praktisch keine Bodenschätze und auch nicht wirklich viel gutes Ackerland. Die Bewohner waren auf ihre Pfiffigkeit und ihren Einfallsreichtum angewiesen. „Wer hat’s erfunden?“ ist mehr als nur ein Werbeslogan für ein Kräuterbonbon. Der erste innovative Exporterfolg der Schweiz war übrigens der Käse: Er hielt länger als die Milch und wurde von den Bergbauern in Uri oder Schwyz an die reichen Städte Oberitaliens verkauft.
Wohlstand und Reichtum rufen immer Neid und Begehrlichkeiten hervor. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Die Begriffe Schweiz und reich sind untrennbar miteinander verbunden, beim Blick aufs Bruttosozialprodukt ebenso wie beim Studium einer Speisekarte in Gstaad oder Davos. Das ist der Grund, weshalb der Schweizer nicht lauthals auf sich aufmerksam macht und lieber unter dem Radar der ausländischen Öffentlichkeit bleibt.
Stolz mit Komplexen
Das mag zum Teil den Minderwertigkeitskomplex erklären, unter dem viele Schweizer leiden. Sie wissen zwar, dass hinter der großen Klappe und der Besserwisserei der Deutschen oft nur heiße Luft steckt. Das regt sie auf, da ballen sie die Fäuste – aber eben doch nur in der Tasche. Die Österreicher wiederum beneiden sie um ihre glorreiche Vergangenheit, die Künstler und die Architektur. Das Berner Münster kann nun mal nicht mit dem Wiener Stephansdom konkurrieren und Heidi nicht mit Sisi. Den Komplex kompensieren sie mit Österreicher-Witzen.
Zahlen & Fakten
Gründungsmythos Rütli-Schwur
Die Legende
- Auf einer Wiese über dem idyllischen Vierwaldstättersee, dem sogenannten „Rütli“, kamen im Jahr 1307 die ersten drei Eidgenossen zusammen und schworen einander die Treue. „Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern.“ So schilderte Friedrich Schiller die Legende von den drei Urkantonen – Uri, Schwyz und Unterwalden – in seinem Drama „Wilhelm Tell“. Der Titelheld und legendäre Freiheitskämpfer ist als historische Person nicht belegt, der Rütli-Schwur auch nicht. Aber die Geschichte ist so schön, dass man sie gerne glauben will. Wilhelm Tell soll den Bösewicht dieser Erzählung, den habsburgischen Vogt Gessler, mit seiner Armbrust erschossen haben, nachdem dieser ihn gezwungen hatte, einen Apfel auf dem Kopf seines Sohnes zu treffen. Der Meisterschuss gelang, doch die Schweizer hatten die Nase voll von den Habsburgern und nutzten den Tod des Tyrannen, um in den Freiheitskampf zu ziehen.
Krieg und Frieden
- Verbürgt ist, dass die alte Eidgenossenschaft aus dem Machtvakuum erwuchs, das sich im 13. Jahrhundert aus dem Konflikt zwischen dem Kaiser des römisch-deutschen Reichs und dem Papst ergab. Über 200 Jahre sagten sich immer mehr Schweizer Regionen und Städte von den Habsburgern los und schlossen sich der wachsenden Eidgenossenschaft an. Im Jahr 1513 trat Appenzell als letzter von damals 13 Kantonen bei. Die kampferprobten Schweizer hielten sich fortan recht erfolgreich aus europäischen Konflikten heraus, auch weil sie begehrte Söldner waren, die gelegentlich sogar auf beiden Seiten eines Schlachtfeldes aufmarschierten. Ein Relikt dieser Tradition ist die Päpstliche Schweizergarde, das älteste Soldatenkorps der Welt.
Durch Widersprüche verbunden
- Bei der Abkehr von der katholischen Kirche im Zuge der Reformation im 16. Jahrhundert machten viele Schweizer Kantone mit. Interessanterweise verlief die Spaltung nach Konfessionen quer zur Spaltung nach Sprachgruppen. Politologen vermuten darin einen Grund, dass die 26 Kantone bis heute so gut zusammenarbeiten; es bildeten sich nur schwer klare Allianzen. Ein Gleichgewicht ist für alle besser.
Stolz, gepaart mit Minderwertigkeitskomplexen, ist nicht der einzige Widerspruch im Charakter der Eidgenossen. Sie können krähwinkelig kleinkariert sein – der berüchtigte Kantönligeist – und bäuerlich misstrauisch gegenüber allem Fremden. Zugleich sind sie so weltoffen und tolerant wie wenige andere Länder.
Als Exportnation müssen sie das sein, aber der Verkauf von Uhren, Schokolade und Finanzdienstleistungen in alle Welt erklärt nicht, warum inzwischen jeder dritte Bewohner des Landes einen Migrationshintergrund hat, jeder zehnte Schweizer dauerhaft im Ausland lebt und sich Schweizer Männer und Frauen mit Vorliebe mit ausländischen Partnern verbandeln.
Folgsam, aber misstrauisch
Schweizer können fast schon eigenbrötlerische Individualisten sein, die keine Einmischung in ihre eigenen Angelegenheiten dulden und auch andere nach deren Fasson selig werden lassen. Deshalb leben Weltstars so gerne hier. Wenn Tina Turner in Küsnacht, Roger Federer in Rapperswil und Sebastian Vettel im Thurgau einkaufen, dreht sich niemand nach ihnen um. Doch trotz des Individualismus ist der Gemeinschaftssinn stark ausgeprägt. Im Angesicht von Problemen, Nöten oder Bedrohungen steht man zusammen – als Gemeinde, als Kanton, als Nation. Auch wenn man sich sonst nicht immer grün ist.
Schweizer sind gute Staatsbürger, die brav ihre Steuern zahlen und alle Regeln und Vorschriften einhalten. Dennoch halten sie sich den Staat am liebsten weit vom Leibe. Das Misstrauen gegenüber Bern ist wohl genauso stark wie jenes der US-Bürger gegenüber Washington.
Entpuppt sich eine Entscheidung als falsch oder gar verhängnisvoll, kann der Schweizerbürger die Verantwortung nicht auf ‚die da oben‘ abschieben.
Doch in der Eidgenossenschaft gesellt sich eine Besonderheit dazu: Die Schweizer wissen, dass wirklich sie, die Bürger, der Souverän sind. Sie entscheiden über wesentliche Fragen an der Urne. Bürger in anderen Demokratien geben ihre Stimme einem Unbekannten, der die nächsten Jahre im Parlament damit macht, was er will.
Gelebte Verantwortung
Diese Freiheit hat eine Kehrseite – und Konsequenzen für den Nationalcharakter. Entpuppt sich eine Entscheidung als falsch oder gar verhängnisvoll, kann der Schweizerbürger die Verantwortung nicht auf „die da oben“ abschieben. Keine anonyme Regierung hat sie getroffen, sondern er selbst. Daher muss er auch mit den Folgen leben. Die Bürger wissen das und gehen verantwortungsvoll mit ihrer Macht um.
So verantwortungsvoll, dass man sich im Ausland mitunter an den Kopf fasst. Nein, nicht wenn sie Minarette und Burkas verbieten oder die Einwanderung beschränken. Das würden Deutsche und Österreicher auch gerne tun. Aber Schweizer haben an der Urne schon eine Verlängerung des gesetzlichen Jahresurlaubs abgelehnt, und immer wieder einmal erhöhen sie sich selbst die Steuern. Das ist nicht Masochismus, sondern gesunder Menschenverstand. Man weiß, man kann es sich anders nicht leisten.
Sparsam ist nicht geizig
Bei Mitteln, die der Bund ungenehmigt auszahlen darf, ist daher das Misstrauen umso größer. Wenn Bern eine sogenannte Kohäsionsmilliarde nach Brüssel überweist, weiß jeder Bürger: Dieses Geld wurde nicht vom Finanzminister bei einer Kollekte am Kabinettstisch eingesammelt. Das ist unser Geld. Und wir würden gerne mitreden, wofür es verwendet wird.
Schweizer zahlen brav ihre Steuern. Dennoch halten sie sich den Staat am liebsten weit vom Leibe.
Womit wir zum Geld zurückgekommen wären, mit dem wir begonnen haben. Geld ist wichtig für die Schweizer, aber für wen ist es das nicht? Sie sind sparsam, echte Räpplispalter, wie man den Pfennigfuchser beziehungsweise Groschenzähler hier nennt. Sparsam, aber nicht geizig – wie jeder bestätigen kann, der von einem Schweizer zum Essen eingeladen wurde. Er würde, ohne zu murren, auch die 2,50 Franken für den Extralöffel bezahlen. Oder lieber gleich ein zweites Dessert bestellen.