Unbegreifliche Rolle der EU in der Ukraine

Die EU hat der Ukraine den Beitritt jahrzehntelang in Aussicht gestellt und sie hingehalten. Russland wurde in all den Jahren nicht eingebunden. Jetzt wäre ein rein politisch motivierter EU-Beitritt der Ukraine ein Fehler.

Ukraine Flagge mit Einschusslöchern in Kreisform, die an die Sterne der EU erinnern.
Ein Plakat auf der Leipziger Buchmesse im März 2014. Europäische Herausgeber und Verlage solidarisierten sich mit den Protestierenden in der Ukraine, die mit den Demonstrationen des „Euromaidan“ eine Annäherung an die EU forderten. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Optionen. Eine Annäherung der Ukraine an die Europäische Union muss nicht automatisch die Form eines EU-Beitritts annehmen.
  • Klarheit. Anders als in der Vergangenheit sollte die EU eine einheitliche Linie gegenüber der Ukraine finden und die Hinhaltetaktik beenden.
  • Perspektivenwechsel. Russland wurde nicht in den Annäherungsprozess einbezogen. Mögliche Auswirkungen auf Russland wurden nicht diskutiert.
  • Nachkriegsordnung. Politische Motive sind keine hinreichende Begründung für einen EU-Beitritt der Ukraine. Ein Reformprogramm ist Voraussetzung.

Eine Analyse der EU-Ukraine-Beziehungen sollte mit zwei grundsätzlichen Feststellungen beginnen. Erstens: Das europäische Integrationsprojekt bezieht sich auf den gesamten Kontinent. Im EU-Vertrag heißt es, dass jeder europäische Staat sich um die Aufnahme in die EU bewerben kann. Es ist also kein Land per se ausgeschlossen, selbst Russland nicht, obwohl die Vorstellung einer EU, die von Lissabon bis Wladiwostok reichen würde, sehr verwegen wäre. Aber gesamteuropäische Integration bedeutet nicht notwendigerweise, dass sich die EU über ganz Europa ausbreitet.

Andere Formen der Kooperation und Partnerschaft sind möglich, wie das Beispiel des Europäischen Wirtschaftsraumes oder Schweiz zeigt, denn es gibt keine Verpflichtung auf Teilnahme an der EU. Aber wie dem auch sei, die Ukraine kann EU-Mitglied werden, wenn sie es will und die dafür notwendigen Bedingungen erfüllt.

Zweitens: Die Ukraine ist der Nachbar von vier EU-Mitgliedstaaten, aber eben auch der größte westliche Nachbar Russlands. Sie ist zudem mit Russland auf vielfältige Weise historisch, kulturell und wirtschaftlich eng verflochten. Und deshalb wurde das Land Gegenstand eines geopolitischen Tauziehens zwischen den USA und Russland.

Es geht der US-Politik nicht um das Wohlergehen der Menschen der Ukraine, sondern um die strategische Schwächung Russlands.

Die strategische Position der USA ist offenkundig. Um zu verhindern, dass Russland noch einmal zu einem machtpolitischen Rivalen aufsteigen würde, soll die Ukraine nicht zu einer wie auch immer gearteten russischen Einflusszone gehören. Es geht bei dieser Politik nicht um das Wohlergehen der Menschen der Ukraine, sondern um die strategische Schwächung Russlands.

Die Hinhaltetaktik

Angesichts dieser Ausgangslage ergibt sich, dass die Gestaltung der Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine idealerweise einer gleichzeitigen, tragfähigen Regelung des Verhältnisses zwischen der Ukraine und Russland sowie zwischen der EU und Russland bedarf. Eine Zeitlang sah es so aus, als könnte das gelingen, obwohl die EU, das sollte man nicht vergessen, lange Zeit nicht so recht wusste, wie sie mit der Ukraine und ihrem Drängen nach einer europäischen Perspektive umgehen sollte.

Demonstration für die Assoziierung von Ukraine und EU in Kiev im Dezember 2013.
Kiew im Dezember 2013: Nachdem die Regierung von Wiktor Janukowytsch das Assoziierungsabkommen mit der EU aufgekündigt hatte, entwickelten sich monatelange Proteste trotz eisiger Temperaturen. Der Euromaidan endete blutig. © Getty Images

In den ersten Jahren dieses Jahrhunderts war die EU eindeutig um Distanzierung bemüht. Die Devise war, dass der Ukraine auf keinen Fall irgendwelche politischen Zusagen gemacht werden sollten. Und tatsächlich ist es so, dass es ein klares Beitrittsversprechen der EU bis auf den heutigen Tag auch nicht gibt. Stattdessen gibt es eine schrittweise Heranführung, wie zuletzt durch die Assoziierung, ohne Definition eines endgültigen politischen Ziels.

Gegen diese schrittweise Heranführung gab es zunächst auch keinerlei russische Widerstände. Die Verhandlungen über die EU-Assoziierung der Ukraine waren bereits 2011 abgeschlossen. Die Ukraine war unter ihrem als „pro-russisch“ deklarierten Präsidenten damals zur Unterschrift auch bereit. Es war die EU, die damals nicht unterschreiben wollte, weil einige „Strategen“ in Washington und Berlin es für angemessen hielten, mit parteipolitisch motivierten Schachzügen die politische Zukunft eines großen europäischen Landes auf Spiel zu setzen, siehe den Fall Tymoschenko und die Verbindung mit antirussischen Kräften.

2013 hatte sich die ökonomische und finanzielle Lage der Ukraine substantiell verschlechtert. Die EU verweigerte damals dem ukrainischen Präsidenten großzügige makroökonomische Unterstützung, was dazu führte, dass der ukrainische Präsident zunächst die Aussetzung der Assoziierung vorschlug. Dieser Vorschlag löste die Ereignisse des Maidan aus. Auf dem Maidan versammelten sich keineswegs nur leidenschaftliche Europäer. Der Maidan wurde zum Sammelplatz der gesamten Opposition gegen Wiktor Janukowytsch und die Kontrolle übernahm praktisch deren extrem rechter, russophober Flügel.

Die Einmischung

In der Rückschau erscheint es nicht nur als unbegreiflicher Fehler, dass die EU sich in die internen Angelegenheiten der Ukraine massiv einmischte. Zudem erschließt sich einem vernünftigen Nachdenken auch nicht, warum die EU die Ukraine grundsätzlich vor die Wahl stellte, Freihandel mit der EU zu betreiben oder mit der von Russland etablierten Eurasischen Union.

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Späte Gegenliebe: Die Beziehungen von EU und Ukraine

1994Die EU schließt ein Abkommen mit der Ukraine über Partnerschaft und Zusammenarbeit.
1996Präsident Leonid Kutschma will eine „partnerschaftliche Kooperation“ mit der EU, der Westeuropäischen Union (WEU) und der NATO.
2008EU und Ukraine verhandeln über ein Assoziierungsabkommen. Derartige Abkommen waren in Osteuropa die Vorstufen eines EU-Beitritts.
2009Die Ukraine wird Teil der „Östlichen Partnerschaft“ der EU. In der Finanzkrise schrumpft das BIP der Ukraine um fast 15 Prozent.
2013Wiktor Janukowytsch legt das zur Unterzeichnung fertige Assoziierungsabkommen mit der EU still. Die massiven Proteste des „Euromaidan“ dauern mehrere Monate an.
2014Sturz von Janukowytsch. Das Assoziierungsabkommen wird zu weiten Teilen vorläufig angewendet; Russland reagiert mit der Annexion der Krim.
2018Die Ukrainische Regierung schreibt die EU-Mitgliedschaft als Ziel in die Verfassung. Politisches Ziel ist ein Beitritt 2030.
2019Wolodymyr Selenskyj wird zu Jahresbeginn neuer Präsident. Beim Ukraine-EU-Gipfel am 8. Juli fordert er Wladimir Putin zu Friedensverhandlungen in Minsk auf.
2022Russland überfällt die Ukraine. Die EU bekräftigt die Beitrittsperspektive, verhängt Wirtschaftssanktionen gegen Russland und liefert der Ukraine Waffen.

Es gab durchaus Stimmen, die es in der EU ganz im Gegenteil für vorteilhaft hielten, wenn die Ukraine mit beiden Wirtschaftsblöcken verbunden sein und so die Brücke zu einem großen europäischen Wirtschaftsraum bilden würde. Eine solche Lösung hätte auch zum inneren Frieden in der Ukraine beigetragen, denn durch zahlreiche Umfragen bis in die jüngste Zeit hinein wissen wir, dass die Mehrheit der Menschen in der Ukraine diese Entweder-Oder-Politik ablehnte.

Ein politischer EU-Beitritt?

Zu den Unbegreiflichkeiten gehört auch, warum seit 2011 nicht mehr mit Russland über die Auswirkungen einer EU-Assoziierung der Ukraine auf Russland gesprochen wurde. Das Argument, die Verhandlungen der EU mit einem souveränen Staat gingen Dritte nichts an, ist barer Unsinn. Auch die EU betont ständig, dass sie keine Verträge zu Lasten Dritter abschließt. Das war auch der Grund, weshalb vor der EU-Osterweiterung 2004 sehr wohl mit Russland über seine politischen und wirtschaftlichen Besorgnisse gesprochen wurde. Damals wurden tragfähige Lösungen gefunden – warum hätte das im Fall der Ukraine nicht auch gelingen sollen?

Aber das ist nun alles Schnee von gestern. Während man also mit guten Gründen argumentieren kann, dass die EU mehr hätte tun können, um die Konfrontation zu vermeiden, die jetzt im Krieg explodierte, ist es sehr schwer einzuschätzen, ob ein Beitrittsversprechen heute irgendetwas verändern würde.

Ein EU-Beitritt der Ukraine als rein politisches Zeichen würde die europäische Integration in ihren Grundfesten erschüttern.

Die Frage eines EU-Beitritts wird sich mit großer Dringlichkeit erst stellen, wenn es um die Nachkriegsordnung geht. Erst dann wird sich zeigen, ob und wie über den von der Ukraine gestellten Beitrittsantrag entschieden werden wird. Aber unabhängig von einem nächsten rechtsverbindlichen Schritt sollte die EU ihre bisherige Hinhaltetaktik aufgeben und nunmehr eine Strategie für den ganzen Kontinent vorlegen, in der auch die Ukraine ihren richtigen Platz findet.

Jetzt aber dürfen auf keinen Fall unrealistische Erwartungen geweckt werden. Ein EU-Beitritt der Ukraine zum jetzigen Zeitpunkt als rein politisches Zeichen würde die europäische Integration in ihren Grundfesten erschüttern und möglicherweise sogar zerstören. Denn auch im Fall der Ukraine darf das Fundament der EU nicht beschädigt werden und dazu gehört nun einmal, dass es für alle EU-Staaten klare und verbindliche Regeln gibt, die sich auch in den Beitrittskriterien spiegeln.

Frauen, gehüllt in ukrainische Flaggen, blicken auf Blumen und Kränze, die im Gedenken an die Toten des Euromaidan niedergelegt wurden. Kiev, Ukraine, im Februar 2022.
Kiew, 20. Februar 2022: Gedenken an die Menschen, die bei der Niederschlagung des Euromaidan starben. © Getty Images

Herausforderung Beitrittskriterien

Das heißt, dass auch im Fall der Ukraine die Beitrittskriterien gelten müssen. Sie glaubwürdig zu erfüllen, wird für die Ukraine eine Herkulesaufgabe sein, die viel Zeit und Kraft braucht und jede Menge EU-Unterstützung, die weit über das hinausgeht, was jemals für einen beitrittswilligen Staat geleistet wurde. Die Erfahrungen mit dem Assoziierungsvertrag ab 2014 zeigen, dass es vor allem die politischen Strukturen sind, die den notwendigen Transformationsprozess in der Ukraine massiv behindern. Gleichzeitig galt aber auch, dass der Konflikt mit Russland es der Ukraine erschwerte, ihr Potential zu entfalten.

Wie groß die Herausforderungen für die Ukraine sind, hat im Jahr 2015 eine Studie der „Agency for the Modernisation of Ukraine“ (AMU) unter Leitung von Michael Spindelegger dargestellt. Das dort enthaltene pro-europäische Reformprogramm ist seinerzeit nicht realisiert worden. Nicht, weil es inhaltlich falsch gewesen wäre, sondern weil Kräfte in der Ukraine und in Washington kein Interesse an einer Realisierung hatten.  Inzwischen haben sich die Bedingungen in der Ukraine weiter dramatisch verschlechtert. Aber wenn man einen neuen Reformanlauf braucht, und das wird man, dann ist es sinnvoll, auf den Überlegungen und Erfahrungen von damals aufzubauen.

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Conclusio

Was einen möglichen EU-Beitritt betrifft, hat die Europäische Union gegenüber der Ukraine lange Zeit eine Hinhaltetaktik betrieben und danach keine konsequente politische Strategie für eine Annäherung entwickelt. Damit hat sie zur Instabilität des Landes beigetragen. Bereits vor der russischen Invasion war klar, dass eine Integration der Ukraine in den Westen – wie bei der EU-Osterweiterung – mit Moskau abgestimmt werden muss. Darum ist nun wichtig, dass die EU eine klare Strategie für eine Nachkriegsordnung vorlegt, in der die Ukraine ihren Platz hat.