Es lebe Tschaikowsky!

Europas Feldzug gegen alles, was russisch erscheint, ist töricht und eine Beschmutzung unserer eigenen Werte.

Russland EU: Illustration eines Kleinkindes, das sich von Essen abwendet.
Verschmäht die EU nun alles, was russisch ist? © Getty Images

Am Vorabend des Ersten Weltkriegs beobachtete der Schriftsteller Graham Greene in einem kleinen englischen Dorf, wie die Bewohner aus einem Überschwang antideutscher Gefühle einen Schäferhund auf offener Straße steinigten, bis das arme Tier verendet war.

Zwar ist es heute zum Glück noch nicht so weit, dass die Bewohner der teuren Dachböden in der Wiener Innenstadt um ihr Leben fürchten müssen, wenn sie zum Meinl am Graben einkaufen gehen, nur weil sie Russen sind. Selbst ihre allfälligen Schoßhunde sind keiner Gefahr an Leib und Leben ausgesetzt.

Doch ersatzhalber steinigen die Kultur-Institutionen Europas seit dem Beginn von Putins Krieg gegen die Ukraine alles, was Russland an kulturellen Hervorbringungen und großen Künstlern zu bieten hat. Ein Tsunami antirussischer Cancel Culture hat Europa erfasst – und das ist gar nicht gut so. Wie immer, wenn Kultur, akademisches Leben oder Medien in einen Meinungskorridor gezwungen werden sollen, dessen Grenzen irgendwelche selbst ernannte Religionspolizisten des Wahren, Guten und Schönen bewachen; Putins Schweinereien ändern nichts daran.

Musik etwa von Peter Iljitsch Tschaikowsky aufzuführen gilt derzeit in Europa als so anstößig wie eine öffentliche Lesung von „Mein Kampf“ im Hauptabendprogramm des öffentlich-rechtlichen Fernsehens – geht gar nicht im nahenden Festivalsommer.

Auf dem Scheiterhaufen

Russische Malerei, russische Fotografie, russische Theaterstücke – alles landet derzeit auf einem imaginären Scheiterhaufen. Auf einer italienischen Uni wurde gar allen Ernstes debattiert, ob die Studenten noch Dostojewski lesen dürfen

Ein Tsunami antirussischer Cancel Culture hat Europa erfasst.

Nun ist zwar leider nicht bekannt, was genau der Beitrag Tschaikowskys, gestorben 1893, oder Dostojewskis, gestorben 1881, zum Krieg Putins gegen die Ukrainer ist. Aber gemeinhin wird argumentiert, es gehe darum, „ein Zeichen zu setzen“. Ich halte das für töricht und letztlich für einen Verrat ebenjener Werte, die uns von barbarischen Regimes jeglicher Couleur unterscheiden. In Putins Russland ist das „Canceln“ unerwünschter Meinungen, journalistischer oder literarischer Inhalte alltäglich geworden.

Wollen wir als liberaler Westen, dem die Freiheit des Einzelnen ein so zentraler Wert ist, wirklich mit den gleichen Methoden des Verbietens, Untersagens und Unterdrückens gegen die Feinde unserer Werte angehen?

Bis Netrebko verstummt

Das wäre wohl die schlechteste aller denkbaren Ideen. Wollen wir denn wirklich Herrn Putin recht geben, der sich ja schon beklagt, der Westen wolle „ganz Russland canceln, ein tausend Jahre altes Volk“? Sicher nicht. Der Krieg der Russen gegen die Ukraine wird nicht dadurch beendet werden, dass Tschaikowsky und Dostojewski verboten werden oder Anna Netrebko verstummt. 

Winston Churchill ist am Höhepunkt des Zweiten Weltkriegs gefragt worden, ob er nicht das Kulturbudget des Vereinigten Königreichs zugunsten des Militärs streichen wolle. „Wozu“, soll er darauf geantwortet haben, „führen wir denn den ganzen verdammten Krieg?“ Die Frage stellt sich heute ganz genauso. (Übrigens heißt der Deutsche Schäferhund seit dem gewaltsamen Tod jenes bedauerlichen Artgenossen vor Graham Greenes Augen in England „Elsässer Hund“, ganz ohne Canceln der Rasse.)