Der Hang der Chinesen zur Autorität

Das Verhältnis der chinesischen Bevölkerung zum Staat, die scheinbare Obrigkeitshörigkeit und das Hierarchiedenken schrecken viele Europäer ab. Doch das Befremden Europas ist oft Unkenntnis geschuldet. Tatsächlich könnten wir von der chinesischen Kultur viel lernen.

Frau mit Handy vor chinesischen Laternen
In Europa verstehen nur wenige die chinesische Kultur. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Problematischer Eurozentrismus. In Europa mangelt es an Verständnis für die chinesische Kultur – und damit auch für Chinas Verhalten.
  • Kritischer Blick. Besonders heftig wird in Europa das hohe Maß an staatlicher Kontrolle über Chinas Bevölkerung kritisiert.
  • Perspektivwechsel. Der emotionale Blick auf den „Überwachungsstaat“ macht eine Zusammenarbeit zwischen Europa und China schwierig.
  • Konfuzianische Werte. Chinas Mentalität birgt durchaus auch strategische Stärken. Die Corona-Pandemie hat das bewiesen.

Da sind sie, die Chinesen. Mitten in Europa, genauer gesagt in Bamberg, der UNESCO-Weltkulturerbestadt. Am Schönleinsplatz im Zentrum der Stadt hocken acht rote Männer im Kreis und schauen ernst. „Meeting“ heißt das Werk des chinesischen Künstlers Wang Shugang, das seit 2016 hier installiert ist.

In Bamberg gibt es auch einen Chinesen, der es ziemlich weit gebracht hat: You Xie ist Imbissbudenbetreiber und CSU-Stadtrat und wahrscheinlich der bekannteste Chinese der Stadt. Dennoch findet You Xie nicht alles toll, was mit China zu tun hat. Zum Beispiel mag er diese Skulptur mit den roten Männern nicht. Die Pose der Männer stört ihn. Wie sie da so hocken, das sei typisch chinesisch, sagt er, und zwar typisch für die Leidensfähigkeit und Passivität der Chinesen. Das lehnt er ab. Chinesen sollten aufrecht stehen, meint er, mutig sein. Stadtrat Xie steht damit durchaus für das neue Selbstbewusstsein, für den gestärkten Nationalstolz Chinas. Wir sind wieder wer – das empfinden nicht nur viele Chinesen, das ist auch durchaus der Anspruch der chinesischen Führung. Selbst- und Fremdbild von China klaffen weit auseinander. Worauf sie stolz sind, macht vielen in Europa Angst. Doch Emotion verzerrt den Blick. Und obwohl China für uns Europäer die höchste Zukunftsrelevanz hat, erfolgt die Beurteilung des Landes häufig emotional oder ideologisch, anstatt die Gedanken und Motive der chinesischen Führung nüchtern zu analysieren.

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Überwachungsstaat! Lebensqualität?

Als vor einigen Jahren die chinesische Regierung unter Präsident Xi Jinping ankündigte, ein Ratingsystem für Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen einzuführen, war der Aufschrei im Westen groß. Mit Schlagzeilen wie „Facebook trifft Stasi“, „Volle Kontrolle“ oder „Aus Big Data wird Big Brother“ wurde schnell klar, wie deutschsprachige Medien das geplante Sozialkreditsystem einschätzen. Die einhellige Interpretation lautete: Chinas Führung nutzt die Digitalisierung dazu, um seine Staatsbürger noch besser überwachen zu können und missliebige Kritiker noch schneller wegsperren zu können. Dass die Chinesen dies akzeptieren und diesen Eingriff in ihre Privatsphäre (er)dulden, müsse wohl an dieser geduckten Haltung liegen, die Stadtrat Xie als so typisch chinesisch beklagt.

Selbst- und Fremdbild von China klaffen weit auseinander. Worauf sie stolz sind, macht vielen in Europa Angst.

Motive der chinesischen Bevölkerung werden in Europa jedoch selten hinterfragt – dabei offenbaren sich interessante Aspekte, die ein Verhalten durchaus verständlicher machen. Ein Wissenschaftlerteam der Freien Universität Berlin befragte 2018 mehr als 2.200 Chinesen, was sie vom Sozialkreditsystem halten. Das Ergebnis: Etwa 80 Prozent der chinesischen Internetnutzer bewerten die staatlichen und kommerziellen Sozialkreditsysteme in ihrem Land positiv.

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Zahlen & Fakten

Bei genauerer Analyse wird diese hohe Zustimmung nachvollziehbar: So sagten etwa 40 Prozent der befragten Stadtbewohner, die an Pilotprojekten des Sozialkreditsystems in 40 Orten Chinas teilnahmen, dass sie aufgrund ihrer hohen Punktzahl keine Kaution bei den weit verbreiteten Sharing-Diensten hinterlegen müssten, etwa für die Nutzung von Fahrrädern und Autos. Auch von Belohnungen wie einer bevorzugten Behandlung bei Check-ins oder besseren Bankkonditionen profitierten die teilnehmenden Bürger. Die Untersuchungsergebnisse zeigten, dass die Befragten das Sozialkreditsystem weniger als Überwachungsinstrument, sondern vielmehr als Instrument zur Verbesserung der Lebensqualität und zur Schließung institutioneller und regulatorischer Lücken ansehen.

Gedanken zum Datenschutz

Das Sozialkreditsystem ist Teil eines größeren Plans von Xi Jinping, datenbasiert ein Informationssystem für die Regierung und Verwaltung zu schaffen, mit dem rasch und effektiv auf etwaige Herausforderungen reagiert werden kann. In einem Land mit 1,4 Milliarden Einwohnern ist das ein durchaus ambitioniertes Vorhaben. Tatsächlich hinkt die Umsetzung hinterher: die Vorbereitungen für einen landesweiten Roll-out hätten letztes Jahr ihren Abschluss finden sollen, aber von einer einheitlichen Datenaufbereitung und einem kohärenten Scoring-System kann noch nicht die Rede sein. Dennoch hat das Sozialkreditsystem in der Corona-Pandemie seine flexiblen Einsatzmöglichkeiten bereits bewiesen, als es beispielsweise dafür genutzt wurde, Wohlverhalten während der Pandemie in die Bewertung aufzunehmen.

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Zahlen & Fakten

Chinas Internet

  • Schon 2003 wurde das Projekt „Goldener Schild“ zur Zensur und Kontrolle des chinesischen Internets gestartet.
  • Eine der ersten Seiten, die für chinesische Nutzer gesperrt wurde, war 2008 Facebook.
  • Im selben Jahr waren bei der „Great Firewall of China“ bereits circa 30.000 Mitarbeiter angestellt.
  • 2009 folgten YouTube und Twitter, 2014 Instagram und Google (inklusive Google Maps und Gmail).
  • Die genaue Zahl der heute blockierten Internetseiten ist unbekannt, beläuft sich aber auf mehrere Tausend.

Eine im März dieses Jahres durchgeführte Untersuchung der Nutzung von Apps für das Contact Tracing in Deutschland, den USA und China verdeutlicht ebenso, wie unterschiedlich Chinesen im Vergleich zu westlichen Ländern ticken. China war das erste Land, das bereits im Februar 2020 eine Contact Tracing App zum Einsatz brachte, wobei bestehende Soziale Medien wie Alipay oder WeChat zum Einlesen der Daten genutzt wurden. Die Nutzung der App war in China verpflichtend und berechtigte bei „grünem“ Gesundheitsstatus etwa zum Besuch von öffentlichen Plätzen wie etwa Shoppingcenter.

Deutschland lancierte seine Corona-Warn-App im Juni 2020 nach langen Debatten über Datenschutz und auf freiwilliger Basis. In den USA kooperierten Regierungen einzelner Bundesstaaten mit Tech-Giganten wie Apple oder Google, um lokale Lösungen – wiederum auf freiwilliger Basis – zu entwickeln. Während in China 80 Prozent den Einsatz einer Contact Tracing App befürworten, liegt dieser Wert in Deutschland (41 Prozent) und den USA (39 Prozent) deutlich niedriger. Ein interessantes Detail am Rande: auch chinesische Bürger machen sich durchaus Gedanken über Datenschutz und Privatsphäre – allerdings misstrauen sie hier vor allem Technologieunternehmen, während der Regierung ein sorgsamerer Umgang mit Daten zugetraut wird.

Staatsführung: Feind oder Vater?

Dieses – aus westlicher Sicht – erstaunlich große Vertrauen der chinesischen Bürger in ihre Staatsführung führt zur Frage, woher sich dieses Vertrauen speist. Eine Erklärung liegt vermutlich in der Jahrtausende alten Lehre des Konfuzius (551-479 v. Chr.) begründet, deren Einfluss bis heute spürbar ist. Seine Lehre stellt eine Anleitung dar, wie man sich in einer Familie und in einem Staat – also in hierarchisch gegliederten Gemeinschaften (in denen die Menschen nicht alle gleich sind) – zu aller Wohlergehen verhalten soll. Der Konfuzianismus ist also keine Religion, sondern eher eine moralische Gebrauchsanleitung für das Leben in Gesellschaften, die sich an den Tugenden der Menschlichkeit und Gerechtigkeit orientiert.

Der Respekt für Hierarchie passt wunderbar in die heutige chinesische Landschaft.

Lin Yutang

Der chinesische Schriftsteller Lin Yutang (1895-1976), dem es mit seinen populären Texten über China und seine Menschen gelang, die chinesische Seele für westliche Leser etwas zu entschlüsseln, beschrieb das chinesische Führungsmodell mit folgenden Worten: „Das auffallendste Merkmal in unserem politischen Dasein als Nation ist das Fehlen einer Verfassung und der Idee von Bürgerrechten. Eine Verfassung setzt voraus, dass unsere Herrscher auch Gauner sein könnten, die ihre Macht missbrauchen und unsere Rechte verletzen und wir daher eine Verfassung brauchen, um uns dagegen zu verteidigen. Das chinesische Konzept einer Regierung ist das glatte Gegenteil dieser Annahme. Es ist bekannt als ‚väterliche Regierung‘ oder ‚Regierung der Ehrenmänner‘, deren Aufgabe es ist, gleichsam wie Eltern für ihre Kinder zu sorgen und denen wir freie Hand lassen können und in die wir unbegrenztes Vertrauen setzen.“

In den Ohren von Dissidenten oder muslimischen Minderheiten in China klingen derartige Formulierungen wohl mehr als zynisch. Helmut Schmidt, der frühere Bundeskanzler Deutschlands, interpretierte den konfuzianischen Einfluss auf Chinas Gesellschaft 70 Jahre nach Lin Yutang jedoch ganz ähnlich: „An der Spitze steht wohl das Bewusstsein von der Notwendigkeit von Harmonie anstelle von Konfrontation. In europäisches Aufklärungsdeutsch übertragen, heißt das: Bereitschaft zum Kompromiss. Ein anderes wichtiges Prinzip ist die Überzeugung von der Erziehbarkeit des Menschen. Ein weiteres Element ist der Respekt für Hierarchie; der passt wunderbar in die heutige chinesische Landschaft.“

Der Kaiser muss liefern

Wer so denkt, der kann nur wenig Verständnis für Anti-Corona-Maßnahmen-Demonstrationen oder krude Verschwörungstheorien aufbringen – etwas, was in der chinesischen Berichterstattung über Europa und die USA durchaus deutlich wird. Doch der Respekt für Hierarchie und damit für die politische Führung ist keine Einbahnstraße. In den Worten von Helmut Schmidt: „Selbst der Kaiser hatte nach Konfuzius Pflichten. Er musste zum Wohle des Volkes regieren, und zwar zum Wohl des gesamten Volkes. Wenn der Kaiser seine Pflichten gegenüber dem Volk nicht erfüllt, dann gehört er abgesetzt.“ Der Kaiser muss liefern – und dafür braucht es einen Plan.

Chinas größte Stärke liegt sicher in seiner Fähigkeit, langfristige und umfassende Strategien zu entwickeln und daraus entsprechenden Handlungsbedarf abzuleiten: Ob Digitalisierung, Klimawandel, Industrie-, Geld- oder Geopolitik – für alle dieser Felder formuliert Chinas Regierung relativ konkrete Zielsetzungen. Westliche Politiker blicken oft neidvoll ins Reich der Mitte, in dem langfristige Planung nicht nur möglich, sondern auch machbar scheint.

Chinesische Mutter mit Tochter in einem Tempel
In China wird weiter als nur bis zur nächsten Generation gedacht – und geplant. © Getty Images

Diese Fähigkeit zum strategischen Denken hat in China eine besondere Tradition und Ausprägung. Der Sinologie-Professor Harro von Senger vermutet sogar, dass es ein Denken in derartigen Zeitdimensionen im westlichen Bewusstsein nicht zu geben scheine. Während in Europa zwischen langfristiger Strategie und kurzfristiger Taktik unterschieden wird, nutzen Chinesen zusätzlich einen planerischen Panoramablick, eben die Supraplanung, mit dem Entwicklungen von einer deutlich höheren und langfristigeren Perspektive betrachtet werden, ohne dabei Details aus dem Adlerblick zu verlieren. Dabei lässt sich die angestrebte räumliche und zeitliche Weite des Denkens mit einem Zitat des chinesischen Gelehrten Chen Danran (1860-1930) illustrieren: „Wer nicht mit Blick für das Gesamtgebiet plant, vermag nicht für einen Landstrich zu planen; wer nicht für 10.000 Generationen plant, vermag nicht für eine Ära zu planen.“

Scharf nachgedacht – und gemacht

Strategischer Weitblick gepaart mit flexiblem Pragmatismus führt zu Entscheidungen, die – über die vergangenen Jahrzehnte betrachtet – häufig zu guten Ergebnissen (zumindest aus chinesischer Sicht) geführt haben. Bei aktuellen Themen mag eine abschließende Beurteilung noch nicht möglich sein, doch es könnte zumindest lohnend sein, chinesische Strategien einer genaueren Analyse zu unterziehen. Drei Beispiele zur Illustration:

  • Chinas Regierung hat in der Corona-Krise auf ein großes Konjunkturprogramm verzichtet. Zwar gab es kleinere Erleichterungen wie etwa Steuerbefreiungen oder Reduktion von Sozialabgaben; zusätzlich wurde Liquidität bereitgestellt und billige Kredite ermöglicht. Die chinesische Regierung sah ihre Hauptaufgabe in der konsequenten Bekämpfung der Pandemie durch Hygienemaßnahmen, effektives Contact Tracing, rigide Reise- und Mobilitätsbestimmungen und Bereitstellung von Impfungen. China verzeichnete im Corona-Jahr 2020 ein Wachstum von 2,3 Prozent – nicht überwältigend, aber immerhin. Angesichts der wirtschaftlichen Kosten, die Lockdown verursacht (allein im kleinen Österreich geschätzte 1,5 Milliarden Euro pro Woche), scheint die Prioritätensetzung (inklusive ihrer rigorosen Umsetzung) nicht ganz unsinnig.
  • Politische Visionen werden in China oft vage formuliert und geben nur gewisse Leitplanken vor. Die konkretere Ausformulierung erfolgt häufig im wissenschaftlichen Diskurs, der an Chinas Universitäten und Thinktanks mit großer Lebendigkeit geführt wird. Eine Gruppe von Wissenschaftlern vertritt beispielsweise den Ansatz, dass künftig Beziehungen und nicht staatliche Akteure entscheidend in der Geopolitik sein werden. Große Projekte wie die Neue Seidenstraße (Belt and Road Initiative), aber auch Formate wie das Forum für China-Afrika-Kooperation oder die 16+1-Treffen mit osteuropäischen Ländern fokussieren auf Beziehungspflege und dienen schlussendlich dem Ziel, dass eine positive Entwicklung in den beteiligten Ländern der Stabilität Chinas dienlich ist. Ein Ansatz, der den Europäer grundsätzlich nicht fremd sein sollte – war dies doch auch die Motivation für die Entwicklung der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP), die 2004 von der EU mit ihren Nachbarländern initiiert wurde. Allerdings zog Stefan Lehne, Außenpolitikexperte und intimer Kenner der EU, bereits 2014 dazu eine eher bittere Bilanz: „Zehn Jahre nach dem Start der ENP ist es klar, dass diese Politik nicht funktioniert.“ Grund dafür seien unter anderem Mängel in der grundsätzlichen strategischen Konzeption und mangelnde Flexibilität bei veränderten Rahmenbedingungen.
  • Der Klimawandel ist vor allem eine Herausforderung, kann aber auch Anlass zu strategischen Überlegungen geben. Als die chinesische Regierung Anfang 2018 das „Weißbuch zur Arktis“ präsentierte, stand dort folgendes zu lesen: „Infolge der globalen Erwärmung werden die arktischen Schifffahrtsrouten voraussichtlich zu wichtigen Transportrouten werden.“ Das könnte schon in 30 Jahren soweit sein. China ist allerdings nicht erst 2018 aktiv geworden, sondern hat bereits zwischen 2005 und 2017 in den Arktisregionen rund 90 Millilarden Dollar in Infrastruktur, Energieförderung und Finanzkooperationen investiert. Handelsrouten und Infrastruktur waren und sind von essenzieller Bedeutung für jeden globalen Akteur – und die von China beobachteten Folgen der Erderwärmung sind kein Geheimwissen.

Die EU und China: too little, too late

Fast müsste man sich den Tag rot einringeln: am 12. März 2019 veröffentlichte die EU-Kommission – noch unter ihrem damaligen Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker – ihren strategischen Ausblick EU-China. Das Besondere daran war, dass dieses Papier den Begriff „Strategie“ durchaus verdiente. Dementsprechend knackig las sich der Text: China könne nicht mehr länger als Entwicklungsland angesehen werden. In einigen Bereichen – etwa dem multilateralen Ansatz und dem Bekenntnis zu offenem Welthandel – stehe man China durchaus partnerschaftlich gegenüber. Was aber beispielsweise wechselseitigen Marktzugang oder den Schutz kritischer Infrastruktur anbelangt, sei China ein Mitbewerber. Als Vertreter eines anderen Regierungssystems repräsentiere China allerdings auch einen systemischen Rivalen. Ein erstes konkretes Ergebnis im Rahmen dieser Strategie gelang am vorletzten Tag der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, dem 30. Dezember 2020: nach siebenjährigen Verhandlungen konnte ein Investitionsabkommen zwischen der EU und China zum Abschluss gebracht werden, das zumindest in Wettbewerbsfragen zu mehr Fairness beitragen sollte – so es je von allen EU-Staaten ratifiziert wird.

Westliche Politiker blicken oft neidvoll ins Reich der Mitte, in dem langfristige Planung nicht nur möglich, sondern auch machbar scheint.

Das Zustandekommen dieses Abkommens ist zu einem guten Teil der langjährigen Beziehungsarbeit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel mit ihren chinesischen Gegenübern geschuldet. Sie hat die Gratwanderung gemeistert, die in Europa geforderte Politik der Werte mit einer nüchternen Politik der Interessen gegenüber China zu verbinden – unter Gesichtswahrung aller Beteiligten. Eine Leistung, die auch in China gewürdigt wird. Denn dort ist man keineswegs naiv, was die Einstellung der Europäer zu China anbelangt.

Ding Yifan vom China Development Research Center – ein Beratungsorgan des Staatsrates, also der obersten politischen Führung – gibt sich keinen Illusionen hin: „Bedenkt man die derzeitige Lage der europäischen Anführer und außerdem den Umstand, dass die öffentliche Meinung in Europa über China nicht allzu gut ist, dann wird China in Zukunft höchstwahrscheinlich zur Zielscheibe für Angriffe aus Europa, denn die europäischen Anführer besitzen nicht die Fähigkeit, die Volksmassen anzuleiten, und auch nicht den Willen, die Volksmassen zu überzeugen, sondern sie werden auf die öffentliche Meinung eingehen, sich unter ihrem Deckmantel verteidigen und höchstwahrscheinlich China zum Sündenbock machen.“

Die Rechnung ist kurz und ernüchternd: Europa braucht China mehr als China Europa. Corona mag derzeit das Reisen erschweren, aber auf einen Ortswechsel des Denkens könnten sich die Europäer jederzeit einlassen – auch das schafft neue Perspektiven.

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Conclusio

In Europa wird Chinas Politik stets nach eigenem Maßstab gemessen. Dabei wird außer Acht gelassen, dass in China nicht nur die Führung, sondern auch die breite Masse eine andere und positivere Einstellung zu Staatsmacht hat, als man im Westen annimmt. Viele Chinesen folgen freiwillig der autoritären Führung, so lange diese den wirtschaftlichen Fortschritt vorantreibt. Das ermöglichte Peking etwa die effektive Eindämmung der Pandemie durch kurze, aber harte Lockdowns. Außerdem ist die Regierung abseits eines kurzlebigen politischen Zyklus in der Lage, langfristige Strategien zu verfolgen. Ein Perspektivenwechsel in Europa wäre wichtig, um das Reich der Mitte nicht zu unterschätzen.