Europa, bitte weiterwursteln

Die Errungenschaften der EU folgen keinem Masterplan, sondern basieren auf mühseliger Kleinarbeit im Angesicht von Krisen. Dieser Weg hat sich bewährt.

Würstchen auf EU-Teller
Das Durchwursteln der EU wird von Kritikern belächelt, hat sich jedoch stets bewährt. © Michael Pleesz
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Auf den Punkt gebracht

  • Unter Druck. Die EU wurde in Reaktion auf den Zweiten Weltkrieg gegründet – und hat sich seither vor allem im Angesicht von Krisen weiterentwickelt.
  • Erfolgsgeschichte. Oft wird die vermeintliche Behäbigkeit der Union kritisiert. Das verkennt aber die Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte.
  • Stressresistenz. Ob Finanzkrise, Flüchtlingskrise oder Coronakrise: Wenn es darauf ankam, war Europa noch immer zu konsequenten Entscheidungen bereit.
  • Weiter so. Der Krieg in der Ukraine wird das nicht ändern. Im Gegenteil: Er wird die europäische Integration nun auch in militärischer Hinsicht vorantreiben.

Der russische Krieg gegen die Ukraine machte möglich, was vorher kaum denkbar war: Die EU finanziert Waffenlieferungen an die Ukraine. Und anders als bisher zeigen sich viele Mitgliedsstaaten solidarisch bei der Aufnahme und Verteilung von Kriegsflüchtlingen. Doch ein Blick auf die Entstehungsgeschichte zeigt, dass Europa stets durch Krisenbewältigung vorankam.

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Dadurch entstand binnen weniger Jahrzehnte der größte Binnenmarkt und damit zugleich der größte Arbeitsmarkt der Welt, aber auch der wichtigste „Knoten“ im Geflecht der grenzüberschreitenden Handelsströme. Der Euro stieg zur zweitwichtigsten globalen Reservewährung auf. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten finanzieren heute rund die Hälfte der weltweiten Entwicklungszusammenarbeit

Verbündete statt Feinde

Am Beginn der Europäischen Integration stand nicht der Freihandel, sondern der Wunsch, einen weiteren großen Krieg zu verhindern. Vor allem Frankreich hatte ein vitales Interesse, die Schwer- und Rüstungsindustrie Deutschlands zu kontrollieren. Zugleich erforderte die Logik des Kalten Krieges eine beschleunigte Westintegration und Wiederaufrüstung Deutschlands. Die Alternative dazu wären nämlich deutsche Wiedervereinigung, Neutralität und weitgehende Demilitarisierung nach dem Vorbild Österreichs gewesen. 

Stattdessen wurden die Weltkriegsgegner Deutschland und Frankreich zu Verbündeten. Um sie herum gruppierten sich Italien und die Benelux-Staaten. Anders als nach den Kriegen von 1871 und 1918 kamen in Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 keine Politiker mit einer „Revanche“-Agenda an die Macht, die auf eine gewaltsame Rückeroberung „verlorener“ Gebiete abzielte. 

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Zahlen & Fakten

Made with Flourish

Nur dadurch konnte die europäische Einigung zu einem Friedensprojekt werden. Zum ersten Mal in der Geschichte der Neuzeit gab es zwischen den Staaten West- und Mitteleuropas über Jahrzehnte – und bis heute – keine gewaltsamen Auseinandersetzungen. Dies war auch dem Kalten Krieg und der NATO geschuldet, als deren ziviles Gegenstück man die EU durchaus begreifen kann. Denn die europäische Integration trug erheblich zur Attraktivität des Westens und zur kollektiven Sicherheit auf unserem Kontinent bei. Auch deshalb trifft uns der Überfall Russlands auf die Ukraine wie ein Schock. Viele begreifen erst jetzt, dass es die NATO und EU braucht, um unseren „Way of Life“ zu verteidigen.

Krisen als Entwicklungsmotor 

Seit den 1970er-Jahren verlief die europäische Integration in zwei Richtungen. Zum einen expandierte die EU durch Aufnahme neuer Mitglieder. Zum anderen vertiefte sich die institutionelle Zusammenarbeit zwischen den Staaten, und der Handlungsspielraum der Europäischen Kommission wuchs. Die gemeinsame Agrarpolitik, die uns heute zu Recht als dysfunktional erscheint, entstand als Antwort auf die teils prekäre Nahrungsmittelversorgung in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Zollunion legte den Grundstein für den europäischen Binnenmarkt und war der entscheidende Schritt gegen den durchaus populären Protektionismus.

Im Rückblick zeigt sich, wie viel die EU an Integration durch ihr ‚durchwursteln‘ gewonnen hat.

Seit 2002 haben wir mit dem Euro eine gemeinsame Währung, die nicht bloß Zahlungsströme erleichtert und Wechselkursschwankungen innerhalb der EU beseitigt, sondern auch spekulative Attacken von außen erschwert. Die Finanzkrise führte nicht nur zur Gründung des ESM-Fonds zur Rettung überschuldeter EU-Staaten, sondern auch zu gemeinsamen Regeln zur Abwicklung illiquider Banken. Seit drei Jahren haben die Mitgliedsstaaten verbindliche Klima- und Emissionsziele für die erste Hälfte des 21. Jahrhunderts festgelegt. Die Pandemie ermöglichte es der Europäischen Kommission 2021 erstmals, gemeinsam für alle EU-Staaten Geld auf den Kapitalmärkten aufzunehmen. 

Die nächsten Herausforderungen 

Manche dieser Integrationsschritte beruhten auf jahrelangen Vorbereitungen. Aber das meiste entstand als Ad-hoc-Antwort auf aktuelle Herausforderungen und Krisen. Weil hier nicht die große Vision Pate stand, wurde dies als „durchwursteln“ belächelt oder sogar verspottet. Doch im Rückblick zeigt sich, wie viel an Integration gewonnen wurde. Einen wirklichen Rückschlag bedeutete allerdings der Austritt Großbritanniens.

Die wahrscheinlichste Zukunft der Europäischen Union ist daher ein „Weiter so“. Das bedeutet nicht unbedingt ein Festhalten am Status quo, sondern mühsame und kleine Schritte, aber auch Blockaden in ruhigen Zeiten und größere Sprünge bei der Integration in Krisenzeiten. Dieser völlig unheroische Pragmatismus hat die europäische Integration in den vergangenen Jahrzehnten vorangebracht und wird dies auch in Zukunft tun.

Die nächsten Aufgaben liegen auf dem Tisch. Wir benötigen militärische Kapazitäten – auch solche, die notfalls ohne US-Unterstützung einsetzbar sind. Wir brauchen strategische Reserven an Energie. Und wir müssen viel mehr in Klimaschutzmaßnahmen investieren. „Weiter so“ bedeutet, dass uns die nächsten großen Herausforderungen und Krisen dazu bringen werden.

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Conclusio

Die Vorläufer der Europäischen Union wurden gegründet, um den Horror der Weltkriege nie wieder zu erleben. Seither finden die Mitgliedsstaaten meistens zusammen, wenn sie vor großen gemeinsamen Herausforderungen stehen. Zwischendurch herrscht Blockade und Brüssel erweckt den unpopulären Endruck, Harmonisierung als Selbstzweck voranzutreiben. Aber der Krieg in der Ukraine bündelt einmal mehr die Interessen: Wie sich nun zeigt, ist der Ausbau gemeinsamer militärischer Kapazitäten keine Ressourcenfrage, sondern eine der Koordination und Bereitschaft. Die Geschichte lehrt, dass die EU in Krisenzeiten ihren Worten auch Taten folgen lässt – und dass dieses Vorgehen ein Erfolgsrezept ist, an dem sie festhalten sollte.