Flüchtlinge als Faustpfand

Die Türkei ist das größte Aufnahmeland für Flüchtlinge weltweit. Inmitten einer der größten Wirtschaftskrisen des Landes sind die Geflüchteten ein politisches Instrument für Präsident Erdogan – gegenüber der eigenen Bevölkerung und der EU.

Flüchtlinge in und vor einem LKW-Anhänger in der Türkei
Türkei, Sommer 2020: Nicht immer nehmen Fluchtversuche ein so glimpfliches Ende. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Rekordzahlen. Die Türkei hat weltweit die meisten Flüchtlinge aufgenommen. Der Großteil von ihnen kommt aus den Krisenregionen im Nahen Osten.
  • Stimmungswechsel. Stand für die türkische Bevölkerung anfangs noch außer Frage, den Nachbarn in Not helfen zu wollen, wird die Haltung nun negativer.
  • Spielball. Statt die zugrundeliegende Wirtschaftskrise zu lösen, instrumentalisiert Ankara die Geflüchteten regelmäßig zum Druckmittel gegen die EU.
  • Realpolitik. Europa hält an den Vereinbarungen mit der Türkei mit Blick auf die Lage in Osteuropa und in Afrika fest.

Der türkische Außenminister braucht starke Nerven. Er kann von problemlosen Nachbarschaftsbeziehungen, wie sie etwa Österreich mit allen seinen Nachbarn hat, nur träumen. Hinter der 900 Kilometer langen türkischen Mauer zu Syrien tobt seit zehn Jahren der Krieg. Dahinter stehen unter anderem russische und amerikanische Truppen, von Dschihadisten aller Couleurs, PKK-Auslegern und Kämpfern aus dem Iran ganz zu schweigen. Im Westen ein NATO-Partner, mit dem man über die Grenzziehung und Gas-Bohrrechte im Mittelmeer streitet. Im Norden die Ukraine und Russland, jeder für sich ein wichtiger Partner, den man nicht vor den Kopf stoßen will.

Es ist aber Syrien, wo sich die höchsten Einsätze auftürmen: Präsident Baschar al-Assad hat den Krieg gewonnen, aber er ist noch nicht vorbei. Vorerst und weiterhin sind im nordwest-syrischen Idlib circa dreieinhalb Millionen Menschen eingepfercht. Diejenigen, die dort – oft religiös inspiriert – Widerstand gegen Damaskus leisten, werden noch von Assad verschont, aber wohl nur dank stiller Abmachungen zwischen Ankara und Moskau. Sollten diese platzen, könnten erneut Menschenmassen in der angrenzenden Türkei Zuflucht suchen. Dabei ist diese mit rund vier Millionen Flüchtlingen auf ihrem Territorium schon seit 2014 ohnehin das Land mit den meisten Flüchtlingsaufnahmen der Welt.

Europas „Türhüter“

Als der vom Westen, auch von der Türkei, ab 2012 unterstützte – und als sicher erwartete – Sturz Assads in Syrien nicht stattfand und sich Präsident Barack Obamas Kriegsdrohungen gegen ihn als hohl erwiesen, stieß Russland 2013 dauerhaft in das entstandene Vakuum vor. In diesen Jahren flüchteten Millionen Syrer in die Türkei, den Libanon und nach Jordanien und von da aus auch weiter in die EU. Ab circa 2014 kam die Dschihadistenorganisation „Islamischer Staat", die eine Zeitlang halb Syrien beherrschte, als Fluchtmotiv hinzu. In die Türkei kamen Menschen anfangs als „Gäste“, wie man sagte, und ab 2014 auf Grundlage des „Gesetzes über Ausländer und internationalen Schutz“. Dieses Gesetz beruht zwar auf der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 – doch die Türkei hatte bei deren Ratifizierung in den 1960er-Jahren den Vorbehalt geltend gemacht, sie nur auf Flüchtlinge aus Europa anzuwenden.

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Zahlen & Fakten

Jedenfalls stampfte die Türkei entlang der Grenze zu Syrien Flüchtlingslager aus dem Boden, doch schon bald verteilte sich das Gros der Hereinströmenden quer über das Land. Heute lebt nur mehr ein Prozent in Lagern, aber ganze Viertel von Istanbul, Ankara und Gaziantep sind syrisch geprägt. Zwar ist die Türkei an Fläche und an Einwohnern etwa zehnmal so groß wie Österreich, doch die schiere Zahl an Geflüchteten bleibt eine Herausforderung. Aktuell hoffen weitere hunderttausende Flüchtlinge auf ein Leben in der EU oder der Türkei – auch wenn der Großteil nicht mehr aus Syrien stammt, sondern sich aus Afghanistan und Südasien bis in den Iran durchgeschlagen hat.

Unorthodoxer Deal mit der EU

Hilfe für die Geflohenen kam anfangs in hohem Maße von den Vereinten Nationen. António Guterres, damals Chef des UN-Flüchtlingskommissariats (UNHCR), war Dauergast in der Türkei. Gemeinsam mit dem World Food Program stellte man ein großartiges System aufladbarer Kreditkarten für Flüchtlinge auf die Beine, das ihnen ein motivierendes, würdevolles Einkaufen und die eigene Zubereitung von Speisen ermöglichte. Seit der „EU-Türkei-Erklärung“ vom 18. März 2016 kam substanzielle finanzielle Unterstützung der EU zugunsten der Syrer in der Türkei hinzu.

Gleichzeitig übernahm es Ankara, die Weiterreise insbesondere von Syrern nach Europa zu unterbinden. Dieser für die EU entscheidende Teil der Vereinbarung funktioniert seither im Wesentlichen, allerdings bekrittelt Ankara die schleppende Erfüllung der politischen Elemente des Deals. Konkret handelt es sich dabei um:

  • die Wiederaufnahme des hochrangigen Dialoges EU-Türkei,
  • das Angehen der Modernisierung der Zollunion EU-Türkei,
  • ein Resettlement-Programm in die EU, und
  • neuen Schwung für die EU-Beitrittsverhandlungen.

Als Botschafter in Ankara hatte ich 2015/2016 Gelegenheit, das unorthodoxe Zustandekommen der Einigung zwischen EU und Türkei aus nächster Nähe zu begleiten. Einiges ließ sich daraus lernen: Die EU schaffte es in größter Bedrängnis – die Flüchtlingskrise in Europa brach fast täglich neue Rekorde – rasch und unkonventionell Gespräche zu führen und abzuschließen. Unter normalen Umständen hätte sie dafür Jahre der Willensbildung benötigt.

Stattdessen kam es zu einem Sieg der Vernunft und Diplomatie: Angela Merkel, Frans Timmermans (Europäische Kommission), Mark Rutte und Diederik Samsom (Niederländischer EU-Ratsvorsitz) und Ahmet Davutoğlu (der türkische Premierminister) fanden eine austarierte Formel, deren Elemente zuvor vom Think Tank European Stability Initiative des Österreichers Gerald Knaus klug aufbereitet wurden. Der EU-Türkei-Deal wurde zum eindrücklichen Beweis, dass die EU und die Türkei nicht nur aufeinander angewiesen sind, sondern – wenn es hart auf hart geht – auch gemeinsam Lösungen erzielen können, unbeschadet der notorischen Probleme in den Beziehungen und der oft unfreundlichen Rhetoriken.

Die Fronten verhärten sich

Die türkische Bevölkerung blickte zu Beginn noch mit Empathie auf die vorerst wenigen Flüchtlinge aus Syrien. 2011 erwarteten alle einen raschen Sturz der Assad-Dynastie, nach dem Muster Tunesiens und Ägyptens. Die türkische Führung – Erdogan war damals Premier – bestärkte und unterstützte diese Haltung. Immerhin ging es um „Nachbarn in Not“. Die Hauptoppositionspartei CHP, traditionell laizistisch beziehungsweise industrie- und militärnahe, kritisierte zwar konsequent die klare Anti-Assad-Linie der türkischen Außenpolitik, konnte oder wollte aber der „Flüchtlingspolitik der offenen Arme“ nicht ernsthaft entgegenhalten.

Über die Jahre mehrten sich allerdings die Fragen, auf die es keine Antwort gibt: Wie viele der Geflüchteten werden wieder zurück nach Syrien gehen können oder wollen? Wie viele von ihnen werden bleiben und sich assimilieren? Werden die syrischen Geflüchteten dauerhaft akzeptiert werden? Oder wird sich die Lage im Gegenteil bald verschärfen? Wie wird Syrien in zehn, in 20 Jahren mit den Geflüchteten umgehen – und umgekehrt? Im Moment gilt: Alles ist im Fließen, solange Syrien, der Iran, Irak und Afghanistan nicht zur Ruhe kommen. Die nun von Ankara auch an der Grenze zum Iran aufgezogene Mauer unterstreicht dabei die Brisanz der Migrationsfrage, zuallererst für die Türkei.

Soldaten und eine Drohne an der befestigten Grenze zwischen der Türkei und dem Iran
Die Grenze zum Iran wird zunehmend stärker befestigt. © Getty Images

Die türkische Verwaltung behielt die Lage im Wesentlichen im Griff, ab 2014 auf Basis des im Einklang mit der EU entstandenen Ausländergesetzes samt Definierung des Rechts auf Arbeitsaufnahme und medizinischen und sozialen Schutz. Von Anfang an war die Realität allerdings durch großflächige Schwarzarbeit und Lohndumping samt Spannungen mit den Einheimischen geprägt, wenngleich sich parallel auch Unternehmertum und Investitionen der keineswegs immer mittellosen „Gäste“ bemerkbar machten. Heute haben von den insgesamt 3,74 Millionen Syrern in der Türkei etwa ein bis 1,3 Millionen eine Arbeit. Es kamen 700.000 Kinder zur Welt und 37.000 Syrerinnen und Syrer studieren an türkischen Universitäten.

Bewährungsprobe für Präsident Erdogan

Im Wahlkampf für die Gemeindewahlen 2019 kritisierte die CHP-Opposition erstmals frontal die Ausländerpolitik Recep Erdogans. Ihm wurde unterstellt, durch Einbürgerung im großen Stil sein Stimmenreservoir aufzufüllen. Vor allem aber verwies man auf die überstrapazierte Aufnahmefähigkeit der Türkei und verlangt seither die ehestmögliche Rückkehr der Geflüchteten. Viele in der Türkei stoßen sich zudem am vereinfachten Erwerb der türkischen Staatsbürgerschaft allein aufgrund Immobilienkaufs. Vor allem Migranten aus dem arabischen Raum, Iraner und Russen bürgern sich auf diese Weise ein. Als die Polizei die ersten „Neu-Türken“ unter Terrorismusverdacht aufgriff, gingen die Emotionen hoch.

Das „Ausländerthema“ spielte wohl eine Rolle dabei, als in Istanbul und anderen Großstädten – darunter Ankara, Izmir, Antalya und Eskişehir – die Bürgermeistersessel an die Opposition fielen. Gleichzeitig nimmt Istanbul, heute bereits die größte Stadt Europas, seit Jahrzehnten Millionen von Zuwanderern auf. Man sollte meinen, die syrischen Flüchtlinge würden in der Bosporus-Metropole ebenso aufgehen, wie einst die Europäer, die in New York von Bord gingen. Zudem hat die Türkei eine lange Tradition der Flüchtlingsaufnahme: Nach 1492 nahm das Osmanische Reich an die 200.000 aus Spanien vertriebene Juden auf, 1783 rund 80.000 Krimtataren. Als es 1918 parallel zu Österreich-Ungarn zusammenbrach, strömten Millionen aus allen Richtungen in das geschrumpfte Land.

Die Flüchtlinge sorgen für sozialen Sprengstoff, sind so aber auch ein Druckmittel gegenüber der EU.

Der letztliche Gesamteffekt des jüngsten Bevölkerungszustroms in die Türkei ist derzeit noch schwer abschätzbar. Impulsen für Demographie und Wirtschaft steht das Anwachsen von sozialem Sprengstoff beziehungsweise die Belastung des Staates gegenüber. Gleichzeitig sind die Fremden ein Druckmittel gegenüber der EU – und, soweit eingebürgert, vermutlich Wähler von Recep Erdogans Partei AKP. Oder aber ein für die Regierungspartei unangenehmes Wahlkampfthema der Opposition bei der Präsidentschaftswahl 2023.

Die Türkei durchläuft im Moment eine tiefe Wirtschafts- und Finanzkrise. Laut Umfragen hätte Erdogans AKP mit ihrem nationalistischen Koalitionspartner bei Wahlen heute keine Mehrheit mehr und muss sich daher für den Urnengang 2023 etwas einfallen lassen – noch dazu, wo die Erwartungen für die Begehung des 100-jährigen Staatsjubiläums seit Jahren hoch und höher geschraubt wurden. Dabei ist die Geschichte der Türkischen Republik durch Krisen, Drangsalierung von Minderheiten und Militärputschs gekennzeichnet – aber eben auch durch Wirtschaftswunder-Phasen, Modernisierungsschübe und eine Bevölkerungsexplosion von 13,7 Millionen Menschen im Jahr 1927 auf heute 84 Millionen.

Die Türkei als unverzichtbarer Partner

Das NATO- und G-20-Mitglied Türkei zählt im Nahen Osten neben Iran und Saudi-Arabien zu den aufstrebenden Mittelmächten. Gleichzeitig ist es auch wirtschaftlich und durch eine Fünf-Millionen-Diaspora in Europa mit unserem Kontinent eng verwoben. Angesichts der Ukraine-Krise wird man sich innerhalb der NATO des Wertes der Türkei als potentiellen Moderators gegenüber Russland zunehmend bewusst, gerade weil die Türkei mit der Ukraine freundschaftliche Beziehungen unterhält und ihr begehrte Kampfdrohnen liefert. Zwar trennt die Türkei und Russland ein scharfer Gegensatz betreffend Syrien, doch gleichzeitig kooperieren Moskau und Ankara wirtschaftlich eng – vom Obst- bis zum Waffenhandel, vom Tourismus bis zur Errichtung des ersten türkischen Atomkraftwerks durch ROSATOM.

Zweifellos muss sich die Türkei auch deswegen mit Moskau arrangieren, weil dieses bei der näher kommenden Verteilung des großen syrischen Wiederaufbau-Kuchens maßgeblich mitreden dürfte – ein Thema, über das man sich auch in Europa langsam Gedanken macht. Die türkische Innenpolitik wird den weiteren Verlauf der (noch?) kleinen Völkerwanderung in Richtung Türkei zwar naturgemäß mitprägen, doch ausschlaggebend ist das „große Spiel“ der Kräfte zwischen NATO, Russland, Ukraine sowie Iran und Israel. Im Hintergrund geht es um Rohstoffe, Märkte, Handels- und Verkehrswege – und eben Syrien: Auch China und Europa mischen dabei mit, wobei sich der Fokus langsam in Richtung Afrika verlagert.

Dass zum Beispiel Turkish Airlines mittlerweile von allen Luftlinien die meisten afrikanischen Destinationen anfliegt, ist kein Zufall, sondern Teil einer langfristigen, politischen Strategie von Staat und Wirtschaft. Für Europa wird die Türkei auch in Afrika – je nachdem – zum wichtigen Partner oder zum unangenehmen Konkurrenten werden. Das ist nur ein weiteres Argument für uns, einen umfassenden – das heißt nicht nur auf den Bereich Migration beschränkten – und dabei nüchternen und möglichst partnerschaftlichen Kurs gegenüber der Türkei anzusteuern. Denn ob wir es nun (wahrhaben) wollen oder nicht: Die Türkei ist seit rund 700 Jahren auch eine europäische Macht, mit der uns nicht nur eine bewegte Geschichte verbindet, sondern auch die Zukunft.

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Conclusio

Die Türkei ist ein Land von enormer geostrategischer Bedeutung – und positioniert sich zunehmend als aufsteigende Regionalmacht, die bei der internationalen Mächteordnung mitmischen, nicht zusehen will. Im Versuch, eine dauerhafte Neuverteilung der Machtrollen im Mittelmeerraum und in Afrika zu erzwingen, nutzt das Land auch gerne seine Lage als Durchgangs- und Aufnahmeland von Flüchtlingen als Druckmittel gegenüber der EU. Insgesamt vier Millionen Flüchtlinge leben inzwischen in der Türkei, der Großteil von ihnen stammt aus Syrien. Deren Integration lief zu Beginn weitestgehend problemlos, doch vor dem Hintergrund der anhaltenden Wirtschaftskrise in der Türkei verschärfen sich auch die sozialen Spannungen im Land. Ankara könnte dem entgegenhalten – aber noch sieht die Regierung den größeren Profit darin, es nicht zu tun.