Es geht in die Stadt, nicht nach Europa

Die kommende Migrationswelle wird die letzte sein und die Menschen nicht nach Europa, sondern in die Städte führen. Die Industrieländer sollten weltweit in urbane Lebensräume investieren, die den Menschen Perspektiven bieten. Das lohnt sich – auch für den Westen.

Foto eines jungen Mannes, der an dem Schriftzug Addis Abeba vorbei über einen Platz geht.
Straßenszene in Addis Abeba, Äthiopien. Das afrikanische Land hat etwa 800.000 Flüchtlinge aufgenommen. Zugleich gibt es 1,8 Millionen Binnenvertriebene. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Bevölkerungswachstum. 2050 werden laut Prognosen der UNO rund zehn Milliarden Menschen auf der Erde leben.
  • Letzte Urbanisierungswelle. Die zusätzliche Bevölkerung drängt in die Städte, die Allermeisten wollen im eigenen Land oder auf dem eigenen Kontinent bleiben.
  • Prävention von Slums. Der Westen könnte weltweit neue urbane Lebensräume fördern, die Schutz und Infrastruktur bieten.
  • Pilotprojekt. In Äthiopien entsteht die erste Sonderentwicklungszone, die von lokalen Behörden und internationalen Investoren verwaltet werden soll.

Europa blickt gebannt auf seine Außengrenzen. Sei es in Belarus, im Mittelmeer oder dem Atlantik, überall versuchen Vertriebene oft unter Lebensgefahr in die Union zu gelangen in der Hoffnung auf Asyl. Regelmäßig werden die tragischen Schicksale medial von einer Schreckenszahl begleitet: Seit dem Zweiten Weltkrieg waren nicht mehr so viele Menschen weltweit auf der Flucht.

Dabei sind diese Menschen nur ein Teil einer viel größeren demographischen Veränderung, die an den meisten westlichen Zeitungslesern und Entscheidungsträgern vorübergeht. Fast ein Drittel der Weltbevölkerung macht sich in den kommenden Jahrzehnten auf den Weg, ihr Ziel ist die Stadt.

Die letzte Urbanisierung

Derzeit leben fast acht Milliarden Menschen auf der Welt. Etwa 30 Millionen Personen gelten laut Genfer Flüchtlingskonvention als Flüchtlinge, Asylberechtigte oder staatenlos. Weitere 50 Millionen wurden im eigenen Land durch Krisen und Konflikte vertrieben. In den kommenden Jahrzehnten wird die Bevölkerung vor allem in Afrika und Teilen Asiens derart wachsen, dass wir am Höhepunkt zehn Milliarden Erdenbürger zählen. Davon werden geschätzt drei von vier Personen in urbanen Gebieten leben. In Städten stabilisiert sich das Bevölkerungswachstum erfahrungsgemäß, somit steht die Welt vor der letzten großen Welle der Urbanisierung.

Allein Deutschland bräuchte jedes Jahr 400.000 Einwanderer, um die demographische Lücke zu schließen.

Laut Prognosen werden zusätzliche zwei bis drei Milliarden Menschen in Städten leben. Die Mehrheit will im eigenen Land oder auf dem eigenen Kontinent bleiben. Ein kleiner Teil wird versuchen nach Europa und andere Weltregionen zu migrieren. Diese Urbanisierung ist die große Herausforderung, der wir uns stellen müssen.

Reguläre Arbeitsmigration kaum möglich

Der europäische Fokus auf das Asylverfahren als Eintrittskarte führt zwangsläufig dazu, dass das System mit Menschen überlastet ist, die darin nichts verloren haben. Viele erhalten kein Asyl oder subsidiären Schutz, müssen aber geduldet werden. Das Resultat: eine Masse von unregulierten, illegal gewordenen Personen teilen sich über Europa auf. Junge Männer etwa aus Bangladesch oder Pakistan werden quasi gezwungen an der Grenze um Asyl anzusuchen, statt sich als motivierter Bäcker, Elektriker oder Lkw-Fahrer zu outen. Dass sie es trotzdem versuchen, liegt an Europas Arbeitsmarkt, der ein attraktiver Pull-Faktor ist.

Allein Deutschland bräuchte jedes Jahr 400.000 Einwanderer, um die demographische Lücke zu schließen. Es sind nicht nur hochqualifizierte Experten, die gebraucht werden, sondern auch Arbeitskräfte im Dienstleistungssektor. Die Mitgliedsstaaten haben ein Wirrwarr aus Einwanderungsgesetzen für Arbeitsmigranten, die viel zu komplex und in der Praxis kaum anwendbar sind. Ein mir bekannter Tunesier, der in Deutschland eine Stellenzusage hatte, musste 15 Monate Behördenwege durchlaufen, bis er seine Tätigkeit aufgreifen konnte – kein Einzelfall.

Derzeit bleibt vielen Einwanderern nichts übrig, als es über das Asylsystem zu versuchen.

Die EU müsste klare Wege schaffen, wie arbeitswillige Menschen regulär jene Nachfrage bedienen können. Derzeit bleibt vielen Einwanderern nichts übrig, als es über das Asylsystem zu versuchen. Europa müsste durch Migrationspartnerschaften gezielt rekrutieren, Kontingente festlegen und Ausbildungen vor Ort finanzieren, statt nur auf Schutz und Abschirmung zu achten. Damit wäre der ganze Frust aus dem System genommen. Einheimische sind viel gewillter, offiziell rekrutierte Arbeitssuchende aufzunehmen als illegale Einwanderer, die über Grenzzäune klettern, selbst wenn es sich um dieselben Personen handelt.

Doch angesichts der Herausforderung ist ein überfälliges Umdenken bei der europäischen Einwanderungspolitik nur ein kleiner Beitrag zu einer Lösung. Neue urbane Lebensräume, die eine bessere Alternative bieten als der Status quo, sind notwendig.

Vertriebene kehren selten heim

Während meiner Arbeit in den Flüchtlingscamps Dadaab in Kenia und Zaatari in Jordanien, konnte ich beobachten, wie sich Vertriebene im Exil verändern. Selbst jene, die einen rechtlich anerkannten Asylschutz genießen, werden nicht mehr in ihre Dörfer zurückkehren. Ähnlich, wie auch die nach dem zweiten Weltkrieg Vertriebenen nicht mehr in ihre alte Heimat gingen. Rund 13 Millionen Deutsche, die aus den Ostgebieten in den Westen kamen, haben Jahrzehnte von Rückkehr geredet. Doch nach dem Mauerfall ging fast keiner zurück. Und wenn, dann bestimmt nicht aufs Land. Auch in Afghanistan sind viele Vertriebene nach der Intervention der USA zurückgekehrt, aber nicht in ihr altes Dorf, sondern in die Städte. Das facht Urbanisierung an.

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Zahlen & Fakten

Städte haben immer schon Schutz und Perspektive geboten. Dafür gibt es historisch etliche Beispiele. Schon Venedig wurde in der Lagune gebaut, um Zuflucht vor den Barbaren – darunter die damaligen Bewohner des heutigen Deutschlands und Österreichs – zu suchen. In Beirut entstand das Armenierviertel. Während des jüngsten Kriegs im Irak und des Bürgerkriegs in Syrien flohen hunderttausende Menschen in die Städte Jordaniens, wo sie illegal untertauchten und sich als Schwarzarbeiter verdingten.

Irgendwann wuchs die Situation der Regierung in Amman über den Kopf. Außerdem entging dem Land viel Unterstützung durch Geber und NGOs, die vor allem dort aktiv werden, wo es offizielle Flüchtlinge gibt. Daher errichtete man unter anderem das Zaatari Flüchtlingslager, betreut von der Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen. Aufbau und Leitung wurden mir übertragen.

Luftbild des Flüchtlingslager Zaatari in Jordanien
Eine Luftaufnahme des Flüchtlingslagers Zaatari in Jordanien. Rund 80.000 Menschen leben hier seit vielen Jahren. © Getty Images

Mit der Errichtung eines Camps wurde das Narrativ verstärkt, hier würden vorübergehend Kriegsflüchtlinge versorgt, bis sie wieder Nachhause können. Das Camp besteht seit bald einem Jahrzehnt, es ist eine der größten permanenten Siedlungen des Landes außerhalb der Hauptstadt.

Leben statt warten

Viele Syrer, die in das Camp kamen, waren unzufrieden. Bei einem Besuch des damaligen US-Außenministers John Kerry warfen sie den Geberländern vor, dass sie in Zelte und Container gesteckt werden. Als während des ersten Golfkriegs Iraker nach Syrien flohen, wurden Wohnungsanlagen gebaut, die heute noch stehen.

Tatsächlich hätte man mit den 100 Millionen Dollar, die für die Flüchtlingsunterkünfte im Camp ausgegeben wurden, einen Fonds speisen können, der den Bau kleiner Häuser oder Wohnungen finanziert, die Jahrzehnte bestand hätten. Stattdessen hat man Quartiere, die alle zwei bis drei Jahre ausgetauscht werden müssen.

Vor allem hätten feste Wohnungen den Menschen ein urbanes Umfeld geben, in dem sie ein ihr neues Leben aufbauen können. Trotzdem versuchten wir so gut es geht, urbane Strukturen zu schaffen, mit Haupt- und Nebenstraßen sowie Bezirken. Die Stadt Amsterdam half, weil wir Entwicklungshelfer keine Expertise hatten, wie man eine permanente Siedlung am besten mit Strom und Wasser versorgt.

Ab 2016 bot die jordanische Regierung den Syrern eine Arbeitserlaubnis in den bestehenden Sonderwirtschaftszonen an. Für diesen sogenannten „Jordan Compact“ hatte sich mitunter die EU stark gemacht und Jordanien zahlreiche Handelserleichterungen für dort produzierte Güter eingeräumt.

Produktive Flüchtlingsstädte

Die Erfahrung von Jordanien legte nahe: Warum verbindet man nicht Flüchtlingsstädte mit Sonderwirtschaftszonen und etabliert sie überall dort, wo Vertriebene in Städte drängen, egal aus welchen Gründen. Aus dieser Überlegung entstand das Konzept von Sonderentwicklungszonen (SDZ).

Kein gutes, aber dennoch ein Beispiel sind die Vereinigten Arabischen Emirate, die neun Millionen Migranten aufgenommen haben. Rund die Hälfte von ihnen könnten woanders als Flüchtlinge durchgehen. Sie kommen aus Kaschmir, Somalia, Syrien, dem Irak, ja sogar aus dem Zaatari Camp sind Männer zum Arbeiten nach Dubai gegangen, wo sie froh darüber waren, dass sie keiner als Flüchtlinge bezeichnete.

Die Schattenseite des „Modells Dubai“ sind die oft ausbeuterischen Lebensbedingungen der Migranten. Überall wo man hinblickt, stoßen Vertriebene auf menschenunwürdige Bedingungen in den Städten, in denen sie Zuflucht suchen. In vielen Teilen Afrikas bilden Vertriebene Slums, in denen sie im informellen Sektor arbeiten und hausen, während sie in Europa oft illegal und ohne Arbeitsschutz in der Landwirtschaft arbeiten.

Foto zweier Mädchen, die auf einer Asphaltstraße gehen.
Im Ebay Waydal Camp, Äthiopien, in der Nähe der zerstörten Stadt Chifra. In dem Camp entlang der Straße leben 60.000 Binnenvertriebene. © Getty Images

In Äthiopien wächst in der Gemeinde Legetafu außerhalb der Hauptstadt Addis Abeba eine Art unregulierte Vorstadt von Vertriebenen aus dem eigenen Land. Die Bürgermeisterin der Gemeinde stellte fest, sie sei für 114.000 Einwohner zuständig, von denen nur 9.000 Steuern zahlen. Dort plant die SDZ Alliance nun mit der äthiopischen Regierung gerade eine der ersten nachhaltigen Sonderentwicklungszonen (SDZ) die durch ein öffentlich-privates Sozialunternehmen entwickelt werden soll. Die SDZ Alliance, der ich angehöre, vereint NGOs und Organisationen, die an derartigen Projekten arbeiten.

Wie funktioniert das? Das Projekt nennt sich SME-City, das steht für „small and medium enterprises“, weil es Kleinunternehmen und Arbeitsplätze in einem strukturierten Rahmen schaffen soll. Vertriebene sollen dort in der Stadt legal wohnen und arbeiten können mit besserem Zugang zu Finanzierung, Ausbildung und sozialem Schutz.

Langfristig verdienen Investoren, wenn die neue Stadt floriert und die Bewohner wohlhabender werden.

Konkret wird ein Sozialunternehmen von der Gemeinde Legetafu, künftigen Bewohnern und Investoren gegründet. Das Unternehmen bildet eine Verwaltung, die unter wesentlich unbürokratischen Vorgaben eine neue Stadt entwickelt. Dabei geht es um Parzellierung des Landes, Strom- und Wasserversorgung und soziale Infrastruktur. Das Geld kommt von internationalen Investoren wie Impact-Fonds, die Gelder ihrer Kunden sowohl gewinnbringend als auch sozial nachhaltig anlegen sollen. Auch Spender engagieren sich, indem sie Schulen, Krankenanstalten etc. finanzieren. Langfristig verdienen Investoren daran, wenn die neue Stadt floriert und die Bewohner wohlhabender werden.

Schutz, Bildung, Perspektiven – auch für Europa

Wichtig ist es, in diesen Zonen Standards zum Arbeitsschutz zu setzen, aber gleichzeitig die Bürokratie zu verringern, die viele Länder in der Region plagt. Solche Zonen können den Regierungen auch als Labore dienen, indem sinnvolle Reformen für den Rest des Landes kopiert werden. Sonderentwicklungszonen orientieren sich am Modell der Sonderwirtschaftszonen, wie es sie weltweit tausendfach gibt. Sie sind nicht privat, denn lokale Regierungen müssen von Anfang an dabei sein. Nach einiger Zeit sollte die Verwaltung zu hundert Prozent an die Gemeinde übergehen.

Eine florierende Zone kann über die Grenzen hinaus attraktiv für Vertriebene und Migranten aller Art sein, die in die Städte drängen. Sie wären ein potenzieller Melting Pot des Kapitalismus. Doch anders als in den Emiraten muss in den neuen Zonen auf Arbeitsschutz geachtet werden. Außerdem muss es Bildungsangebote für Neuankömmlinge und deren Kinder geben.

Aus Europäischer Sicht hätte eine Reihe von Sonderentwicklungszonen als neue Städte auf dem Nachbarkontinent viele Vorteile: So wie das Beispiel Dubai bieten attraktive Sonderentwicklungszonen vielen Vertriebene eine Alternative zum riskanten, irregulären Weg nach Europa. Außerdem könnte die EU in Entwicklungszonen Ausbildungsprogramme betreiben und auch qualifizierte Arbeitskräfte daraus rekrutieren.

Dass sich Milliarden Menschen auf den Weg machen, steht fest. Ob sie in Slums darben, beziehungsweise ungewollt im westlichen Asylsystemen hängen, wird davon abhängen, ob es der Welt gelingt, Städte zu bauen, die Schutz und Perspektiven bieten.

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Conclusio

Bis zu drei Milliarden Menschen werden in diesem Jahrhundert überwiegend in die Städte Afrikas und Asiens drängen. Dort könnten Industriestaaten Zonen fördern, die neben rechtlichem Schutz auch Arbeit, Bildung und Chancen auf reguläre Einwanderung in den Westen bieten. In Äthiopien soll die erste derartige Sonderentwicklungszone entstehen.