Dem Westen egal: Die Frauen Afghanistans

Der Westen gefällt sich als edler Retter der Rechte der Frauen in Afghanistan – solange es ihm passt. Tatsächlich geht es ausschließlich um die Interessen der Geopolitik, und dies nicht erst seit dem verhängnisvollen August 2021.

Foto von zwei Frauen mit Burka in Afghanistan. Im Hintergrund ist eine karge Hügellandschaft und sehr viel Himmel zu sehen.
Die beiden Frauen sind 2009 auf dem Weg in eine Geburtsklinik im Nordosten Afghanistans. Zu der Zeit kämpfen US-Truppen noch gegen die Taliban und planen einen Rückzug ab 2011. © Getty Images
×

Auf den Punkt gebracht

  • Instrumentalisiert. Die Lage der Frauen ist nur als politisches Instrument von Interesse. Das ist allen Machthabern in der Geschichte Afghanistans gemeinsam.
  • Ungleiche Freiheiten. Von Phasen mit mehr Freiheit profitierten nur die Frauen in den Städten. Strukturelle Veränderungen waren nie im Interesse der Machthaber.
  • Symbolpolitik. Sobald Frauenrechte keinen strategischen Nutzen mehr hatten, wurden sie wieder zurückgenommen.
  • Folgen. Die Missachtung und Instrumentalisierung von Frauenrechten befördert Terror, Gewalt und Armut – über Afghanistan hinaus.

Vor einem Jahr hat der NATO-Rat nach zwanzig Jahren das Ende des Einsatzes in Afghanistan beschlossen. Darauf begann das Militärbündnis mit dem Abzug der stationierten Truppen. Die Folge: Die radikalislamistischen Taliban übernahmen Mitte August nach 20 Jahren erneut die Macht. Die Hauptleidtragenden ihrer Herrschaft sind Intellektuelle, religiöse Minderheiten, Medienschaffende, Mädchen und Frauen.

Das Schicksal der afghanischen Frauen war immer schon eng mit den politischen Interessen der jeweiligen Machthaber und Invasoren im Land verknüpft. Zurückverfolgen lässt sich das bis zur Staatsgründung Afghanistans im Jahr 1921.

Ihr Leben, ihre persönlichen Rechte und ihre Zukunft sind stets Spielball sowohl der nationalen wie der internationalen Politik. Egal, ob Engländer, Sowjets, Mujaheddin, Taliban oder die NATO und ihre Verbündeten, sie alle nutzten die Frauen in Afghanistan, um ihre Politik durchzusetzen, ihren Gegner zu schwächen oder ihren Einsatz zu legitimieren. Die Frauen sind – wie es gerade passt – Eigentum, Druckmittel oder Alibi und werden so vor allem auf emotionaler Ebene instrumentalisiert, um ein ausschließlich von Männern dominiertes politisches Handeln zu rechtfertigen.

Frauen – für die CIA ein Druckmittel

Wie perfide und selbstverständlich diese Taktik eingesetzt wird, zeigte sich in der jüngsten Vergangenheit: Um den militärischen Einsatz 2001 in Afghanistan zu legitimieren, wurde er unter anderem mit der Befreiung der Frauen begründet. Afghanische Frauen wurden somit für politische Belange instrumentalisiert, um nicht zuletzt durch sie auch auf emotionaler Ebene Kriegshandlungen zu rechtfertigen.

Dass hinter dieser Methode ein System steckt, wurde interessanterweise bereits 2010 durch die Veröffentlichung vertraulicher und geheimdienstlicher Dokumente auf WikiLeaks bekannt: Demnach hatte die CIA dazu geraten, die Notlage der afghanischen Frauen als „Druckmittel“ zu nutzen, um „die schwindende öffentliche Unterstützung für den Krieg zurückzugewinnen.“

Foto einer Straßenszene in Kabul in den 1970er Jahren: Frauen in Burkas und Minikleid, im Vordergrund ein Mann mit traditionellem Tuch.
Afghanistan 1972, ein Jahr später wurde König Mohammed Zahir durch einen Putsch zur Abdankung gezwungen. © Getty Images

Anhand von alten Fotos oder Berichten über afghanische Frauen kann man genau nachverfolgen, in welchem Zustand sich das politische System zu der jeweiligen Zeit befand. Wenn zum Beispiel demonstriert werden soll, dass afghanische Frauen nicht erst mit dem NATO-Einsatz den Schritt in die Moderne, zu Bildung und Fortschritt gemacht haben, werden Fotos vor allem aus den 1960er und 1970er Jahren bemüht.

Auch Phasen der Freiheit erfüllten fast ausschließlich einen politischen Zweck.

Anhand des Umfelds – in der Universität, im Straßenbild oder bei Feierlichkeiten – und der Kleidung ist schnell zu erkennen, dass die Frauen immer wieder eine Welle der Freiheit und der Gleichberechtigung erlebt haben. Es ist aber wichtig zu wissen, dass diese Phasen, die nur Wenigen von ihnen und meist auch nur in der Hauptstadt zu Gute kamen, fast ausschließlich einen politischen Zweck erfüllten.

Ein Blick in die Geschichte macht dies deutlich: Nach dem anglo-russischen Abkommen 1921, das Afghanistan die Unabhängigkeit garantierte, war Amir Amanullah, der das Land damals regierte, bemüht, die Stellung Afghanistans in der Welt zu reformieren. Am effektivsten ließ sich dies nach Außen durch schnelle Veränderungen der Situation der Frauen sichtbar machen. So schaffte er zum Beispiel den „Parda“ ab. Mit Hilfe des „Parda“ (Vorhang) wurde zuvor eine physische Trennung der Geschlechter innerhalb des Hauses vollzogen.

Schwarzweiß Fotografie von fröhlichen jungen Frauen.
Studentinnen an der Polytechnischen Universität Kabul circa Mitte der 1970er Jahre. © Getty Images

Die Frau des damaligen Königs, Königin Soraya, unterstützte die Modernisierungsprozesse ihres westlich orientierten Ehemannes, in dem sie als Zeichen der neuen Ära ihren Schleier öffentlich ablegte und damit die Frauen des Landes aufforderte, es ihr gleich zu tun. Gleichzeitig wurden landesweit Schulen für Mädchen gebaut. Die Versuche Amanullahs, Afghanistan möglichst schnell zu einem modernen Staat umzubauen, stießen jedoch bei den traditionell gesinnten Patriarchen in den Provinzen auf Widerstand. Durch landesweite Aufstände gezwungen, verließ er schließlich das Land. Ergebnis: Ein Bürgerkrieg brach aus, Frauen wurden wieder verschleiert, Mädchenschulen geschlossen.

Die Monarchie konnte sich schließlich in den wichtigsten Landesteilen behaupten und in den Folgejahren ihre westlich orientierte Politik fortsetzen, um nicht zuletzt dadurch wirtschaftliche Unterstützung aus dem Ausland zu erhalten. Die Provinzen aber wurden von den jeweiligen Gouverneuren mit ihrem patriarchalen Weltbild eigenständig organisiert, so dass diese weiterhin ihre Auffassung von Recht und traditioneller Ordnung innerhalb verfestigter Klan-Strukturen verfolgen konnten.

Die neuen Freiheiten für Frauen galten also nur in der Hauptstadt und mit Einschränkungen in den vier Großstädten des Landes. Dieser Trend setzte sich über Jahrzehnte fort und in den 1960er Jahre bekamen die Frauen sogar das Recht, die Universität zu besuchen.

Ein Schlachtfeld des Kalten Krieges

Nach einer verheerenden Dürreperiode 1972 begannen die Bauern (80 Prozent der Bevölkerung) aus den Provinzen, die sich von der Zentralregierung im Stich gelassen fühlten, einen Aufstand. Kommunistische Gruppen nutzten diesen Zustand, um mit Hilfe der Sowjetunion die Macht zu übernehmen. Die Unruhen ebbten aber nicht ab, so dass Ende der 1970er Jahre die sowjetische Armee in Afghanistan einmarschierte. Die kommunistische Regierung ging zwar sehr repressiv gegen politisch Andersdenkende vor, förderte aber während ihrer Regierungszeit ganz nach sowjetischem Vorbild die Rechte der Frauen.

Anfang der 1980er Jahre war Afghanistan ein wichtiges Schlachtfeld des Kalten Krieges. Moskau stützte die Kabuler Regierung während sich landesweit eine islamistische Ideologie gegen die Kommunisten verbreitete. Die daraus hervorgegangenen Mudschahedin, die so genannten Gotteskrieger, bekamen Waffen und Geld von den USA und Saudi-Arabien. Der pakistanische Geheimdienst organisierte von außen die Guerilla-Kämpfe. Schließlich wurden die kommunistischen Besatzer vertrieben. Ergebnis: Ein Bürgerkrieg unter den kämpfenden Mudschahedin brach aus, Frauen wurden verschleiert, Mädchenschulen geschlossen.

Barbarische Jahre für die Frauen Afghanistans

Mit dem Abzug der Sowjets verloren westliche Medien das Interesse an Afghanistan. Es wurde verschwiegen, dass dort nationale und internationale Interessenskonflikte durch stellvertretende Kriegsparteien ausgetragen wurden. Für die Frauen in Afghanistan hatte das kollektive Ignorieren der Ereignisse fatale Folgen: Die Jahre des Bürgerkriegs (1989-1996) und die Zeit der Taliban (1996-2001) werden von der afghanischen Bevölkerung, aber vor allem von den Frauen, als die am barbarischsten und unerträglichsten Jahre beschrieben. Nie zuvor war in diesem Umfang versucht worden, die Moral der Frauen zu brechen, nie zuvor waren sie so drastisch misshandelt und versklavt worden.

Foto einer Straßenszene in Afghanistan, Im Vordergrund Frauen mit Burkas über moderner Kleidung mit Kindern auf dem Arm, im HIntergrund von Pferden gezogene Wagen.
Afghanistan 1996, kurz nachdem die Taliban Kabul erobert haben. © Getty Images

In allen kriegerischen Auseinandersetzungen der 1990er Jahre wurden Frauen der jeweils gegnerischen Partei grausam gequält und vergewaltigt. Freiheit wurde den Frauen nicht nur durch den Krieg, sondern vor allem durch die extrem patriarchale und islamistische Haltung der Mudschahedin-Gruppen grundsätzlich verwehrt.

Da die meisten der oft ungebildeten Gottes-Krieger aus den ländlichen Provinzen kamen, war ihnen die Freizügigkeit der Frauen in den Städten, besonders in Kabul, ein Dorn im Auge. Es ist dabei wichtig zu wissen, dass es ein allgemein gültiges Rechtssystem für Frauen in Afghanistan nicht gibt. Die Rechte, die den Frauen zugestanden werden, orientieren sich im großen und ganzen an dem islamischen Recht der Scharia, das aber von Ort zu Ort und je nach Bildungsstand frei interpretiert wird.

Erschwerend kommt hinzu, dass diese Interpretation des Rechts sich mit lokalen traditionellen Regeln vermischt. Somit steht der männlichen Bevölkerung ein breites Instrumentarium zur Verfügung, die Rechtsauffassung willkürlich nach ihren Bedürfnissen anzupassen. Die Rechte der Frauen sind somit nicht nach den Prinzipien der Menschenrechte geregelt, sondern nach dem, was ihnen je nach Zweck und Vorteil zugewiesen wird. Ein Umstand, der ihre Instrumentalisierung enorm erleichtert.

×

Zahlen & Fakten

Eine in eine blaue Burka gehüllte Frau steht im Schneeregen an einer Straße, zu ihren Füßen ein Kleinkind, da mit einer Plastikabdeckung bedeckt ist.
Januar 2022: Die Armut ist so groß, dass Frauen sich gezwungen sehen zu betteln. © Getty Images

Die humanitäre Krise in Afghanistan

  • Der Abzug der NATO- und US-Truppen im August 2021 machte drei Millionen Afghanen zu Flüchtlingen. Die Mehrheit der Geflüchteten ist in Pakistan. Hinzu kommen etwa 3,5 Millionen Vertriebene im eigenen Land.
  • Internationale Hilfsgelder, die 80 Prozent des Staatsbudgets ausmachten, wurden eingestellt. Die USA haben darüber hinaus sieben Milliarden Dollar Vermögen der Zentralbank Afghanistans eingefroren.
  • Das Erdbeben im Juni forderte mehr als 1.500 Menschenleben. Der Wiederaufbau ist nahezu unmöglich und für die Verletzten gibt es keine Medikamente.
  • Frauen können keinen Beruf ausüben.
  • Mädchen wird ab dem 12. Lebensjahr jegliche Bildung verweigert. Wer in den heimlichen Schulen lernt oder unterrichtet, riskiert ihr Leben.
  • 95 Prozent aller Menschen in Afghanistan haben nicht mehr ausreichend zu essen.

Die aktuellen Ereignisse in Afghanistan erzeugen ein déjà-vu: Nach zwei Jahrzehnten des Aufschwungs für Frauen und Mädchen übernehmen unter anderem mit Hilfe von Pakistan und Katar Extremisten die Macht, Frauen werden auch in den Städten wieder verschleiert und weggesperrt, Mädchenschulen geschlossen.
Erneut bewahrheitet sich eine traurige Strategie: Egal ob Monarchie, Sowjetherrschaft, ISAF-Mission oder Taliban: Das Schicksal der afghanischen Frauen ist immer eng mit den politischen Interessen der jeweiligen Machthaber im Land verknüpft.

Ausweg Feminismus in der Politik

Allerdings gibt es auch Hoffnung: Die Außenministerin Annalena Baerbock hat am Beginn ihrer Amtszeit versprochen, die Außenpolitik Deutschlands feministischer zu machen. Vor dem Deutschen Bundestag sagte sie im Zusammenhang mit Vergewaltigungen als Kriegswaffe: „Deswegen gehört zu einer Sicherheitspolitik des 21. Jahrhunderts auch eine feministische Sichtweise. Das ist kein Gedöns, sondern auf der Höhe dieser Zeit.“

Männliche Aggressivität eindämmen und Strukturen von Gewalt aufbrechen.

Wir dürfen wegen aktueller Kriege und Konflikte allerdings den Jemen, Syrien, Äthiopien und Mali nicht vergessen. Und natürlich Afghanistan. Gemeinsam ist all diesen Ländern, dass die männliche Gier nach Macht und Respektlosigkeit die Basis der Zerstörungswut bilden, Machtbesessenheit anstatt Moral und Menschlichkeit herrschen. Dem muss eine feministische Außenpolitik entgegenstehen. Denn die Basis der aus Schweden stammenden Idee, mehr Frauen in Schlüsselpositionen zu verhelfen, ist der Mensch – egal, ob Frau oder Mann –, der Mensch, der ungerecht behandelt wird. Feministische Außenpolitik vollzieht daher grob gesagt einen Paradigmenwechsel bei Sicherheitsfragen „weg vom rein militärischen Denken hin zu einem erweiterten Fokus, der – neben dem Kriegsgeschehen – die Zivilbevölkerung berücksichtigt: Frauen, Kinder, Alte, Kranke,“ wie Simone Schmollack schreibt.

In Zeiten von Kriegen und Krisen sind es vor allem Frauen und Kinder, die benachteiligt werden und leiden. Terroristische und militärische Gruppierungen bestehen ausschließlich aus Männern. Mehr Feminismus in der Politik zu wagen würde bedeuten, männliche Aggressivität einzudämmen und Strukturen von Gewalt aufzubrechen.

Foto einer Frau mit schwarzer Kopfbedeckung, die ein Kleinkind mit einem Sondenschlauch in den Armen hält und weint.
Auf einer Station für unterernährte und hungernde Kleinkinder in Kabul im August 2022: Laut Angaben der UNO haben 95 Prozent der Menschen in Afghanistan nicht ausreichend zu essen. © Getty Images

Durch eine Außenpolitik, die Frauenrechte im Visier hat, bleiben Errungenschaften wie die vom damaligen afghanischen Präsident Ashraf Ghani unterschriebene UN-Sicherheitsresolution 1325, die explizit den Schutz von Frauen und Mädchen in Kriegsgebieten und die Stärkung von Frauen in politischen Prozessen vorsieht, als nicht verhandelbare Gesetzesgrundlage verankert und werden nicht – wie geschehen – lediglich zu einer symbolischen Aktion.

Insgesamt sollten wir unser Fokus mehr auf konkrete Maßnahmen, als auf Symbolik richten. Wir dürfen zum Beispiel nicht vergessen, dass viele der international gefeierten Erfolge der letzten zwanzig Jahre in Afghanistan ohne die afghanischen Frauen nicht möglich gewesen wären. Auch deshalb verdienen sie unsere uneingeschränkte Solidarität.

Im Juli ist das Buch der Autorin Shikiba Babori, Die Afghaninnen. Spielball der Politik, im Campus Verlag erschienen.

×

Conclusio

Die Rechte und die Lebenssituation von Frauen in Afghanistan waren in der politischen Geschichte Afghanistans stets ein Faustpfand, um wechselnde politische Interessen zu kaschieren, durchzusetzen und Kriege zu rechtfertigen. Dies gilt für alle politischen Kräfte und Regime – für die Monarchie ebenso wie für die Sowjets, die Zeiten der Bürgerkriege und der Präsenz amerikanischer Truppen und der Nato wie unter der Herrschaft der Taliban. Auch wenn aktuell viel über die Lage der Frauen in Afghanistan berichtet wird: Die internationale Staatengemeinschaft schaut weg und ignoriert ihr Leid. Damit fügt die demokratische Welt sich selbst den größten Schaden zu – die Region bleibt eine Quelle von Gewalt und Terror. Derzeit versuchen Pakistan und Katar die humanitäre Katastrophe auszunutzen.