Nur China kann Putin stoppen

Der Ukraine-Krieg verdeutlicht die neue Weltunordnung, in der liberale auf autoritäre Regierungsformen stoßen. Der Rückhalt Russlands in der Welt ist dabei größer als im Westen gerne angenommen.

Das Ende des Friedens: Zerstörter Festsaal im Gebäude der Regionalverwaltung von Charkiw, März 2022.
Der zerstörte Festsaal der Regionalverwaltung in Charkiw am 25. März 2022. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Abhängigkeit. Die Idee der 1970er, sowjetisches Gas und Öl zu kaufen, um die Bindung des „Ostblocks“ an den Westen stärken, stellt sich nun als Fessel heraus.
  • Zäsuren. Der „War on Terror“ der USA und der Aufstieg Chinas lenkten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion davon ab, dass Russland längst wieder aufrüstete.
  • Neue Weltordnung. Ein „Ost-West-Konflikt 2.0“ zieht herauf. Diesmal stehen sich eine liberale und eine autoritäre Weltordnung gegenüber.
  • Erosion des Idealismus. Europa hat dem Autoritarismus Russlands und Chinas keine alternative Ideologie mehr entgegenzusetzen.

Wer Handel miteinander treibt, der schießt nicht aufeinander. Unter diesem Motto wurde Anfang 1970, also mitten im Kalten Krieg, der erste Erdgas-Röhren-Vertrag zwischen der BRD und der Sowjetunion unterzeichnet. Es war der Beginn jener Abhängigkeit von russischer Energie, die heute die Handlungsfreiheit der Europäer im Ukraine-Konflikt so sehr einschränkt. Auch gelten heute nicht mehr die wirtschaftlichen Argumente, die zur Annäherung zwischen Ost und West geführt haben. Es wird geschossen und trotzdem gehandelt – zumindest vorläufig noch.

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Unter Experten gibt es viele Thesen, was nun wirklich das Ende des Ostblocks herbeigeführt hat. War es die imperiale Überdehnung der UdSSR? War es die bevorstehende Niederlage im Rüstungswettlauf auf Kosten des zivilen Sektors? Oder führten die Ostverträge zu einer Aufweichung der kommunistischen Staaten von innen, was schließlich in die Wende 1989/90 mündete?

Friedensordnung aus Öl und Weizen

Von konservativer Seite lautete das Argument, dass der Osthandel die Lebensdauer der Sowjetunion verlängert habe, weil dessen Einnahmen den Rüstungssektor alimentiert haben. Andererseits erwies sich die Sowjetunion als verlässlicher Lieferant von Gas, Öl, Kohle, Holz, Getreide und Metallerzen und trug damit maßgeblich zur Versorgungssicherheit Europas bei. Geopolitik als Instrument für Frieden und Wohlstand.
Jedenfalls ergab sich aus den Wirtschaftsbeziehungen eine besondere Nähe der deutschen Sozialdemokratie zur sowjetischen Führung, die sich in den Gorbatschow-Jahren auszahlte. Ob im Zuge der Verhandlungen zur deutschen Wiedervereinigung auch eine Absprache über den Verzicht einer NATO-Osterweiterung getroffen wurde, wie heute von russischer Seite behauptet, ist um-stritten. Zumindest haben die damaligen Zeitzeugen sich später widersprüchlich erinnert.

Putin läuft die Zeit davon.

Unter der zahllosen Motiven, die derzeit zu Putins gegen alle völkerrechtlichen und zivilisatorische Regeln verstoßenden Krieg diskutiert werden, sollte einer nicht unterschätzt werden: Alte Männer gelten Russland weniger als in der westlichen Welt, weshalb man sich gerne über die greisen US-Präsidenten lustig macht. Deshalb bleibt dem 69-jährigen nicht mehr viel Zeit, um sein Lebensziel zu erreichen – die Restauration des sowjetischen oder besser des zaristischen Imperiums. Putin läuft schlicht die Zeit davon, weil er alles noch selbst erleben will und weil das Ende der fossilen Energieträger und damit der wirtschaftlichen Basis seiner imperialen Politik, die in Georgien begonnen und in Syrien getestet wurde, absehbar ist.

Schon der Widerstand gegen die zweite Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 ab 2011 war vielfältig. Er kam von den USA, weil sie selber mit Flüssiggas ins Geschäft kommen wollen. Von den osteuropäischen Ländern, weil sie als Transitländer umgangen werden können. Und in Deutschland bedeutete die zweite Pipeline die zunehmend unerwünschte Fortschreibung des Verbrauchs fossiler Energien.

Zudem sieht die Leistungsbilanz Wladimir Putins nicht gerade toll aus. Nach 22 Jahren unter seiner Führung ist Russland heute von der globalen Bedeutung des sowjetischen Imperiums weit entfernt. Am Ende des Kalten Krieges waren die USA als einzige Supermacht übergeblieben, und es schien eine dauerhafte Konstellation zu werden. Die Welt konnte eine „Friedensdividende“ kassieren, die sich in sinkenden Rüstungsausgaben und steigenden Sozialausgaben ausdrückte. Butter statt Kanonen.
Im Falle der Bundeswehr wurde der Personalbestand von knapp 500.000 auf etwa 180.000 Mann verringert. Das bedeutet zwei statt zehn kampffähige Divisionen. Der Etat des Verteidigungsministeriums, lange Zeit auf Augenhöhe mit dem des Sozialministeriums, beträgt mittlerweile nur noch ein Drittel.

Russland war in der Jelzin-Ära so geschwächt, dass es der Ost-Erweiterung von NATO und EU nichts entgegensetzen konnte. Die Kalaschnikows und MGs der Roten Armee landeten auf den Wochenmärkten arabischer und afrikanischer Länder, die Soldaten heuerten bei privaten Militärfirmen an. Auf dem Nuklearsektor mussten sogar die USA finanziell einspringen, um die Abwanderung von Experten in den Iran oder andere nukleare Schwellenländer zu verhindern.

Hybride Kriege mitten im Frieden

9/11 markierte die nächste Zäsur. Mit dem „War on Terror“ wurde der US-Militärhaushalt wieder hochgefahren, man gab sich die Rolle des Weltpolizisten mit globaler Zuständigkeit. Die hybride Kriegsführung trat an die Stelle des klassischen zwischenstaatlichen Krieges. Deutschland leistet dazu nicht viel mehr als einen symbolischen Beitrag, weil die Umstellung der Bundeswehr auf Auslandseinsätze mangels Ausrüstung und Ausbildung nur schleppend vorankam. Da die Mittel weiter schrumpften, war die Neuorientierung nur durch Umschichtung zu Lasten der eigenen Landesverteidigung zu realisieren.

Friedensordnung im Krieg: Ein US-Marine entfernt ein Bild von Saddam Hussein in einer Schule in Al-Kut, Irak.
Eine Schule in Al-Kut, Irak am 16. April 2003. Ein US-Marine entfernt ein Portrait von Saddam Hussein. © Getty Images

Seither lautete die Arbeitsteilung: Die USA sind für die internationale „Drecksarbeit“ zuständig, Mittelmächte wie Deutschland leben als Nutznießer der US-Hegemonie und arbeiten weiter am Ausbau des Sozialstaates, was zu wachsender Kritik jenseits des Atlantik führte. Spätestens seit dem wirtschaftlichen Aufstieg Chinas wuchs der Druck auf die NATO-Mitglieder, zwei Prozent des Sozialprodukts für das Militär auszugeben.

Im Schatten Chinas: Die Militarisierung Russlands

Die UdSSR wollte die USA auf einem schwachen wirtschaftlichen Fundament militärisch herausfordern. Im Falle Chinas ist es umgekehrt. Erst seitdem dort ein starkes wirtschaftliches und technologisches Fundament geschaffen wurde, holt man auch militärisch auf. Doch während die Welt China mit wachsender Besorgnis beobachtete, wurde übersehen, dass Russland seinen militärischen Sektor generalsanierte – wie schon zu UdSSR-Zeiten aus den Mitteln des Rohstoffhandels. Bloß sind nun an die Stelle der Staatskonzerne die Oligarchen getreten. Der Preis, den Russland dafür zahlen muss, ist die Fortschreibung der alten Exportökonomie statt eines Umbaus der Wirtschaft auf hochwertige Konsum- und Ausrüstungsgüter, die weiterhin importiert werden müssen.

Nun ist wieder eine Zeitwende angebrochen, die in ihrem Tiefgang dem Fall der Berliner Mauer und dem Angriff auf das World Trade-Center entspricht. Seither wird die Welt in immer dichterer Abfolge von immer neuen Krisenszenarien erschüttert: 2009 die Finanzkrise mit der Folge explodierender Immobilienpreise und Mieten. 2015 die Flüchtlingskrise mit der Folge eines erstarkenden Populismus. 2018 eroberten Fridays for Future die Medien, was bewirkte, dass die schon lange schwelende Umweltkrise die deutsche Politik zu beherrschen begann. 2019 die Coronakrise samt Lockdowns und wirtschaftlicher Einschränkungen.

Das Ende der Friedensordnung

Aber Putins Krieg übertrifft das alles. Er stellt die liebgewonnene Friedensordnung in Europa in Frage, mit Konsequenzen, die noch gar nicht absehbar sind. Nur ein Beispiel: Es scheint paradox – aber die Fridays for Future-Bewegung könnte Putin zu raschem Handeln gedrängt haben und nun den Umstieg auf regenerative Energiequellen deutlich beschleunigen.

Die letzten Jahre haben die Nachfrage nach internationaler Ordnung deutlich erhöht, während die USA aus strukturellen wie aus innenpolitischen Gründen seit Trumps Losung „America first“ immer weniger bereit waren, diese auch zu bedienen. Mit der Biden-Administration hat sich zwar das Klima geändert, doch ist das strukturelle Dilemma der USA zwischen Positions- und Statusverlust geblieben. Sollen sie, um dem Wettbewerbsdruck aus China zu begegnen, protektionistisch werden und so den Status als internationale liberale Ordnungsmacht verlieren oder umgekehrt?

Jetzt ist die Klimax dieser Krisenkaskade erreicht und hat in vielerlei Hinsicht einen regelrechten Paradigmenwechsel ausgelöst. Wer wagt jetzt noch an ein idealistisches Denken zu glauben? An das friedliche kooperieren von Staaten, weil der Mensch vernünftig und lernfähig ist? Heute scheint es eher so, als wären nicht alle in der Lage, Lehren aus der Geschichte zu ziehen. Eigentlich hat uns die jüngere Geschichte gezeigt, dass unterschiedliche Interessen durch Kompromiss und Ausgleich, internationale Abkommen und Organisationen, durch die Regeln des Völkerrechts und normenbasiertes Handeln zum Ausgleich gebracht werden können.

Konflikte können nicht beseitigt, aber eingehegt werden.

Doch Despoten vom Schlage eines Putin sind weder vernünftig noch lernfähig, sondern leben in einer Welt der Mythen. Deshalb ist es dringend notwendig, dass der Westen zu einer klassischen realistischen Denkweise zurückgekehrt. Zur Logik der Abschreckung – und, wenn diese versagt – ein Logik der Sanktionen. Konflikte können zwar nicht beseitigt, aber eingehegt werden. Damit diese Logik funktioniert, bedarf es der wirtschaftlichen und militärischen Macht. Und das reine Vorhandensein reicht nicht, die Macht muss auch demonstriert und im Zweifelsfalle exekutiert werden, um wirksam zu sein.

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Zahlen & Fakten

Die Grenzen des Handels werden nicht von einer Gesinnungsethik bestimmt. Es erfordert eine Verantwortungsethik, die immer das Ergebnis des Handelns mitdenken muss. Der US-Präsident Joe Biden kann zwar Sanktionen verhängen, darf aber nicht militärisch intervenieren, weil er dann einen dritten, wahrscheinlich nuklearen Weltkrieg riskiert. Denn Despoten müssen weit weniger Rücksicht auf die öffentliche Meinung im Innern nehmen. Im Zweifelsfall können sie sogar eine zweite Front im Innern zu deren Unterdrückung errichten.

Ein prekärer Frieden

Der Hoffnungsschimmer an der Misere: Europa zieht wieder an einem Strang. Auch für Neutrale ist es attraktiv, Mitglied in EU und NATO zu sein. Ein positives Brexit-Votum wäre heute kaum vorstellbar, auch in Polen und Ungarn scheint man wieder den Wert eines vereinten Europa zu erkennen. In Deutschland hat es sogar einen doppelten Paradigmenwechsel gegeben: Möglichst schnelles Aufrüsten der Bundeswehr und Beschleunigung des Umbaus auf regenerative Energien – exekutiert ausgerechnet von einer nicht konservativ geführten Regierung.

51 UN-Staaten haben den Krieg nicht verurteilt.

Nach der Realisierung des Aufrüstungsprogramms würde Deutschland als größte Volkswirtschaft in Europa auch zur größten Militärmacht aufsteigen. Genauso radikal ist das strategische Umdenken im Hinblick auf die Energieversorgung. Die Bezugsquellen fossiler Energie sollen diversifiziert, die Deregulierung der Lagerhaltung von Öl und Gas rückgängig gemacht werden. Geopolitik ist primär nicht mehr Friedenspolitik und Wahrnehmung komparativer Vorteile, sondern Vorbereitung auf den Ernstfall, um nicht erpressbar zu sein.

Aber das alleine wird nicht reichen. Denn es scheint alles auf einen Ost-West-Konflikt 2.0 hinauszulaufen. Die liberale Welt gegen die autoritäre Welt. Was sich über die Jahre zusammengebraut hat, war ablesbar an der Abstimmung der UNO-Vollversammlung über die Ukraine-Resolution. In völliger Verkennung wurde in der westlichen Presse die Isolierung Russlands gefeiert. Es haben aber inklusive Enthaltungen und Nicht-Teilnahmen 51 Länder, mehr als ein Viertel der UNO, Putins Krieg nicht verurteilt.

Eine zerstörte Wohnung in Kiew . Der Angriff Putins auf die Ukraine markiert das Ende einer Friedensordnung.
Eine zerstörte Wohnung in Kiew. © Getty Images

Berücksichtigt man den Anteil der Weltbevölkerung, war es sogar mehr als die Hälfte. Nach Atommächten gerechnet, stand die Mehrheit sogar hinter Russland. Die Hälfte der afrikanischen Länder hat nicht zugestimmt. Die ehemaligen zentralasiatischen Sowjetrepubliken und der Iran haben sich enthalten bzw. sind der Abstimmung ferngeblieben. Die Türkei hat zwar zugestimmt, beteiligt sich aber nicht an den Sanktionen. Eine kartographische Abbildung der Abstimmung markiert die Neue Seidenstraße. Es erscheinen die Konturen eines von China dirigierten Blocks ihrer aktuellen und künftigen Anrainer. Solange China militärisch noch nicht in der Lage ist, die USA als internationale militärische Ordnungsmacht abzulösen, soll die Neue Seidenstraße als Interimslösung fungieren, bei der es nicht öffentliche Güter, sondern exklusive Güter für die Mitglieder im Club der Neuen Seidenstraße bereitstellt.

Auch für China steht aktuell viel auf dem Spiel.

Auch für China steht aktuell viel auf dem Spiel. Perspektivisch wird es zwar das russische Gas und Öl abnehmen und im Gegenzug Konsumgüter und Hochtechnologie liefern nach dem Muster des Erdgas-Röhrengeschäfts und so Russland aus seiner sanktionsbedingten Isolation befreien. Doch derzeit bewegt sich der bilaterale Handel nur im Promille-Bereich. Essentiell ist hingegen der Handel mit dem Westen. Wenn überhaupt, dann kann nur China Putin stoppen. Aus beiderseitigem Interesse – weil China kein Interesse an einer Weltwirtschaftskrise haben kann, und weil Putin auf die Rohstoffeinnahmen angewiesen ist. Wie so ein Deal unter Despoten aussieht, hat man im Vorfeld der Olympiade gesehen. Putin sollte sich zurückhalten, bis die Olympiade vorbei ist. Dafür bekommt er chinesische Rückendeckung, wenn er losschlägt. Genauso ist es gekommen.

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Conclusio

Die Invasion Russlands in der Ukraine hat die mannigfaltigen Abhängigkeiten Europas und der Europäischen Union sichtbar gemacht und die prekäre Friedensordnung der Nachkriegsjahre beendet: Die Abhängigkeit von russischem Öl und Gas, aber auch von anderen Rohstoffen macht es für die EU schwer, den autoritären Ideologien Russlands und auch Chinas eine glaubwürdige Alternative gegenüberzustellen. Während sich die globale Staatengemeinschaft nicht geschlossen zu einer Isolation Russlands durchringen kann, scheint es der EU zumindest zu gelingen, gegen den Krieg in der Ukraine zusammenzustehen. Die EU muss nun ihre wirtschaftliche Abhängigkeit abschütteln, den fossilen Weg beenden und sich auf eine ideologische Konfrontation – einen Ost-West-Konflikt 2.0. – einstellen.