Warum Gas so teuer bleiben wird

Europa steht vor einer dramatischen Preis-Krise bei Gas. Die Ursachen der wilden Rohstoff-Rallye: die Corona-Pandemie, politische Machtpoker, komplizierte Bindungen ans Rohöl, aber auch klassische Angebot-Nachfrage-Faktoren.

Kochende Espressokanne auf einem Gasherd
Gas spielt in vielen Haushalten eine alltägliche Rolle. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Neue Ära. Die Corona-Pandemie und politische Einflüsse wandeln die traditionellen Markt-Mechanismen bei Gas.
  • Teure Folgen. Die Kosten explodieren durch stark steigende Nachfrage und ein völlig verändertes Preis-Regime.
  • Klimatrumpf Gas. Der Ausstieg aus der Kohle bedeutet noch mehr Nachfrage nach Gas – vor allem bei Big Playern wie der Volksrepublik China.
  • Neue Technologien. Statt Pipelines transportieren Schiffe das verflüssigte Gas. Das hat Auswirkungen auf die Handelsbeziehungen im Gasgeschäft.

Es ist heute kaum vorstellbar, dass Erdgas einst ein unerwünschtes Nebenprodukt der Erdölindustrie war. „Was ist schlimmer, als ein trockenes Bohrloch zu finden? Ein Gasfund!“, sollen frühe Ölsucher gewitzelt haben. Die Folge: Weltweit werden noch immer rund 142 Milliarden Kubikmeter Erdgas (vier Prozent des Weltverbrauchs) schlichtweg abgefackelt.

Dabei ist der Rohstoff eigentlich unverzichtbar und wird zum Heizen, Kochen, dem Betrieb von Motoren und in der chemischen Industrie verwendet. Aktuell ist die Situation dramatisch. Um es kurz zu sagen: Europa steht vor einer schweren Gaskrise. Seit dem Vorjahr ist der Marktpreis für Gas um bemerkenswerte 600 Prozent gestiegen.

Gas als regionales Geschäft

Es wäre zu einfach, die derzeitige Situation auf einen einzigen Faktor zurückzuführen, auch wenn in den Medien dem politischen Aspekt und den Folgen der Corona-Pandemie die meiste Aufmerksamkeit geschenkt wird. Letzten Endes wird die Gaskrise wohl gelöst werden können, aber ihre Auswirkungen werden weit über Europa und die Gasmärkte hinausreichen. Im Gegensatz zu Erdöl, das auf globalen Märkten gehandelt wird, bleibt Erdgas weitgehend ein regionales Geschäft.

Gaspipelines vor Sonnenuntergang
Gas zählt zu den wichtigsten Rohstoffen. Dem Pipeline-Geschäft droht eine Krise mit einem hohen Preis. © Getty Images

Hinzu kommt, dass der größte Teil der Ressourcen im Rahmen langfristiger Verträge verkauft wird. Wenn Erzeuger und Verbraucher nur durch eine Pipeline verbunden sind, bilden sie ein bilaterales Monopol. Dann bestimmen nicht die Märkte den Preis. Zudem ist die Welt im Wandel. Eine relativ neue Entwicklung zeigt das deutlich: Verflüssigtes Gas (Liquefied Natural Gas, LNG) gewinnt an Bedeutung. Dieses wird überregional zwischen mehreren Parteien gehandelt und orientiert sich an sich täglich ändernden Spot-Preisen. Mit neuen Anbietern wie Australien oder den USA zeigt sich hier eine globale Kommerzialisierung, die stärkere Preisausschläge zur Folge hat.

Covid-Achterbahn

Das bleibt am Markt nicht ohne Folgen. Traditionelle Pipeline-Exporteure wie das staatliche russische Monopolunternehmen Gazprom haben lange Zeit den alten Mechanismus der langfristigen ölindexierten Verträge bevorzugt. In den letzten Jahren, als die Preise niedrig waren, musste Gazprom jedoch seine Preisstrategie anpassen und verkaufte einen Teil seines Gases zu flexibleren Bedingungen.

Die Konsequenzen konnten wir hautnah miterleben: Zunächst wurden die Volkswirtschaften zur Eindämmung des Coronavirus heruntergefahren, dann kam die Gasnachfrage ins Stocken. Die regionalen Preise fielen auf historische Tiefststände. Infolgedessen drosselten die Exporteure ihre Lieferungen. Ein Beispiel: Fast 100 für die internationalen Märkte bestimmte Ladungen von LNG aus den USA wurden angesichts des dramatischen Überangebots auf dem Höhepunkt der Lockdowns 2020 gestrichen.

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Zahlen & Fakten

Als die Volkswirtschaften dann allmählich wieder Fahrt aufnahmen, stiegen die Preise wieder. Regionale Wetterereignisse wie Hurricanes und kalte Temperaturen in Europa trieben die Preise im Dezember 2020 auf ein Sechsjahreshoch. Eine Art Dominoeffekt setzte ein: knappes Gas, steigende Nachfrage, hohe Preise.

Dynamische Gas-Spirale

Und die Spirale drehte sich weiter. Eine weitere starke Kältewelle in Europa führte Anfang 2021 dazu, dass das Gas schneller aus den Speichern entnommen wurde. Dies hatte zur Folge, dass in Europa zu Beginn der Sommersaison deutlich weniger Gas vorrätig war als üblich. Gasspeicher spielen aber eine wichtige Rolle für das Gleichgewicht der Märkte im Winter, da sie als Puffer genutzt werden. 

Parallel dazu verstärken mehrere asiatische Länder ihre Bemühungen, von Kohle auf Gas umzusteigen. Vor allem China will seinen Gasverbrauch erhöhen, zum Teil aus Umweltschutzgründen entsprechend Pekings Blue-Sky-Politik

Im Gegensatz zu Erdöl, das auf globalen Märkten gehandelt wird, bleibt Erdgas weitgehend ein regionales Geschäft.

Dazu kommen weitere Verknappungen: Europa verzeichnet einen Rückgang der Gaseinfuhren aus Russland. Ein Brand in der Produktionsanlage Nowy Urengoi schränkte die Exportkapazität der Jamal-Europa-Pipeline, die über Polen nach Deutschland verläuft, ein. Andere Faktoren sind spekulativ, können aber nicht ausgeschlossen werden. Russland könnte die Lieferungen strategisch begrenzen, um so eine Untergrenze für die Gaspreise im Winter festzulegen. Zudem könnte Moskau mit niedrigeren Lieferungen den Druck auf die Zulassung und Inbetriebnahme der bereits fertiggestellten Ostsee-Pipeline Nord Stream 2 erhöhen.

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Zahlen & Fakten

Die Pipeline wäre eine der billigsten Transportrouten für Gazprom, um russisches Gas sicher und kostengünstig nach Europa zu bringen. Es ist jedoch ein politisch umstrittenes Projekt, da die Pipeline den russischen Einfluss auf den europäischen Markt erhöht – und mit ihr die Ukraine als Transitland umgangen wird.

Unterdessen ließ der russische Präsident Wladimir Putin die Gelegenheit nicht ungenutzt, die entscheidende Rolle seines Landes bei der Stabilisierung der europäischen Gasmärkte zu betonen. Gleichzeitig wies er Vorwürfe der Marktmanipulation zurück: „Wir sollten über eine mögliche Erhöhung des Angebots auf dem Markt nachdenken, aber wir müssen es vorsichtig tun ... Dieser Spekulationswahn ist nicht gut für uns.“

Langfristige Vernarbung beim Preis

Unabhängig davon, ob Russland seine Versprechen hält, ist es unwahrscheinlich, dass es einen Trend umkehrt. Die hohen Spot-Gaspreise werden bleiben – der Geist ist aus der Flasche.

Die gute Nachricht für jene, die von den hohen Preisen betroffen sind, ist, dass sich die Märkte am Ende selbst korrigieren werden. In Asien mehren sich Anzeichen für einen Rückgang der Nachfrage als Reaktion auf die höheren Preise. Alternativen zu Erdgas haben freilich eine klimapolitische Schattenseite, denn der nächstliegende Ersatz in der Stromerzeugung ist Kohle. In einer von Chinas Premierminister Li Keqiang abgegebenen Erklärung zur Energiesituation dreht sich alles um den alten „König“ Kohle. Erneuerbare Energien wurden kaum erwähnt. Sogar Großbritannien, das noch vor einem Jahr seine Errungenschaft der kohlefreien Stromerzeugung lobte, musste seine Kohlekraftwerke neu befeuern, um Ausfälle zu vermeiden.

Weitreichende Folgen der Krise

Das Fazit ist eindeutig. Die Auswirkungen der Krise gehen weit über die Gaspreise hinaus. Die Umstellung auf ein umweltfreundlicheres Energiesystem könnte in Mitleidenschaft gezogen werden, die hohen Kosten und Abgaben eine Gegenreaktion hervorrufen.

Klar ist eines: Die politischen Entscheidungsträger hätten besser vorbereitet sein müssen. Um die Energiewende zu beschleunigen, müssen die fossilen Brennstoffe teurer werden. Wenn aber eine billigere, umweltfreundlichere Alternative nicht ohne weiteres verfügbar ist (zum Beispiel war die Windenergie-Kapazität in Europa in diesem Jahr zu gering), werden die Länder zu anderen Mitteln greifen, um einen größeren Energiezusammenbruch zu vermeiden.

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Conclusio

Aus Klimaschutz-Gründen steigt die Nachfrage nach Gas, das Kohle ersetzen soll. Gleichzeitig erholt sich die Weltwirtschaft nach der Pandemie rasant, was zusätzlichen Energiebedarf zur Folge hat. Gepaart mit lokalen und regionalen Besonderheiten wie Wartungsarbeiten und Wetterkapriolen und den Anstrengungen Russlands, die neue Pipeline Nord Stream 2 endlich in Betrieb zu nehmen, führt das zu einer Preisspirale nach oben. Zudem wirbelt der Boom bei LNG (Liquefied Natural Gas) das traditionelle Preisgefüge von Erdgas durcheinander. Denn hier erfolgt die Preisbildung nicht nach langfristigen Lieferverträgen, sondern am Spot-Markt. Die Lösung des Dilemmas liegt in einem massiven Ausbau alternativer Energieträger wie Wind und Sonne – freilich mit dem Nachteil langer Vorlaufzeiten.