Die Gefahren des Moralismus

Rund um den Globus verfallen die Eliten in gefährlicher Weise dem Dogmatismus ihrer Weltanschauungen, anstatt Toleranz für andere Werte zu finden.

Ein Demonstrant trägt eine America-First-Flagge bei einer Kundgebung gegen Präsident Joe Biden.
Ein Demonstrant trägt eine America-First-Flagge bei einer Kundgebung gegen Präsident Joe Biden. Anhänger der Republikaner und Demokraten streiten darüber, welche Rolle die USA in der Welt einnehmen sollen. Beide Seiten sind sich jedoch einig, dass amerikanische Werte gegen Rivalen wie China verteidigt werden müssen. © Getty Images

Die herrschende Elite jedes Landes folgt einem Narrativ, das Wahrheit und Dichtung vermischt und auch ihre Ansichten und Ziele. In der Regel unterscheiden diese Geschichten die Menschen in die guten „wir“ und die bösen „die“. Obwohl dies nützliche Werkzeuge sein können, ist es gefährlich, an ­diese Erzählungen voll zu glauben. Leider ist das genau die Falle, in die die meisten Menschen tappen.

Russland und China setzen derzeit beträchtliche Mittel ein, um ihre eigenen Weltanschauungen voranzutreiben. Der Westen – vor allem die Vereinigten Staaten und Europa – hat seine eigenen Versionen, ebenso wie andere Länder etwa im globalen Süden.

Extrapolation aus der Vergangenheit

Moskau schwelgt mit seinem Narrativ in Russlands alter Größe, behauptet aber auch, dass es Opfer der heuchlerischen Westmächte geworden sei. Napoleon und Hitler sind Beispiele für Führer, die schließlich von Russland besiegt wurden (wenn auch nicht allein). Die Geschichte lässt alte russische Behauptungen in einer neuen Form wieder aufleben.

Russlands panslawistische Ambitionen im 19. und frühen 20. Jahrhundert waren einer der Auslöser für den Ersten Weltkrieg. Ebenso betrachtet die russisch-orthodoxe Kirche Moskau als das „dritte Rom“. All dies zwingt Russland dazu, jede andere Macht daran zu hindern, seinen Grenzen zu nahe zu kommen, und hat es in den katastrophalen, selbstzerstörerischen Krieg in der Ukraine geführt.

Ein traumatisierter Hegemon

Seit Jahrtausenden beansprucht China eine hegemoniale Rolle in Asien. Seine Schwäche gegenüber den europäischen Mächten im 19. Jahrhundert stellt noch immer ein enormes Trauma dar. Innerhalb des Landes treibt die Führung eine Politik der „Hanisierung“ voran – die Umsiedlung der mehrheitlich ethnischen Han-Chinesen in verschiedene Regionen, um die dortigen Minderheiten allmählich zu überflügeln. Das Narrativ folgt der Doktrin von der Integrität Chinas, die eine Erlösung durch den Marxismus chinesischer Prägung beinhaltet.

In dieser Ideologie ist kein Platz für ein unabhängiges Taiwan oder Autonomie für Minderheiten wie Tibeter und Uiguren. Es kann auch keine Toleranz für Religionen geben, insbesondere nicht für den Islam oder das Christentum, das als Überbleibsel des Kolonialismus gebrandmarkt wird. Demnach gefährdet der Glaube an Gott das Glaubensbekenntnis der marxistischen „Erlösung“, die einen fast religiösen Status hat.

Peking will an die Macht

Diese starke Mischung aus nationalen Traditionen und marxistischer Ideologie wurde gebraut, um die Macht des Regimes zu legitimieren, das von der Kommunistischen Partei Chinas vertreten wird. Sie diente auch als Vorwand für Präsident Xi Jinping, seine Macht zu festigen und die umsichtigere Politik von Deng Xiaoping und seinen Nachfolgern zu ändern.

Ein Zusteller fährt auf einem Motorrad an einem Bildschirm vorbei, auf dem eine Live-Nachrichtenübertragung des chinesischen Präsidenten Xi Jinping auf dem Nationalen Volkskongress in Peking zu sehen ist.
Die Rede von Präsident Xi auf dem 20. Nationalkongress der Kommunistischen Partei wurde im ganzen Land live übertragen. Darin stellte der Staatschef den Machtanspruch Chinas klar. © Getty Images

Um seinem Narrativ gerecht zu werden, muss Peking nun seine Hegemonialbestrebungen ausweiten, sowohl auf nationaler als auch auf ideologischer Ebene. Freie Gesellschaften wären eine Abscheulichkeit, die die westliche Zivilisation – insbesondere die USA – zum Feind macht. Nach chinesischer Auffassung ist die auf Regeln basierende internationale Ordnung lediglich ein Instrument für die globale Dominanz der USA.

Die chinesische Führung will in Wirklichkeit die amerikanische Supermacht übertreffen und ersetzen.

Die chinesische Führung behauptet, sie wolle eine multipolare Welt – aber wenn wir zwischen den Zeilen lesen, erkennen wir, dass sie in Wirklichkeit die amerikanische Supermacht übertreffen und ersetzen will. Die Rede von Präsident Xi auf dem 20. Nationalkongress der Kommunistischen Partei Chinas (KPC) im Oktober war eine Art „Kriegserklärung“ an die freien westlichen Gesellschaften.

Zusammenprall der Systeme

Für den Westen ist das Narrativ weniger kohärent, aber die Eliten verbreiten immer noch eine breite Erzählung über den Konflikt zwischen Autoritarismus und Demokratie. Wie an allen wirkungsvollen Geschichten ist etwas Wahres dran, aber die Realität ist nicht so einfach, wie sie uns glauben machen wollen.

Die westlichen Länder sind nicht immun gegen Illusionen, insbesondere gegen solche, die auf moralischer Überlegenheit beruhen. Sie geben uns ein gutes Gefühl. Wir sind die Helden, mit unseren Systemen der liberalen Demokratie, die gegen die bösen autoritären Kräfte kämpfen. Diese Darstellung gibt uns Bestätigung und ein Gefühl der Sicherheit.

Es ist sicherlich richtig, dass der Westen aufgrund von Systemen gediehen ist, die individuelle Freiheit, Selbstbestimmung und Eigentumsrechte geschützt haben.

Wir glauben, dass unsere Systeme Freiheit und Wohlstand schützen. Wir glauben auch, dass die meisten Menschen gerne in Systemen wie dem unseren leben würden – dies wird übrigens durch die Einwanderungsströme bestätigt.

Es ist sicherlich richtig, dass der Westen aufgrund von Systemen gediehen ist, die individuelle Freiheit, Selbstbestimmung und Eigentumsrechte geschützt haben. Diese Systeme erkannten die Bedeutung von Werten an, respektierten aber auch die Unterschiede in diesen Werten. Das erforderte Toleranz. Der Wettbewerb auf allen Ebenen bot einen Anreiz für Korrekturen und Verbesserungen. Der Wohlstand, den die Länder durch freie Märkte und Eigentumsrechte anhäuften, erlaubte ihnen die soziale Absicherung der Gesellschaft.

Moralismus ablegen

Werte sind wichtig, aber sie können sich von Mensch zu Mensch und von Kultur zu Kultur stark unterscheiden – und diese Vielfalt muss respektiert werden. Moralismus filtert Werte durch eine dogmatische Brille und ist ebenso gefährlich wie aggressive Erzählungen. Beides kann Krieg auslösen. Leider haben sich die politischen und intellektuellen Eliten zunehmend dem Moralismus verschrieben.

Der Westen muss aktuelle und potenzielle Aggressoren in Schach halten. Dies erfordert Einigkeit, aber keine dogmatische Harmonisierung der Werte. Wir müssen vermeiden, dass die Moral den Realismus verdrängt und der Pragmatismus zu Quasi-Ideologie wird, in der Fakten ignoriert und durch Meinungen ersetzt werden.

Solche Ideologien sind tödlich für freie Gesellschaften, aber sie dringen allmählich in das Denken der westlichen politischen Elite ein. Ein gutes Beispiel ist die Illusion, unter der die Geldpolitik derzeit betrieben wird und die zu einer unverantwortlichen Verschuldung geführt hat.

Arroganz und Entschuldigung

Die westliche Erzählung von Gut gegen Böse ist eine komplizierte Mischung aus Arroganz und Entschuldigung. Die Arroganz liegt in der vermeintlichen moralischen Überlegenheit der heutigen amerikanischen und europäischen Systeme, die auf verwässerte Ideen einer starken Regierung, begrenzter individueller Freiheit, dogmatischer Integration und einiger vager Wertvorstellungen reduziert wurden.

Eine irakische Frau geht an einem Porträt des damaligen irakischen Präsidenten Saddam Hussein, dargestellt mit erhobenem Gewehr, 2002 in Bagdad vorbei.
Saddam Husseins Regime im Irak wurde neben dem Iran und Nordkorea von den USA zur „Achse des Bösen“ erklärt. Nach dem amerikanischen Einmarsch ist das Regime rasch gefallen, doch westliche Werte konnten im Irak kaum Fuß fassen. © Getty Images

Sie ist apologetisch, da sie europäische und amerikanische Traditionen als unterdrückerisch, imperialistisch und kolonialistisch darstellt. Sie behauptet, dass der europäische Lebensstil – und die Vielfalt seiner vielen Regionen – auf dem Altar eines egalitären Multikulturalismus geopfert werden muss.

Der westliche Moralismus enthält auch eine große Portion Pazifismus, der ignoriert, dass Frieden nur durch wirksame Abschreckung erreicht werden kann.

Bei all dem nimmt die Bedeutung der Werte des Westens – individuelle Freiheit, Selbstbestimmung (Streben nach Glück), Verantwortung für sich selbst und andere sowie Eigentumsrechte – immer mehr ab.

Gefährliche Folgen

Die Länder des globalen Südens entwickeln sich rasant, aber das bedeutet nicht, dass sie sich von westlichen Moralvorstellungen beeindrucken lassen. Sie behaupten, dass die USA und Europa aufgrund der früheren Kolonialisierung und Unterdrückung durch den Westen verpflichtet sind, ihnen zu helfen. Diese Haltung wird durch viele Stimmen im Westen gestärkt, die bereit sind, die traditionellen Werte dieser Länder zu „canceln“.

Diese Narrative haben gefährliche Folgen. Ja, der Westen ist in Konflikte mit Russland und China verwickelt. Für beide ist es aufgrund ihrer Weltanschauung und ihrer vermeintlichen „Moral“ schwierig, nebeneinander zu existieren. Für den Westen ist es wichtig, stark zu sein. Dogmatismus wird in Europa und den USA zum Standardrepertoire. Einigkeit erfordert mehr Toleranz.