Wie China wirklich tickt

Wer den richtigen Umgang mit China lernen will, muss Abschied nehmen von festgefahrenen Vorurteilen über das Reich der Mitte. Ein Blick in die Geschichte Chinas zeigt, dass die wichtigste Konstante Veränderung ist.

Luftaufnahme von Pekings Verbotener Stadt
Die verbotene Stadt in Peking ist das historische Machtsymbol des Landes. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Bornierter Blick. Klischees prägen unser Denken und Wissen über China. Das Reich der Mitte schaut aber auf eine lange und abwechslungsreiche Geschichte zurück.
  • Junges Land. China, so wie wir es kennen, ist erst knapp 40 Jahre alt. Die Staatsgrenzen sind ähnlich jung.
  • Profunde Vielfalt. Unterschiedliche Werte, Sprachen, Religionen und kulturelle Eigenständigkeiten prägten über Jahrhunderte das Reich der Mitte.
  • Zukunftsmusik. Die Kommunistische Partei ist sich Chinas Geschichte bewusst. Dem Volk wird eine Vision von Ruhe und Ordnung vorgegaukelt.

Wenn im Westen über China diskutiert wird, werden oft alte Klischees bedient. Das klingt dann so: „China war schon immer Chinesisch“, oder: „Es gibt eine einheitliche chinesische Kultur“. Oft hört man: „Nur der autoritäre Einheitsstaat kann ein solches Riesenvolk beherrschen“.

Doch das sind Missverständnisse über China. Wer diese Idealtypen pflegt, ist entweder einem naiven Essentialismus oder einer gewollten Projektion verfallen. Essentialismus? So heißt die klischeehafte Zurückführung oder Reduktion von Identitäten auf etwas Wesenhaftes und Feststehendes. Projektion ist wiederum, wenn man eine bloße Vorstellung für die Wirklichkeit hält. Beides sind Idealtypen und im Umgang mit China weit verbreitet – mit der Wirklichkeit haben sie aber wenig zu tun.

Schon die ersten Europäer in China meinten feststellen zu können, dass der Kaiser die absolute Macht hat, das Land dem Konfuzianismus anhängt und das Volk naiv, aber fleißig ist. Das sind Essentialismen: Der Konfuzianismus stand im Wettbewerb mit anderen Werte- und Glaubensvorstellungen. Chinesen und Chinesinnen sind Individuen mit jeweils eigenen Motivatoren. Und selten hatte ein chinesischer Kaiser die gleiche Machtfülle wie etwa Frankreichs Herrscher Ludwig XIV im 17. Jahrhundert.

Wer heute chinesische Staatsmedien konsumiert, bekommt oft ähnlich fehlerhafte Informationen. Etwa, dass China schon immer die heutigen Staatsgrenzen und Bevölkerung hatte, oder dass es keinen Platz für Individualismus im chinesischen Denken gibt. Ganz allgemein wird gesagt, dass die kommunistische Führung das Land zur alten Stärke als Reich der Mitte führen würde. Das sind alles Projektionen: Die Reichs- und Staatsgrenzen des heutigen Chinas sind etwa so alt wie jene der älteren Nationalstaaten in Europa. Der größte Teil der chinesischen Philosophie zieht die Familie der Gemeinschaft vor. Und die Geschichte Chinas ist, wie alle Geschichte, alles andere als eindeutig.

Immer im Umbruch

Sir Reginald Fleming Johnston (1874 – 1938) blickte hier durch. Seine Werke dienten als Quelle für den 1987 erschienenen Film „Der letzte Kaiser“ von Bernardo Bertolucci. Johnston war der Englischlehrer des Kaisers Puyi und ein sehr weltoffener Beobachter des Landes. Er merkte, dass China eine vielfältige, vielschichtige, widersprüchliche und deswegen auch interessante Gemengelage darstellte. Er erlebte China in einer Phase, die weder zum Essentialismus noch zu den heutigen Projektionen der Kommunistischen Partei (KP) passte. Johnston machte den Umbruch mit – der, wie die Historikerin Valerie Hansen in ihren aktuellen Büchern nahelegt, eine der wenigen Konstanten in der Geschichte Chinas ist.

Johnston erlebte den ersten Umbruch, viele weitere sollten folgen. Schon unter Puyis Vorgänger hatte der Kaiser keine Autorität. Die 1912 ausgerufene Republik, der erste moderne chinesische Staat, existierte nur auf den Landkarten der Regierung. Zwischen 1927 und 1949 tobte in China ein Bürgerkrieg mit mehreren Millionen Toten. Auch die Ausrufung der Volksrepublik China durch Mao Zedong setzte dieser Umbruchphase kein Ende. Denn zwischen 1949 und dem Ende der 1960er-Jahre musste die KP ihre Macht erst noch stärken. Inszenierungen wie die „Hundert-Blumen-Bewegung“ oder die „Kulturrevolution“ verdeckten: China befand sich immer noch im Umbruch.

Das China von heute ist erst knapp 40 Jahre alt.

So sehr die KP nach außen den Eindruck eines monolithischen Blocks erwecken wollte, die Realität sprach eine andere Sprache. Der designierte Nachfolger von Mao, Lin Biao, starb 1971 nach einem angeblichen Putschversuch. Deng Xiaoping wurde mit oppositionellen Protesten 1976 in Verbindung gebracht und zunächst degradiert. Dengs Reformprogramm „Vier Modernisierungen“ aus dem Jahr 1978 wollte ganz bewusst seine Gegner in der KP ausschalten. Das hat auch funktioniert. Sowohl die Aufstände im Landesinneren als auch die blutigen Machtkämpfe in der KP haben sich seitdem gelegt.

Also: Das autoritär geführte China, das ökonomische Logik mit einem kommunistischen System vereinbart, eine weltweite Führungsrolle einnimmt und dessen Bevölkerung sich primär als Gemeinschaft versteht und sich deshalb in Bildung und Arbeit vertieft, ist, wenn überhaupt, knapp 40 Jahre alt. Die Staatsgrenzen dieses Chinas sind ähnlich jung, denn Pekings Territorialansprüche im südchinesischen Meer wurden erst in den 1970er-Jahren umgesetzt. Noch in den 1990er-Jahren gehörten Macao zu Portugal und Hong Kong zum Vereinigten Königreich.

Spiel mit Religionen

Einwand: Das alles betrifft lediglich die politische Entwicklung und nicht die Kultur. Vielleicht gelten die Idealtypen für die chinesische Kultur? Doch auch hier ist die Wirklichkeit anders. Zwar verfügt China seit mindestens 2000 Jahre über eine Hochsprache. Doch nicht alle Gruppen von Personen, die in der Region des heutigen China lebten, konnten oder kannten diese Sprache. Bis zum 18. Jahrhundert wurde Chinesisch von vergleichsweise wenigen Personen dort gesprochen. Die Mehrheit sprach andere Sprachen. Einige dieser Sprachen existieren bis heute und werden weiterhin gepflegt. Die KP nennt sie in einer abschätzigen Projektion Dialekte.

Die gleiche Vielfalt findet man im Werte- und Glaubenssystem. Es ist im Übrigen kein Wunder, wenn die heutige KP auf Kriegsfuß mit diesen Werten steht. Der Konfuzianismus stellt die Familie und die Tugend über alles. Das ist eine direkte Herausforderung des Primats der KP. So ließ etwa Mao konfuzianische Bücher verbrennen und Deng konfuzianische Denker einkerkern. Was ist aber mit der aktuellen Wiedergeburt dieser Denkhaltung – sogar von der KP gefördert? Auch das ist eine Projektion. Konfuzius wird als Absender instrumentalisiert und mit kommunistischen Inhalten gefüllt. Die KP erscheint so menschlicher und attraktiver.

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Zahlen & Fakten

In der letzten monarchischen Dynastie sind Buddhismus und Islam bewusst vom Kaiser gefördert worden, um die chinesischen Reichselemente in Schach zu halten. Denn die letzten Kaiser verstanden sich als Herrscher über ein vielfältiges Territorium. Die Qing – so nannte sich diese Dynastie – hatten kein Interesse an einer Vormachtstellung von konfuzianischen Chinesen und stärkten als Kontrastprogramm dazu muslimische Generäle aus der Mandschurei und der Mongolei sowie buddhistische Mönche aus Tibet als gleichberechtigte Partner im Reich. Die heutige Politik der KP gegenüber diesen Minderheiten lässt sich so – zumindest teilweise – auch als Reaktion darauf verstehen.

So geht es auch den Christen. Im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert gewann das Christentum an Beliebtheit. Der Taiping-Aufstand (1851 - 1864) war eine Konfrontation zwischen dem Kaiserreich China und der Taiping-Bewegung. Mit 20 bis 30 Millionen Toten war er der opferreichste Bürgerkrieg der verzeichneten Menschheitsgeschichte. Die Taiping-Rebellen waren christlich inspiriert. Revolutionen von christlichen Gruppen kamen seitdem und bis zum Aufstieg der KP immer wieder vor. Auch dieser Hintergrund erklärt – zumindest teilweise – den heutigen Umgang mit Christen.

Zuckerbrot und Peitsche

Aus philosophischer Überzeugung und praktischer Notwendigkeit meint die chinesische Führung, nichts stehe über der Partei. Entsprechend duldet sie es auch keinen politischen Wettbewerb, ganz egal ob dieser von Individuen, Familien, Kulturen oder Religionen ausgeht. Um diesen Wettbewerb im Keim zu ersticken, setzt China auf Maßnahmen gegenüber der eigenen Bevölkerung und anderen Staaten. Sie erscheinen in europäischen Augen als Unterdrückung und Grossmachtgehabe.

Wie ist das alles zu bewerten? Moralisierend könnte man China als ruchlose Diktatur und Schurkenstaat denunzieren. Wohlwollend sieht man den Versuch, die größte Bevölkerung der Erde aus der Armut zu führen und vor mörderischen Umbruchphasen zu bewahren. Die Wirklichkeit wird wohl dazwischen liegen.

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Conclusio

China in seiner derzeitigen Form ist ein relativ junger Staat. Die aktuelle Phase der Stabilität und des rapiden Wohlstandswachstums ist eine historische Rarität. Die eiserne Hand, mit der die kommunistische Führung die Kontrolle bewahren will, ist den vielen meist blutigen Umbrüchen in dem Land geschuldet. Das Großmachtgehabe Pekings baut auf einem Mythos einer kollektiven, stabilen Ordnung auf, die es so nie gegeben hat im Reich der Mitte.