Tunnelblick auf Corona

In der Pandemie wird gebannt auf Infektionen und Hospitalisierungen gestarrt. Simple Evidenz, wonach Gesundheitsvorsorge das Risiko schwerer Covid-Verläufe drastisch senken könnte, interessiert niemanden.

Illustration eines Mannes auf einer Couch, der auf einen Bildschirm mit steigender Inzidenz starrt
Der Blick auf das Wesentliche? Nicht ganz: Bei Covid-19 verraten die täglichen Fallzahlen nicht alles. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Vorbereitung. Das Gesundheitssystem war schlecht auf die Pandemie vorbereitet. Am Anfang herrschte vor allem eines vor: Planlosigkeit.
  • Risikofaktoren. Neben dem Alter sind Übergewicht, Diabetes, Rauchen und Bluthochdruck Vorbelastungen, die schwere Verläufe begünstigen.
  • Übergewicht. Fünf Kilogramm mehr erhöhen bei einer Körpergröße von 1,70 Metern das Risiko, auf der Intensivstation behandelt zu werden, um 20 Prozent.
  • Lösung. Ein nationales Gesundheitsprogramm würde viel bewirken und im Vergleich zu Tests, Spitalsaufwendungen und Intensivbehandlungen wenig kosten.

Seit zwei Jahren werden auch Menschen, die sonst mit Wissenschaft nichts zu tun haben, täglich mit Zahlen, Statistiken, Prognosen, Diagrammen und Complexity Science bombardiert. Man könnte den Eindruck bekommen, wir sind zu einer wissenschaftsbasierten Gesellschaft geworden. Noch dazu, wo uns von einem Altbundeskanzler die evidenzbasierte Politik versprochen wurde. Nichts läge der Wahrheit ferner. Denn es ist plausibel anzunehmen, dass wir durch Beachtung der bestehenden Evidenz 20 bis 30 Prozent der intensivpflichtigen Covid-19 Krankheitsverläufe vermeiden hätten können. Dies werde ich gleich begründen und leider auch darlegen müssen, warum es nicht passiert ist.

Einerseits war es doch erstaunlich (eigentlich bestürzend), dass weltweit fast alle Länder von Beginn des Corona-Ausbruchs in den Improvisationsmodus geschaltet haben – obwohl die hohe Wahrscheinlichkeit einer Pandemie lange bekannt war. Man hatte den Eindruck, dass niemand weiß, was zu tun ist und dass es weder Krisenstäbe gab noch zumindest einen Plan, wie man solche erstellt. Jedes Hotel braucht einen Fluchtplan, aber ganze Länder schienen keinerlei Vorbereitungen zum Umgang mit einer neuartigen Infektion zu haben. Natürlich kann man nie die genauen Details des Verhaltens eines neuen Erregers im Voraus wissen. Aber rasches und angepasstes Reagieren auf neue Situationen ist etwas anderes als offenbar vollkommen planlose Improvisation, wie wir sie zu Beginn der Pandemie und noch viele Monate lang miterleben mussten.

Faktoren für einen schweren Verlauf

Immerhin wusste man rasch Bescheid über die wesentlichen Risikofaktoren, die mit schweren Krankheitsverläufen einhergehen. Natürlich können auch Menschen ohne diese Risikofaktoren einen schweren Verlauf haben – so wie auch jemand, der sehr gesund lebt, einen Herzinfarkt bekommen kann. Nur eben viel seltener. Neben dem Alter sind dies vor allem Übergewicht, Diabetes, Rauchen, Bluthochdruck, vorbestehende Herz-Kreislauferkrankungen sowie naheliegenderweise Erkrankungen von Lunge oder Immunsystem. Bei der großen Mehrzahl von Covid-Infizierten, die vor Zulassung der Impfung auf der Intensivstation behandelt werden mussten, war mindestens einer dieser Risikofaktoren gegeben (mittlerweile ist eine nicht vorhandene Impfung der häufigste Grund).

Mittlerweile kennen wir auch die Risikofaktoren für schwere Impfdurchbrüche. Sie sind den genannten sehr ähnlich: Alter über 65 Jahren, Diabetes und Erkrankungen von Herz, Nieren, Leber, Lunge, Nervensystem oder Immunsystem. Eine Analyse des Krankheitsverlaufes von fast sieben Millionen Covid-Infizierten aus dem Jahr 2021 hat gezeigt, welche Rolle der Body Mass Index (BMI) spielt – eine Maßzahl, die das Verhältnis von Gewicht zu Körpergröße misst und deren Normalbereich zwischen 18,5 und 24,9 Punkten liegt. Ein Anstieg des BMI um 2 Punkte geht jeweils mit einem 20 Prozent höheren Risiko einher, auf eine Intensivstation zu kommen.

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Zahlen & Fakten

Die enge Korrelation zwischen BMI und Krankheitsverlauf beginnt bereits bei einem BMI von 23, also bei normalgewichtigen Personen. Was bedeutet das? Bei einer 170 cm großen Person machen fünf Kilogramm Gewichtsunterschied 20 Prozent Risikounterschied aus, ob die betreffende Person im Fall einer Coronainfektion auf der Intensivstation landen wird. Ähnliches zeigen Analysen von Diabetikern mit Coronainfektion: wenn der Langzeitblutzuckerwert (HbA1c) statt acht Prozent nur sechs ausmacht  – also Diabetes sehr gut eingestellt ist – ist das Risiko eines schweren Coronaverlaufs um 30 Prozent (!) geringer!

Prävention statt Improvisation

Was tut man üblicherweise, wenn man einen Risikofaktor für eine schwere Erkrankung beziehungsweise einen schweren Krankheitsverlauf kennt? Man schützt vor allem Personen vor einer Infektion, die mindestens einen dieser Risikofaktoren aufweisen? Grundsätzlich richtig. Doch von Anfang an fehlte in der Vorgehensweise eine vollkommen naheliegende wie wichtige Maßnahme. Seit der Zeit als wir begonnen haben, jeden Tag auf Krankheitsstatistiken zu starren, wird so gesprochen, analysiert und gehandelt, als seien die bekannten Risikofaktoren für eine schwere Covid-19 Infektion fixe Variablen.

Für das Alter könnte man das – bei oberflächlicher Betrachtung – noch gelten lassen. Aber wie kann man einerseits ganz klar feststellen, dass Übergewicht ein massiver solcher Risikofaktor ist und das Einzige, das getan wird, ist die Integration von Übergewicht in Berechnungsmodelle? Dies kann nur den Gehirnen von Statistikern entspringen. Jede Ärztin, jeder Arzt – nein – jeder Mensch mit halbwegs erhaltenem Hausverstand würde sagen: Dann sollte man doch versuchen, das durchschnittliche Übergewicht in der Bevölkerung zu reduzieren. Man würde versuchen, die Blutzuckereinstellung von Diabetikern zu verbessern.

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Zahlen & Fakten

Ein Mensch kann innerhalb von drei Monaten mit vergleichsweise wenig Anstrengung einige Kilogramm verlieren. Dies geht einher mit rasch nachweisbaren, positiven Veränderungen im Stoffwechsel, mit einer verbesserten Immunkompetenz, Reduktion schädlicher Entzündungsvorgänge, Senkung des Blutdrucks, Entlastung des Herzens, Erhöhung des Atemvolumens durch Reduktion von Bauchfett und einer deutlich verbesserten Lebensqualität. Übrigens: 40 Prozent der Österreicher im Alter zwischen 18 und 64 Jahren sind übergewichtig.

Gesunder Lebensstil

Ähnlich kann bei vielen Menschen mit grenzwertigem Diabetes, deren Blutzuckersituation durch entsprechende Lebensstilveränderung (Gewichtsreduktion, mehr Bewegung) innerhalb kurzer Zeit deutlich verbessert, wenn nicht normalisiert werden kann. Bei manifestem Typ-II-Diabetes (also derjenigen Diabetesform, die vor allem durch Übergewicht, falsche Ernährung und Bewegungsmangel hervorgerufen wird) kann durch entsprechende Maßnahme zumindest die Blutzuckerkontrolle und damit schädliche Diabetesfolgen (etwa gestörte Wundheilung und Infektabwehr) massiv verbessert werden. In Österreich gibt es 600.000 Diabetiker.

Ein Programm für Lebensstil-Veränderungen hätte einen winzigen Bruchteil der sonstigen Corona-Kosten ausgemacht.

Was wäre erreichbar gewesen, wenn man bereits von Beginn der Pandemie an ein nationales Gesundheitsprogramm ausgerollt hätte! Und zwar – und das wäre der entscheidende Faktor gewesen – mit dem klaren Fokus auf die Reduktion des Risikos eines schweren Verlaufs bei einer Coronainfektion. Seit fast zwei Jahren hängen Millionen Österreicher täglich vor den Nachrichten, um sich die neuesten Zahlen, Diskussionen und Aufregungen rund um Corona „reinzuziehen“. Das ganz Land ist – wie die ganze Welt – voll auf Corona fixiert.

Diesen psychologischen Faktor hätte man nützen können. Zum Beispiel für ein Programm: „Minus fünf Kilogramm“ oder „Österreich nimmt in einem Monat fünf Millionen Kilogramm ab und reduziert schwere Krankheitsverläufe“. Eine solche Initiative, zusammen mit professioneller Kommunikation und in Kooperation mit den führenden Massenmedien, hätte einen winzigen Bruchteil der sonstigen Corona-Kosten ausgemacht. In dieser psychologisch besonderen Zeit hätte man Menschen erreichen können, die sonst für Lebensstil-Veränderungen wenig bereit sind. Österreich hätte für alle industrialisierten Länder beispielgebend sein können.

Illustration einer fitten Läuferin und eines müden Läufers
Bewegung kommt während der Pandemie bei vielen zu kurz, hält aber Körper und Geist gesund. © Getty Images

Maßnahmen vor schweren Verlauf

Ich kann hier noch eine Reihe massiver Einflussfaktoren auf Immunsystem und Widerstandsfähigkeit nennen, die allesamt evidenzbasiert sind:

  • Mangelnder Schlaf führt zu chronischer „low-grade“ Entzündung und Immundefizienz sowie zu verminderter Immunantwort auf Impfungen. Ein erhaltener Schlaf-Wach-Rhythmus ist entscheidend für die Differenzierung der „type 2 innate lymphoid cells“, einer wichtigen Gruppe unserer Abwehrzellen. Schlafmangel senkt außerdem die Glukosetoleranz bis zu 40 Prozent, führt zu Gewichtszunahme und erhöht die Neigung zu Depression und Angststörungen sowie Suchtverhalten und ungesundem Lebensstil.
  • Gefühle von Hilflosigkeit und Angst steigern die Infektanfälligkeit und reduzieren die Abwehrkraft signifikant. Aktivität, Erfolgserlebnisse und Freude steigern Spiegel von Abwehrzellen und Immunglobulinen. Enttäuschung oder Ärger führen zu Veränderungen des Cortisolspiegels und der Stoffwechselprodukte des Immunsystems, mit einer Entzündungsreaktion und anschließender mehrtägiger Unterdrückung des Immunsystems. Psychisch belastete Personen entwickelten wesentlich häufiger virale Infekte; bei Stress über einen Monat besteht ein doppeltes Risiko, bei Stress über zwei Jahre ist es vervierfacht!

Soziale Isolation führt zu massiv geschwächter Immunabwehr.

  • Entspannungsübungen führten bei älteren Personen innerhalb von Wochen zu einem Anstieg der „natural killer cells“, reduzierten Virusinfektionen und höheren Spiegeln von T- und B-Lymphozyten. Personen, die regelmäßig meditieren, zeigten um bis zu 70 Prozent höhere Spiegel an Abwehrzellen. Einmal wöchentlich 90 Minuten Tai Chi geht mit gesteigerter Immunabwehr und verbesserter körperlicher und psychischer Befindlichkeit einher. Personen, die an einem achtwöchigen Kurs in Achtsamkeitsmeditation teilnahmen, zeigten höhere Antikörperspiegel nach einer Grippeimpfung.
  • Gute soziale Beziehungen erhöhen die Spiegel von Immunglobulinen und Oxytocin. Oxytocin stimuliert wiederum die Immunabwehr zusätzlich. Soziale Isolation führt hingegen zu massiv geschwächter Immunabwehr. Und das Alter, als ein entscheidender Risikofaktor? Das ist doch nicht beeinflussbar! Das stimmt für das kalendarische Alter sicherlich. Doch durch die genannten Maßnahmen ist das biologische Alter massiv beeinflussbar, Veränderungen von Jahren mit guter Lebensqualität um 15 bis 25 Prozent sind möglich.

Doch was ist passiert? Nichts! Außer ein paar Bewegungsübungen im Fernsehen – immerhin. Wir hätten uns vermutlich über 30 Prozent der intensivpflichtigen Verläufe ersparen können. Doch nichts wurde getan. Wie ist das erklärbar?

Menschliche Psychologie

Wir vertrauen viel eher einem Produkt, das wir kaufen können, als wissenschaftlichen Beweisen für etwas, das wir selbst tun können. Es gibt eine Impfung? Die will ich haben. Ich kann etwas für meine Widerstandskraft tun? Das kann nicht viel wert sein. Wir geben lieber viele Milliarden für Impfungen – deren Sinn ich hier nicht in Frage stelle –, Intensivbehandlungen, Spitalskosten und Corona-Tests aus (von den wirtschaftlichen Folgekosten ganz zu schweigen) – lauter Dinge, die wir kaufen und bezahlen können – als einen Bruchteil dieser Mittel in evidenzbasierte Vorbeugung zu investieren. Je teurer umso wirksamer: Das weiß man sogar aus der Placeboforschung.

Ein weiterer Faktor kommt hinzu: Von wem wurde die fachliche Diskussion in den letzten beiden Jahren geprägt? Von Virologen, Epidemiologen und Intensivmedizinern. Virologen sind in dieser Pandemie sehr wichtig und hochqualifiziert… im Umgang mit Viren, aber nicht im Umgang mit Menschen. Die wenigsten wissen, dass viele Virologen im Regelfall ihr Labor nicht verlassen und allenfalls virologische Befunde interpretieren oder Impfungen verabreichen. Von vorbeugender Medizin verstehen sie wenig bis nichts, denn das ist nicht ihr Fokus und muss es auch nicht sein. Epidemiologen sind ebenso wichtig – doch sie sind vor allem Forscher und haben mit Behandlung von Patienten nichts zu tun. Intensivmediziner verstehen viel von Intensivbehandlung. Doch mit der Vermeidung schwerer Erkrankungen haben sie nichts zu tun.

Wenn nun unsere Entscheidungsträger ausschließlich von Forschern, Theoretikern und Akutmedizinern beraten werden – was soll dabei herauskommen als: Tests, Distancing, Impfen, Intensivbehandlung? Lauter wichtige Dinge, aber eben nur eine Seite der Medaille.

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Conclusio

Gesundheitssytem und Politik waren schlecht bis gar nicht auf Corona vorbereitet. Auch während der Krise wurde viel zu sehr auf Statistiken gestarrt und zu wenig unternommen. Das gilt vor allem für die Risikogruppen und die Beseitigung der Ursachen für schwere Verläufe, insbesondere im Zusammenhang mit Übergewicht. Eine fokussierte und wirkungsvolle nationale Präventivkampagne mit raschen Effekten hätte maximal ein Hundertstel von dem gekostet, was für Testen, Impfungen, Spitalsbehandlung, Reha und alles Dazugehörige ausgegeben wurde. Von den Folgekosten ganz zu schweigen. Es ist außerdem plausibel anzunehmen, dass auch die bisher bekannten Risikofaktoren für Long Covid – hohe Viruslast, Autoantikörper, die Reaktivierung des Epstein Barr Virus und Diabetes Typ II – durch entsprechende Gesundheitsmaßnahmen präventiv beeinflussbar wären. Denn die ersten drei haben mit einem schlecht funktionierenden Immunsystem zu tun, das wie oben beschrieben evidenzbasiert und präventiv gestärkt werden könnte. Und Diabetes Typ II kann durch entsprechende Blutzuckereinstellung und Lebensstilmaßnahmen deutlich verbessert werden. Ein weiter wichtiger Risikofaktor für Long Covid Symptome ist übrigens der Glaube, Long Covid zu haben – unabhängig davon, ob man jemals mit dem Virus in Kontakt war. Doch dagegen würde ja vielleicht wiederum Evidenz helfen. Aber für all das hat sich niemand interessiert und interessiert sich weiterhin niemand. Das ist die traurige Wahrheit. Übrigens: Über 99 Prozent von uns werden an anderen Krankheiten sterben als am Coronavirus. Aber die interessieren ja auch niemanden mehr.