Luftschloss „Groß-Eurasien“

Nach der Annäherung zwischen China und Russland träumt Moskau von einem starken „Groß-Eurasien“. In der Zwischenzeit zieht China seinem vermeintlichen Partner davon.

Dieser Report erschien am 5. Juni 2018 auf Geopolitical Intelligence Services.

Wladimir Putin und Xi Jinping bei einem Meeting in Shanghai
Russlands Präsident Wladimir Putin und Chinas President Xi Jinping sind Partner mit unterschiedlichen Zielen. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Groß-Eurasien. Russland träumt zusammen mit China davon, einen mächtigen Block gegen die Hegemonie der USA zu bilden.
  • Die Fortschritte. Die chinesisch-russische Zusammenarbeit konzentriert sich vor allem auf den Energiesektor, Waffentechnik und Weltraumtechnologie.
  • Unterschiedliche Erwartungshaltung. Putin erhofft sich eine Rückkehr an die Spitze Eurasiens. Für China spielt Russland aber eine relativ kleine Rolle.
  • Kleines Stück vom Kuchen. Chinas Entwicklung sorgt für gigantische Investments im Ausland. Nur ein Bruchteil davon geht nach Russland.

Je breiter die Kluft zwischen Russland und dem Westen wird, desto größer wird der Wunsch des Kremls nach einer Drehscheibe im Osten. Die russische Staatsmacht hält an ihrer Vision eines „Groß-Eurasiens“ fest. Es ist ein Lieblingsprojekt von Präsident Wladimir Putin und spielt eine wichtige Rolle in den geostrategischen Prioritäten des Landes. Ziel dieser Vision: Russland und China sollen einen mächtigen Block aus nichtwestlichen Ländern kontrollieren, der die Hegemonie der USA herausfordern kann. Die Befürworter dieses Plans strahlen viel Zuversicht aus. Und auf den ersten Blick scheint diese gerechtfertigt.

China und Russland nähern sich an

Im letzten Jahrzehnt gab es immer wieder gute Nachrichten bezüglich einer Annäherung zwischen Russland und China: Der Handel zwischen den Ländern hat an Fahrt aufgenommen, die militärische Zusammenarbeit vertieft sich und Treffen auf höchster Ebene bestätigen, dass die Beziehungen immer intensiver werden.

Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass beide Seiten langfristig sehr unterschiedliche Ziele verfolgen. Peking wird keine Gefälligkeiten aus Freundlichkeit anbieten. Chinas brachiale Wirtschaftskraft dürfte die politischen Hoffnungen des Kremls am Ende überrollen. Russland wird zunehmend an den Rand gedrängt.

Was für Russland als Vision von einer stärkeren Rolle in der Region begann, ist nur mehr ein Traum von der Rückkehr zur Großmacht. Während Moskau an dem Wunschtraum einer gemeinsamen chinesisch-russischen Herrschaft über „Groß-Eurasien“ festhält, nimmt Peking die Umsetzung eigener Pläne in Angriff, in denen Russland allenfalls eine untergeordnete Rolle spielt.

Der Blick nach Osten

Die Drehscheibe im Osten war zentrales Thema des Treffens der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftskooperation (APEC) im Jahr 2012. Der frisch in seine dritte Amtszeit gewählte russische Präsident entschied sich für Wladiwostok als Austragungsort. Das hatte durchaus Symbolkraft, denn der Name bedeutet wörtlich „Beherrsche den Osten“.

In seiner Rede erinnerte Putin an Zar Peter dem Großen, der seine neue Hauptstadt St. Petersburg als Fenster nach Europa bezeichnete. Im gleichen Atemzug sprach er davon, ein Fenster zum Pazifik zu schaffen. Nachdem Russland seinen eigenen fernen Osten lange vernachlässigt und als Akteur in der Region deutlich an Einfluss verloren hatte, signalisierte es, nun bereit zu sein, die einstige Rolle der Sowjetunion wieder einzunehmen.

Russlands Hinwendung zum Osten ist ein verzweifelter Versuch, das Image einer Führungsmacht in Eurasien aufrechtzuerhalten.

Dem APEC-Gipfel gingen ein riesiges Infrastruktur-Investitionsprogramm, die Aufwertung von Wladiwostok zum Freihafen und die Gründung des Far East Development Department, eines eigenen Ministeriums für Russlands Osten, voraus. Seit 2015 findet in Wladiwostok jährlich das Eastern Economic Forum statt. All dies geschah vordergründig in der Hoffnung, Investoren aus dem Ausland in das Land zu ziehen. Die tatsächliche Hoffnung aber – wie Präsident Putin es formulierte – beruhte darauf, dass „Russlands Wirtschaftssegel den chinesischen Wind einfangen könnten“.

Optimismus anno 2015

Im Mai 2015 erreichte der Optimismus seinen Höhepunkt: Bei einem Treffen in Moskau wurde angekündigt, dass die Entwicklung der neu gegründeten, von Russland geführten Eurasischen Wirtschaftsunion (EAEU) mit dem aufstrebenden chinesischen Mega-Verkehrsprojekt, der „Belt and Road Initiative“ (BRI), abgestimmt werden soll. Das Projekt des chinesischen Präsidenten Xi Jinping wird durch ein riesiges Investitionsprogramm unterstützt und soll die Verkehrsinfrastruktur Eurasiens grundlegend verändern.

Russland setzte darauf, dass ein Großteil dieser Investitionen in die eigene baufällige Infrastruktur fließen und der wirtschaftliche Aufschwung Russlands politischen Einfluss vergrößern würde. 2016 stellte Putin seine Vision einer „großen eurasischen Partnerschaft“ vor. Doch schon vor der Ukraine-Krise war klar, dass die russische Vision, alle ehemaligen Sowjetrepubliken in die EAEU einzubinden, um mit der Europäischen Union zu konkurrieren, scheitern würde. Mit der Ukraine-Krise entfremdete sich Russland weiter vom Westen und zudem wuchs der Widerwille anderer Staaten in der Region, sich Russland anzuschließen.

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Zahlen & Fakten

Moskau ist zunehmend davon überzeugt, dass eine verstärkte Kooperation mit dem Westen unwahrscheinlich ist. Seine Hinwendung zum Osten sollte deshalb nicht als trotziges Signal wahrgenommen werden. Vielmehr ist es ein verzweifelter Versuch, das Image einer Führungsmacht in Eurasien aufrechtzuerhalten.

Anzeichen für Fortschritte

Oberflächlich betrachtet scheinen einige Dinge gut zu laufen: In den Bereichen Energie und Waffentechnik wurden zwischen China und Russland diverse Geschäfte abgeschlossen. Es gab gemeinsame Marineübungen im Südchinesischen Meer und in der Ostsee. Das vielleicht wichtigste Zeichen für eine Annäherung der beiden Staaten ist die intensivierte Kooperation in puncto Weltraum. Es wird gemunkelt, dass die russische Marine den Chinesen bei den gemeinsamen Marineübungen einen Uplink, also eine Datenverbindung, zu russischen Satellitenaufklärern zur Verfügung gestellt habe, um amerikanische Marineeinheiten aufzuspüren.

Eine Fusion zwischen dem russischen Satellitennavigationssystem Glonass und dem chinesischen Pendant BeiDou ist geplant. Das dürfte den amerikanischen Marineplanern Anlass zur Sorge bereiten. Bei genauerer Betrachtung könnten diese Schritte Russland allenfalls eine Möglichkeit bieten, der USA die „Zunge zu zeigen“. Obwohl Russland und China bestimmte Werte und Visionen teilen, ist es dennoch strittig, ob das Verhältnis zwischen den beiden Akteuren ausgeglichen ist.

Im Moment haben China und Russland genug Gründe für eine Zusammenarbeit. Es geht um eine gemeinsame Position gegen die amerikanische Hegemonie, gegen die Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten und um eine andere institutionelle Ordnung der Weltwirtschaft. Die mächtige Rolle des Dollars und der westlichen Institutionen wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank soll geschwächt werden. Die Vision reicht von der Einführung der Asiatischen Infrastrukturinvestmentbank über den Handel in ihren nationalen Währungen bis hin zur Gründung nichtwestlicher Rating-Agenturen und der Bildung eines Clearingsystems, das mit SWIFT konkurriert.

Ein genauerer Blick auf die Entwicklung der chinesisch-russischen Achse zeigt, dass Russland – selbst in einer untergeordneten Rolle – viel mehr in der Bedeutungslosigkeit als in einer Partnerschaft enden wird.

Diese Entwicklungen stellen zwar eine enorme Herausforderung für die USA dar, jedoch ist es nicht klar, ob Russland großen Profit daraus zieht – außer die USA zu verärgern. Was der Kreml als „strategische Partnerschaft“ anpreist, ist aus der Sicht Pekings weder eine strategische noch eine echte Partnerschaft. Es bleibt das, was der britische China-Forscher Bobo Lo in seinem Buch von 2008 als „Axis of Convenience“ (Achse der Bequemlichkeit) bezeichnete.

Ein genauerer Blick auf die Entwicklung der chinesisch-russischen Achse zeigt, dass Russland – selbst in einer untergeordneten Rolle – viel mehr in der Bedeutungslosigkeit als in einer Partnerschaft enden wird. Ein Paradebeispiel dafür ist die Erfahrung der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (Shanghai Cooperation Organisation, SCO). Die SCO wurde im Jahr 2001 mit dem Ziel gegründet, die Interessenunterschiede zwischen den beiden Großmächten in Zentralasien abzumildern. Ursprünglich wollte Russland einen „Energie-Club“ ins Leben rufen, der dem Land erheblichen Einfluss ermöglichen würde. China hingegen wollte dieses Bündnis zu einer Freihandelszone ausbauen, zu der Russland wenig beizutragen hätte.

Spiel um Leitungsnetze

Als offensichtlich wurde, dass China das große Spiel um Energie in Zentralasien trotz der anfänglichen russischen Kontrolle über die Leitungsnetze gewinnen würde, konzentrierte sich der Kreml stärker darauf, die Sicherheit zu gewährleisten. Russische Quellen sprechen gerne von einer Arbeitsteilung – China ist in dem Zusammenhang für Wirtschaft und Investitionen verantwortlich, während Russland sich um Politik und Sicherheit kümmert.

Der Kreml wird schon bald feststellen müssen, dass China bereits weit über die SCO hinaus plant und die beiden Parteien keineswegs das gleiche Spiel spielen.

Da Russland in Zentralasien – eine Region, die von Russland lange als eine Art Vorgarten betrachtet wurde – im Bereich der Handels- und Energieentwicklung stark an Einfluss verlor, versuchte das Land, den politischen Einfluss Chinas zu verwässern. Es war froh, als Peking im Juni 2017 endlich zustimmte, Indien und Pakistan als Vollmitglieder in die SCO aufzunehmen. Die Organisation repräsentiert einen Block von Ländern mit einer Gesamtbevölkerung von rund drei Milliarden Menschen. Der Kreml versucht, seine eigene Rolle als ausgleichende Kraft darin weiter auszubauen und drängt auf die Aufnahme des Iran. Dieses ehrgeizige Ziel ist nach dem Ausstieg der USA aus dem Atomabkommen mit Teheran wahrscheinlicher geworden.

Expansion gewünscht


Die Expansion der SCO stellt zwar eine Herausforderung für die USA dar, doch Russlands Anteil beträgt fünf Prozent an der Gesamteinwohnerzahl von drei Milliarden Menschen. Das ist sehr gering. Abgesehen vom militärischen Bereich kommt Russland in Gesprächen über die chinesische und indische Technologieentwicklung kaum vor. Der Kreml wird schon bald feststellen müssen, dass China bereits weit über die SCO hinaus plant und die beiden Parteien keineswegs das gleiche Spiel spielen.

Der Grund dafür: Die chinesische Seidenstraßen-Initiative (Belt and Road Initiative) hat bereits derart an Fahrt aufgenommen, dass daran kein Vorbeikommen mehr ist. Die Initiative umfasst 60 Länder und Investitionen in Höhe von hunderten Milliarden Dollar und ist nur oberflächlich an Russland interessiert. In Peking wird die EAEU kaum erwähnt, da sie mit ihren Mitgliedern lieber auf bilateraler Basis verhandelt.

Bauarbeiten an der Power of Siberia Pipeline
Die Gas-Pipeline „Power of Siberia“ erstreckt sich von Sibirien bis an die chinesische Grenze. © Getty Images

Geringe Investitionen

Was die chinesisch-russische Partnerschaft auszeichnet, ist die gegensätzliche Beurteilung von Sinn und Zweck dieser Partnerschaft. Der Kreml klammert sich an den Traum von der Rückkehr zur Großmacht. Für Peking geht es hingegen um drei Ziele:

Sicherheit für den Norden Chinas, Macht-Balance zum Westen und die Gewährleistung eines stetigen Zuflusses von Ressourcen in die eigene Wirtschaft. Bislang konnte China alles erfolgreich umsetzen. Nach der globalen Finanzkrise profitierte im übrigen China von russischen Notverkäufen im Rüstungsbereich.

Obwohl viel von weiteren Gasgeschäften die Rede ist, verhält sich China beim Bau von Pipelines äußerst zurückhaltend. Die geplante Altai-Pipeline wird nicht realisiert, das Projekt „Power of Siberia“ kommt nur im Schneckentempo voran. Trotz der Belt and Road Initiative sind die chinesischen Investitionen in Russland nach wie vor gering. 2016 investierten chinesische Unternehmen satte 225 Milliarden US-Dollar im Ausland; lediglich zwei Prozent davon in Russland. Außerdem verlangt Peking hohe Zinsen für die Finanzierung des Pipeline-Baus. Dabei beruft sich China auf das politische und wirtschaftliche Risiko.

Schließlich bietet die Verbindung der BRI mit der EAEU dem Reich der Mitte einen ganz konkreten Vorteil. Auf ihrer langen Reise zu den Märkten in Europa müssen chinesische Züge nur noch zwei Grenzen überqueren – eine, um in den eurasischen Wirtschaftsraum zu gelangen, und eine weitere nach Europa.

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Conclusio

In Peking sagen wirtschaftliche Taten mehr als Worte. Raffaello Pantucci, Direktor für internationale Sicherheitsstudien am Royal United Services Institute in London, formuliert es wie folgt: „Ich denke, China kann damit leben, dass Russland sich aufspielt. Die Chinesen werden trotzdem die gewünschten Deals abschließen, und letztendlich hat Russland das Nachsehen.“ Putin lancierte sein Drehkreuz im Osten, nachdem seine Hoffnungen auf eine echte Partnerschaft mit den USA enttäuscht worden waren. Er wollte – gleich hinter den USA – die zweite Geige spielen und warf sich den Chinesen in die Arme. Doch nun, da der BRI-Express an Fahrt aufnimmt, sollte sich Putin an ein klassisches Problem erinnern: Manchmal bewegt man sich vom Regen in die Traufe.