Türkei: Leben mit der Geldentwertung

Die Türkei erlebt eine Hyperinflation, für die Bürger wird der Alltag zunehmend unleistbar. Bisher drückt sich die Regierung erfolgreich vor der Verantwortung.

Einkäufer in einem Lebensmittelgeschäft in Istanbul stehen vor bunten aufgehäuften Gewürzen.
Einkäufer in Istanbul müssen täglich tiefer in Tasche greifen. Seit November 2019 liegt die jährliche Teuerung im zweistelligen Bereich. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Ausnahmezustand. In der Türkei stieg die Inflationsrate im Oktober auf 85 Prozent und bleibt weiterhin in lichten Höhen.
  • Preiskampf. Supermärkte wechseln täglich Preisschilder; die Bevölkerung versucht, auf harte Währungen wie den Euro auszuweichen.
  • Hausgemacht. Die Hyperinflation war schon vor der globalen Teuerungswelle im Gang und wird durch die Geldpolitik befeuert.
  • Paradox. Erdogan setzt im Gegensatz zum Rest der Welt auf niedrige Zinsen: Er will die Wirtschaft ankurbeln und ignoriert deren preistreibende Kraft.

In Istanbul seien die Straßen mit Gold gepflastert, erzählen sich die Menschen in armen Regionen der Türkei seit Generationen und machen sich auf, um in der Metropole am Bosporus ihr Glück zu machen. Die einzige Stadt der Welt auf zwei Kontinenten hat über die Jahre so viele Menschen aus allen Landesteilen angezogen, dass sie mittlerweile 16 Millionen Einwohner zählt.

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Nun bekommt der Spruch aus der Provinz über die reiche Stadt eine neue, bedrohliche Bedeutung: Die Hyperinflation in der Türkei macht Istanbul für viele seiner Bewohner unbezahlbar. Der gesetzliche Mindestlohn in der Türkei, den Millionen Istanbuler beziehen, liegt nach der jüngsten Erhöhung bei 426 Euro im Monat, doch am Bosporus frisst die monatliche Durchschnittsmiete, die auf über 320 Euro geklettert ist, einen Großteil davon sofort wieder auf.

Taschenspielertrick bei Teuerung

Mit 64,3 Prozent gibt das staatliche Statistikamt in Ankara die Jahres-Inflation für Dezember 2022 an. Die offiziellen Zahlen weisen zwar einen deutlichen Rückgang der Teuerung seit dem Höchststand von über 85 Prozent im Oktober aus, doch das liegt vor allem am so genannten Basis-Effekt: Weil die Inflation gegen Ende des Jahres 2021 ihren Höhenflug begann, bildet diese höhere Inflation nun die Grundlage für die Berechnung der neuen Werte. Für die Türken wird der Alltag also nicht billiger; Kritiker sprechen von einem Taschenspielertrick. Gegner von Präsident Recep Tayyip Erdogan glauben zudem, dass die Angaben des staatlichen Statistikamtes manipuliert sind. Unabhängige Experten schätzen die Jahresinflation im Dezember auf 137,5 Prozent.

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Bei Immobilien zeigen selbst staatliche Zahlen, wie sehr die Preise nach oben schnellen. Der Wohnungspreis-Index der Zentralbank für die Türkei schoss innerhalb eines Jahres um 190 Prozent in die Höhe, in Istanbul waren es mehr als 200 Prozent. Die Regierung hat Mieterhöhungen bei Altverträgen auf 25 Prozent gedeckelt, doch viele Vermieter in der Türkei halten sich nicht daran, denn auch sie müssen mit der Hyperinflation zurechtkommen.

Täglich neue Preisschilder

Für die Verbraucher hat der rasante Preisanstieg verheerende Folgen. Er fürchte sich vor finanziellen Rückschlägen wie einer teuren Autoreparatur, sagt ein leitender Angestellter eines Istanbuler Textilunternehmens. Obwohl seine Frau und er Doppelverdiener sind und nur ein Kind haben, reicht ihr Verdienst gerade mal, um die laufenden Kosten zu decken. Am Monatsende bleibt nichts übrig.

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Zahlen & Fakten

Eine Rentnerin erzählt, sie nehme Aushilfsjobs an, um sich über Wasser zu halten. Wie lange sie das körperlich noch schafft, weiß sie nicht. Sicher ist nur, dass sie irgendwoher dringend Geld beschaffen muss: „Ich habe ein Enkelkind, das Nahrung und Windeln braucht, und die Preise steigen immer weiter – eine Flasche Milch kostet schon 20 Lira (das entspricht einem Euro).“

In den Supermärkten steigen die Preise so rasant, dass die Preisschilder ständig geändert werden. „Ich grüble immer darüber nach, wie wir über die Runden kommen sollen“, sagt die Rentnerin, die ihren Namen nicht in den Medien genannt haben will. „Und jetzt kommt auch noch der Winter. Wir werden hungern und frieren müssen.“ Auf die Frage, wie man mit einer Hyperinflation wie in der Türkei zurechtkommt, sagt ein Passant: „Man kommt nicht damit zurecht. Das ist es ja eben.“

Verzichten angesagt

Dabei sind zumindest ältere Türken durchaus erfahren darin, mit einer hohen Inflation zu leben. „Die Inflation lag früher immer so zwischen 50 und 60 Prozent und schnellte in Krisenzeiten auf 120 Prozent nach oben“, sagt der unabhängige Wirtschaftsexperte Emre Deliveli. Das wichtigste Mittel gegen die Inflation lautet in der Türkei wie anderswo: sparen, wo es geht.

Viele Verbraucher streichen den Urlaub, verkaufen das Auto und geben im Supermarkt weniger aus als im vergangenen Jahr. Die Kauflaune der Türken war jahrelang eine der Stützen der Wirtschaft. Seit Anfang der 2000er Jahre der türkische Wirtschaftsboom begann, hat sich die Zahl der Einkaufszentren im Land fast verfünffacht. Aber die Hyperinflation in der Türkei und die Abwertung der Lira gegenüber Dollar und Euro rücken besonders Importgüter für Normalbürger außer Reichweite. Das teuerste „iPhone“ kostet mehr als 50.000 Lira – für denselben Betrag habe man sich vor fünf Jahren noch einen Neuwagen kaufen können, rechnen türkische Medien vor.

Ladenketten und Online-Shops reagieren, indem sie ihren Kunden bei größeren Anschaffungen einen Zahlungsaufschub von mehreren Monaten und Ratenkäufe anbieten. Wer in einem Geschäft in bar zahlen will, braucht mitunter dicke Pakete von Geldscheinen – der Wocheneinkauf für eine Familie kostet mindestens rund 2000 Lira (100 Euro), doch der größte türkische Schein hat einen Nennwert von 200 Lira. Die Regierung dementierte Berichte, wonach sie 500- und 1000-Lira-Geldscheine einführen will. Die 200-Lira-Note ist nur noch etwa zehn Euro wert; bei ihrer Einführung 2009 waren es fast hundert Euro.

Ausweichen auf Dollar und Euro

Aus den Krisenjahren der 1990er kennen viele Türken einige Tricks, wie sie der Geldentwertung zumindest ein wenig entkommen können. Einer dieser Kniffe besteht darin, Lira-Einkünfte aus Arbeit, Rente oder Verkäufen so schnell wie möglich in Dollar oder Euro umzutauschen, um sie dann je nach Bedarf wieder in Lira zurück zu verwandeln. Die harten Währungen schützen das Geld vor der Inflation.

Eine Mutter mit zwei Kindern steht vor einem Juwelier in Istanbul, die Auslage ist voll mit Goldschmuck.
Gold wurde während der global um sich greifenden Inflation seinem Ruf als stabiler Wertspeicher nicht ganz gerecht, doch im Vergleich zur Entwertung der Lira bleibt das Edelmetall eine begehrte Alternative für Türken. © Getty Images

Besucher aus dem Ausland können sehen, wie weit verbreitet dieser Umweg ist: In jeder türkischen Stadt gibt es viel mehr Wechselstuben als in vergleichbaren europäischen Städten. „Man muss immer harte Währung dabei haben“, sagt ein Mann und faltet als Beweis für seinen Wahlspruch die Lira-Noten auseinander, die er in der Tasche stecken hat. In der Mitte liegt ein gefalteter Dollar-Schein.

Gold ist ein weiterer beliebter Schutz für inflationsbedrohte Lira-Bestände. „Gold ist eine ausgezeichnete Investition gegen die Inflation, denn es verliert keinen Wert“, sagt ein Goldhändler, der nur seinen Vornamen Tayfun genannt wissen will. „Manche Leute kaufen für ihr Einkommen sofort Gold und verkaufen es dann im folgenden Monat, wenn die Rechnungen kommen. Andere halten das Gold länger, einige verkaufen es auch gar nicht mehr. Gold ist einfach ein sicherer Hafen.“ Gekauft wird Gold in der Form kleiner Barren oder als Münzen der türkischen Republik mit dem Bild von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk.

Börsenboom wegen Teuerung

Auch die Börse bietet Schutz vor der Inflation. Viele Türken legen ihre Lira in Aktien an und hoffen darauf, ihre Ersparnisse damit in Sicherheit bringen oder sogar einen Gewinn erzielen zu können. Nicht zuletzt wegen dieser Neuanleger sind die Kurse an der Istanbuler Börse im vergangenen Jahr um fast 200 Prozent gestiegen.

Wer nicht genug Geld für Goldmünzen oder Aktien hat, kann immer noch seine Kreditkarten überziehen. Die Schulden auf der einen Karte mit Geld von einer neuen zu bezahlen, ist gang und gäbe in der Türkei, auch wenn vielen Verbrauchern dabei irgendwann einmal die Puste ausgeht. Hunderttausende können die Schulden auf ihren überzogenen Kreditkarten oder Konten nicht mehr bedienen.

Die Eltern auf dem Dorf schicken uns Lebensmittel, sie schicken uns Käse und Joghurt und Butter.

Istanbuler Markthändler

Wenn es wirklich eng wird, springt oft die Verwandtschaft ein: Familien halten in der Türkei enger zusammen als in Europa. Ein Markthändler, der kaum noch etwas verkauft, weil seine Kunden kein Geld mehr haben, berichtet von Proviant-Paketen, die wegen der Inflation geschnürt werden. „Die Eltern auf dem Dorf schicken uns Lebensmittel, sie schicken uns Käse und Joghurt und Butter“, sagt er. „Anders würde es hier nicht mehr gehen. Das gibt es in Europa wohl nicht.“

Eigensinnige Bekämpfung der Hyperinflation

Obwohl die Inflation und die schlechte Wirtschaftslage die wichtigsten Themen für die meisten Türken sind, gibt es bisher keinen Aufstand gegen Erdogans Regierung. Dabei ist der Präsident zumindest zu einem Teil für die Misere verantwortlich. Erdogan hat die Zentralbank seit Ende 2021 zu mehreren Zinssenkungen verdonnert, denn er ist der Meinung, dass hohe Zinsen die Ursache für hohe Inflation sind. Der Rest der Welt sieht das anders: Dort erhöhen Zentralbanken die Zinsen, um die Inflation zu bekämpfen.

Mit den niedrigen Zinsen will Erdogan vor den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, die im Mai stattfinden, die türkische Wirtschaft ankurbeln; der Internationale Währungsfonds (IWF) schätzt das türkische Wirtschaftswachstum für 2022 auf fünf Prozent – das ist wesentlich höher als das Wachstum im Euro-Raum, das vom IWF auf 3,1 Prozent angesetzt wird.

Zudem setzt Erdogan darauf, dass die Wähler den nominellen Inflationsrückgang seit Oktober als Leistung der Regierung sehen werden. Er hat den gesetzlichen Mindestlohn von 5500 Lira auf 8500 Lira erhöhen lassen, rund zwei Millionen Türken die Frührente ermöglicht und will die Beamtenbezüge um 25 Prozent anheben.

Mit Interventionen der Zentralbank bremst Erdogan den Wertverlust der Lira gegenüber Dollar und Euro ab; das Geld dafür kommt unter anderem aus den Golf-Staaten Katar und Saudi-Arabien, die der türkischen Staatskasse insgesamt 15 Milliarden Dollar zur Verfügung gestellt haben.

Gefahr eines Kollaps

Wirtschaftsexperte Deliveli nimmt an, dass dieses System irgendwann kollabieren muss, weil es nur für begrenzte Zeit bezahlbar ist. Die Frage ist für ihn nicht, ob dieser Zusammenbruch kommen wird, sondern wann. „Dann müssen die Zinsen steigen, es gibt eine Rezession, Massenentlassungen und Arbeitslosigkeit. Das wird passieren, und die Bevölkerung wird zahlen müssen.“

Noch kann sich Erdogan auf die Gefolgschaft von Millionen Türken verlassen. Auch der Westen leide unter hoher Inflation, sagt er seinen Wählern und spricht von angeblich leeren Regalen in europäischen Supermärkten. Regierungstreue Medien melden, in Europa würden Lichter und Heizungen abgeschaltet. Erdogan argumentiert, dass seine Regierung nicht schuld an den Problemen sei und dass es den Türken im Vergleich zu den Europäern noch gut gehe.

Die Botschaft kommt bei vielen Türken an. Trotz der hohen Inflation sind 45 Prozent der Wähler mit Erdogans Amtsführung zufrieden, wie das angesehene Meinungsforschungsinstitut MetroPoll ermittelte. Die Inflation werde in den kommenden Monaten weiter zurückgehen, sagte Erdogan nach Bekanntgabe der Dezember-Zahlen voraus.

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Conclusio

Die Inflation in der Türkei hat historische Ausmaße angenommen. Das tägliche Leben wird für die Bevölkerung quasi unleistbar. Wer kann, wechselt seine Lira in Euro und Dollar, kauft Gold oder Wertpapiere, um der weiteren Entwertung der Lira zu entkommen. Zusammenhalt in der Familie bis zu Versorgungspaketen in Naturalien vom Land ist für die Stadtbevölkerung eine Stütze. Mit seiner paradoxen Geldpolitik macht Präsident Erdogan die Teuerung noch schlimmer: Mit niedrigen Zinsen will der Staatschef vor den anstehenden Wahlen die Wirtschaft ankurbeln, obwohl dadurch die Inflation weiter angeheizt wird. Ein Großteil der Türken steht trotzdem hinter dem Präsidenten, der die Schuld an der verheerenden Teuerungen auf Einflüsse aus dem Ausland schiebt.

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