Impfskepsis: Der Staat in der Pflicht

Wenn Menschen sich nicht impfen lassen wollen, hat oft genug die Politik versagt. Oder gelogen. Über die Ursachen der Impfskepsis.

Illustration einer Impfdosis in einer ausgestreckten Hand, der ein Stopschild entgegen gehalten wird
Impfungen werden oft für politische Zwecke instrumentalisiert. Das hat mitunter verheerende Folgen. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Fehlende Gerechtigkeit. Im globalen Süden sterben noch heute viel zu viele Kinder an Erkrankungen, gegen die es eine Impfung gäbe.
  • Problem Misstrauen. Immer wieder wird mit Impfungen Politik gemacht. Das macht Menschen skeptisch, wenn Regierungen gesundheitliche Maßnahmen empfehlen.
  • Vereinte Kräfte. Manchmal gelingt es, alle relevanten Kräfte zu vereinen – auf diese Weise konnte auch Polio in Südafrika ausgemerzt werden.
  • Und die Zukunft? Corona war nicht das letzte Virus, das eine Pandemie ausgelöst hat. Für Regierungen muss Vertrauensbildung in der Bevölkerung Priorität sein.

Was bringt Menschen dazu, sich impfen zu lassen? Und was hält sie davon ab? Diese Fragen stelle ich mir als Sozialwissenschaftlerin und Anthropologin nicht erst seit der Corona-Pandemie. Mich interessiert in meiner Forschung besonders, wie das in Ländern des globalen Südens aussieht und dabei ganz besonders in den vulnerablen Gruppen, also jenen Teilen der Bevölkerung, die am meisten darunter leiden. Fragt man nach Lektionen aus internationalen Impfkampagnen, dann fällt mir ein besonders negatives und ein besonders positives Beispiel ein. Und aus beiden ist sehr viel zu lernen.

Auf der Suche nach Osama bin Laden

Gehen wir zunächst zurück ins Jahr 2010. Agenten der US-amerikanischen CIA hatten DNA-Proben der Schwester Osama bin Ladens bekommen, des damals wohl meistgesuchten Mannes der Welt. Was die USA daraufhin machten, ist aus heutiger Sicht unglaublich: Sie organisierten eine falsche Hepatitis B-Impfkampagne in der pakistanischen Stadt Abbottabad. Hinweise hatten sich verdichtet, dass bin Laden dort leben könnte. Anstatt die Impfnadeln wie sonst üblich nach der Impfung zu entsorgen, hielten sie diese zurück, um an mehr DNA von bin Ladens Familie zu kommen und ihn so ausfindig zu machen. 

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Zahlen & Fakten

Schon vor dieser falschen Impfkampagne war das Misstrauen gegenüber Impfungen in Pakistan sehr hoch. Die Aktion war sozusagen das Tüpfelchen auf dem i. Es kam zu großen Verschwörungstheorien, deren geopolitische Zusammenhänge von Inayat Ali in einer Dissertation aufgearbeitet wurden. Der Schaden, der durch diese Aktion angerichtet wurde, ist enorm. Heute sind Pakistan und Afghanistan die einzigen zwei Länder der Welt, in denen noch ein wilder Polio-Stamm zirkuliert. Würde man die Situation dort unter Kontrolle bringen, könnte man die Krankheit vermutlich komplett ausrotten – etwas, das die WHO schon seit Jahren versucht. Die falsche Impfkampagne hat das Vorhaben vermutlich um etliche Jahre zurückversetzt. 

Impfung braucht Infrastruktur

Sich impfen lassen zu können, ist zuallererst vom Zugang zu Impfungen und von der Verteilung im lokalen Gesundheitssystem abhängig. Das habe ich in meiner Arbeit mit der WHO in Ländern des globalen Südens gelernt. Oft gibt es dort sehr schwache Gesundheitssysteme, Menschen sind schlechter versorgt. In manchen Gebieten gibt es nicht mal Straßen, auf denen Impfstoffe verteilt werden können. Dazu kommt die fehlende Infrastruktur, um etwa Impfstoffe ausreichend kühlen zu können. Wenn das noch mit korrupten Systemen oder Fällen wie in Pakistan vermischt wird, sinkt das Vertrauen in Regierungen und Institutionen. Armut und Infektionskrankheiten werden so weiterbefördert. 

Es gibt viele Kampagnen, die auf eine Krankheit ausgerichtet sind – aber nur wenige Programme, die auf die primäre Gesundheitsversorgung abzielen.

Viele sagen uns auch: Ihr macht jetzt zwar einen Riesenaufwand und kümmert euch plötzlich um uns, aber es gibt Dinge, die uns mehr Sorgen bereiten als Polio. Durchfallerkrankungen sind in vielen Ländern immer noch die vierthäufigste Todesursache bei Kindern. Wenn diese Probleme nicht angesprochen werden, entsteht ein Gefühl des Misstrauens. Die Leute fühlen sich nicht verstanden.

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Zahlen & Fakten

Es gibt viele Kampagnen, die auf eine Krankheit wie HIV, Tuberkulose, Malaria, Gelbfieber oder Polio ausgerichtet sind. Doch es gibt nur wenige Programme, die auf die primäre Gesundheitsversorgung abzielen. Ein solcher neuer Fokus würde eine grundlegende Reform erfordern. Wenn das geschieht, man also eine primäre Gesundheitsversorgung aufbaut, würde auch die Struktur und Versorgung während Notfällen, etwa Pandemien, besser funktionieren.

Politisierung lebensgefährlich

Doch ich will auch von einem zweiten, positiveren Beispiel erzählen: Schon 1996 startete die WHO – mit Unterstützung von Nelson Mandela – die „Kick Polio out of Africa“-Kampagne, bei der man schon im ersten Jahr 50 Millionen Kinder impfen wollte. Ein Fokus lag auf Nigeria, das 45 Prozent der globalen Polio-Fälle ausmachte. 2003 war in Nigeria gerade ein großer Konflikt zwischen dem Norden – der traditionell muslimisch ist – und dem Süden – der mehrheitlich christlich ist – in Gange. Der Konflikt wurde angefeuert, als religiöse Führer im Norden behaupteten, Polio-Impfungen würden Frauen unfruchtbar machen sowie HIV und Krebs auslösen.

Bei jeder Infektionskrankheit muss man die Kommunikationsstrategie anpassen.

Daraufhin riefen sie Eltern dazu auf, ihre Kinder nicht mehr immunisieren zu lassen. Sie sahen es als einen politischen Komplott, den man so gegen sie führen wollte, und boykottierten die Impfkampagne. Über Jahre hinweg passierte nichts, bis man sich aktiv bemühte, diese Leute wieder an Bord zu holen. Man schaffte es, ranghohe religiöse Führer zu überzeugen. Sie begannen die Impfaktion öffentlich zu unterstützen, die Impfkampagnen rollten wieder an. Seit 2016 kommt in Nigeria kein Polio-Wildtyp mehr vor. Eine historische diplomatische Leistung. 

Vertrauen als Schlüssel

Das Beispiel zeigt gut, wie wichtig es ist, religiöse Führer sowie Politiker, also Leute auf regionaler Ebene ins Boot zu holen. Von dort muss es sozusagen in alle Ebenen runtertröpfeln. Ansonsten können Verteilung und Zugang noch so gut sein. Wenn ein Land wie Nigeria eine Impfkampagne plant, ist es deshalb wichtig, nicht nur die medizinische, sondern auch eine sozialwissenschaftliche und vor allem lokale Expertise mit hinein zu bringen. Die Kampagnen müssen gemeinsam mit lokalen Experten geplant werden – und damit meine ich nicht nur Wissenschaftler. Es sind Leute, die oft schon wissen, in welchen Regionen besonders viel Misstrauen herrscht und wieso. Für mich als Anthropologin geht es darum, die Sorgen dieser Menschen ernst zu nehmen und ihre Bedürfnisse einzuplanen. Wir nennen das den buy-in, also die Akzeptanz der Leute. 

Für mich als Anthropologin geht es darum, die Sorgen der Menschen ernst zu nehmen und ihre Bedürfnisse einzuplanen.

Habe ich dieses buy-in der Bevölkerung nicht, steht der Zug. Den Fall hatten wir zum Beispiel beim Ebola-Ausbruch in Westafrika 2014. Ich war damals für die WHO in Liberia, um mehr über Wahrnehmung und Misstrauen in der Bekämpfung der Epidemie herauszufinden. Bei jeder Infektionskrankheit muss man die Kommunikationsstrategie anpassen. Wenn ich zum Beispiel englischsprachige Plakate verwende, auf denen dramatisch dargestellt wird, was bei einer Nicht-Behandlung oder Nicht-Impfung passiert, kann das funktionieren, aber auch kontraproduktiv sein.

In der Gerüchteküche

Werden Menschen dadurch zu ängstlich, verneinen sie manchmal die Tatsache, dass es überhaupt eine Epidemie gibt. Dazu kommen Gerüchte. Oft steht auch das in Verbindung mit Vorstellungen über den Westen, die durch Vorfälle wie in Pakistan befeuert werden. Länder oder auch NGOs wird vorgeworfen, damit Geld machen zu wollen. Die Menschen denken: Bisher hat sich niemand für uns interessiert und jetzt fahren plötzlich die neuesten Autos mit toll ausgebildeten Leuten vor. Das macht misstrauisch. Beim Ebola-Impfstoff, der auf einer Notfall-Zulassung angewendet wurde, dachten die Menschen teilweise auch, der Westen wolle diesen an ihnen experimentell testen. 

All das sind Dinge, die man auch bei der Verteilung des Covid-19-Impfstoffes im Hinterkopf behalten sollte. Die Covax-Initiative, bei der Covid-19 Impfstoffe weltweit gerecht und fair verteilt werden sollen, ist ein gutes Versprechen, hat aber noch viele Hürden zu bewältigen, wenn man sich die aktuelle Verteilung der Impfstoffe ansieht. Aber wenn Dinge wie Infrastruktur, lokale Interessen und die spezifischen Gründe für Misstrauen nicht mit einbezogen werden, wird man auch damit nicht durchkommen. 

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Conclusio

Impfskepsis entsteht, wenn Menschen kein Vertrauen in ihre Regierungen haben. Das zeigen Beispiele aus dem globalen Süden. Die Gegenstrategie: Vertrauensbildende Maßnahmen in der Bevölkerung durch sehr gezielte, lokale Maßnahmen. Soll diese Überzeugungsarbeit gelingen, müssen auch die vielen Gerüchte rund um Immunisierungen ernst genommen werden.