Staatliche Willkür bei der Preismessung

Die Preise steigen stärker, als der Inflationsindex glauben macht. Das liegt auch daran, dass die Statistik qualitative Verbesserungen von der Teuerung abzieht. Das hat gravierende Folgen. Mehr Transparenz würde das Vertrauen in die Geldpolitik erhöhen.

Euroscheine und -münzen in einem Eimer
Mehr Geld, weniger Kaufkraft: In Europa greift die Inflation um sich. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Alles wird teurer. Und das nicht erst seit der Corona-Pandemie. Die Geldentwertung schreitet seit Jahren eifrig voran und schlägt sich längst im Alltag nieder.
  • Hedonische Methode. Verändert sich die Qualität von Produkten, so werden auch ihre Preise in Statistiken zur Inflationsmessung anders gewichtet und bewertet.
  • Mangelware Transparenz. Es gibt allerdings ungenügend Informationen dazu, bei welchen Gütern welche Qualitätsanpassungen stattfinden.
  • Zweierlei Maß. Eine Lösung für das Problem liegt in der Veröffentlichung zweier Indizes: einmal mit Qualitätsanpassung und einmal ohne.

Derzeit führen Ökonomen eine an­geregte Diskussion darüber, ob die von den Notenbanken ausgelöste Geldflut, gepaart mit massiv gestiegenen Staatsausgaben und der wieder deutlich angezogenen Konjunktur, zu deutlich ­höheren Inflationsraten führen wird. Dabei werden zwei wesentliche Fak­toren leicht übersehen: Die Preise sind längst stark gestiegen, was sich leicht an Einkäufen des täglichen Bedarfs ­zeigen lässt. Und: Die Geldentwertung könnte seit Jahren viel höher sein, als die offizielle Statistik suggeriert. Denn die Preisbemessung wird von der Politik beeinflusst.

Qualität drückt Preise

Je mehr ein Produkt an Qualität oder Technologie gewinnt, desto stärker sind die Abzüge bei der Preissteigerung. Diese Qualitätsanpassung der Preise hat ihren Ursprung in den USA in der sogenannten Boskin-Kommis­sion, die nach ihrem Leiter Michael Jay Boskin benannt ist. Sie stellte 1996 fest, dass aufgrund nicht ausreichender Qualitätsanpassung die Inflation zu hoch gemessen würde.

Typische Beispiele für Qualitäts­anpassungen sind die höhere Leistung eines neuen Computertyps, der geringere Energieverbrauch einer neuen Kühlschrankvariante oder eine neue Standardausstattung in einem Automodell (zum Beispiel Navigationssystem ohne Aufpreis). Die statistischen Behörden schätzen den Wert der Qualitätsverbesserung und rechnen die Preise in der Statistik entsprechend herunter. Das erfolgt unabhängig davon, ob die Konsumenten die neue Funktion wollen oder nicht.

Bremse beim Auto-Kaufpreis

Ein Beispiel zeigt die Auswirkung dieser sogenannten „hedonischen Methode“ der Inflationsberechnung: Lag der Preis für einen durchschnittlichen Pkw im Jahr 1999 bei 18.500 Euro, war er 2020 um fast 100 Prozent auf gut 36.000 Euro gestiegen. In der Statistik wird jedoch nur ein Preisanstieg von 22,5 Prozent ausgewiesen. Im selben Zeitraum ist der durchschnittliche Netto­lohn um 52 Prozent gewachsen.

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Zahlen & Fakten

Es wird wohl auch bei der Qualitätsanpassung nicht berücksichtigt, dass Dienstleistungen in vielen Bereichen abgenommen haben: Das Selbstbuchen im Netz, der Boom der Selbstbedienung, die subjektiv gesunkene Dichte von Verkäufern im Einzelhandel, lange Warteschleifen bei der Telefonberatung, das Verschwinden von Wurst- und Käsetheken in Supermärkten und die Geburt der Selbstbedienungskassen haben wohl nicht zu Preiserhöhungen in der Statistik geführt.

Dass alle diese Aussagen im Konjunktiv formuliert sind, liegt daran, dass die statistischen Behörden keine Informationen zur Verfügung stellen, bei welchen Gütern in welchem Umfang Qualitätsanpassungen erfolgen. Es ist damit unbekannt, um wie viel die Inflation höher (oder niedriger) gemessen würde, wenn es keine oder andere Qualitätsanpassungen gäbe. Anders ausgedrückt glänzen die involvierten Einrichtungen bei der Inflationsmessung nicht gerade mit Transparenz.

Billig ersetzt teuer

Ein zweiter Problempunkt ist die Anpassung der Gewichte, die einzelne ­Güter im Index haben. Die Boskin-Kommission hatte festgestellt, dass Konsumenten Produkte, die relativ teurer werden, durch billigere Produkte ersetzen. Das hat dazu geführt, dass die Gewichte einzelner Produkte veränderten Konsumgewohnheiten angepasst werden, im Harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) von Eurostat mit einer Zeitverzögerung von zwei Jahren. Auch hier sind die Effekte auf die gemessene Inflation unbekannt.

Relevant ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Unternehmen auf die Veränderungen des Konsumentenverhaltens mit entsprechenden Angeboten reagieren. Bei einigen Produkten wie Möbeln ist – zum Beispiel mit Ikea – ein sehr günstiges Preissegment entstanden, in dem in vielen Fällen bei der Qualität (Pressspann mit Plastikfolie statt wie früher Vollholz) und der Dienstleistung (Selbstaufbau statt als Ganzes geliefertes Möbelstück) Ab­striche klar erkennbar sind. Ebenso scheint bei vielen Lebens­mitteln die Nachhaltigkeit der Produktionsmethoden deutlich ab­genommen zu haben.

Die involvierten Einrichtungen glänzen bei der Inflationsmessung nicht gerade mit Transparenz.

Berücksichtigt man, dass beispielsweise in Deutschland seit Ende der 1990er-Jahre die Löhne breiter Bevölkerungsschichten lange Zeit nur schwach gestiegen sind, dann ist folgendes Szenario denkbar: Wenn die verfügbaren Einkommen fallen, dann forcieren die Konsumenten die Suche nach billigen Alternativen, sodass das Gewicht billiger Güter mit geringen Preissteigerungen im Index steigt. Niedrigere offiziell gemessene Inflationsraten spiegeln dann nicht zwingend eine stabile, sondern eine gesunkene Kaufkraft wider.

Schließlich sind einige Güter gar nicht im Verbraucherpreisindex repräsentiert, konkret (eigengenutzte) Immobilien, Vermögensgüter wie Aktien sowie vom Staat bereitgestellte öffent­liche Güter. Der HVPI ist damit nicht – wie oft suggeriert – ein Maß für die allgemeine Inflation, sondern nur für Preisveränderungen der im zugrundeliegenden Warenkorb vertretenen Güter und Dienstleistungen.

Mietpreise kaum berücksichtigt

Da eigengenutzte Immobilien in der EU bei der offiziellen Preismessung ausgeklammert sind, ist Wohnen nur durch die vom Staat stark kontrollierten Mieten im Index vertreten. Deshalb ist das Gewicht von Wohnen im HVPI irritierend gering: in Deutschland derzeit rund zehn Prozent, in Österreich fünf Prozent und in der Schweiz (inklusive eigengenutzten Wohnens) 20 Prozent. In der Inflationsmessung spiegelt sich damit in der EU nicht wider, dass die Immobilienpreise seit Einführung des Euro sehr stark gestiegen sind.

Das ist vor allem für junge Menschen, die noch Immobilien erwerben wollen, ein sehr reales Problem. Zwar hat sich die Europäische Zen­tralbank (EZB) zuletzt in diesem Punkt kompromissbereit gezeigt. Doch dann müsste auch ein adäquates Maß für die Veränderung der in den letzten Jahren gestiegenen Immobilienpreise gefunden werden. Denn in manchen Ländern werden zwar eigengenutzte Immobilien in die Preismessung mit einbezogen, doch diese Feststellung erfolgt auf Basis der Mieten.

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Zahlen & Fakten

Auch die Vermögenspreise, also die Preise von Aktien, Edelmetallen, Kunst oder Kryptowährungen, sind – befeuert von anhaltend niedrigen Zinsen – seit der Jahrtausendwende stark angestiegen. Im offiziellen Konsumentenpreisindex sind sie nicht vertreten, obwohl sich dadurch der zukünftige Konsum deutlich verteuert hat. Hätte man Vermögenspreise vor zwanzig Jahren in die Preismessung integriert, dann hätte es die seit 2008 oft beschworene Gefahr der Deflation – also fallender Preise – nie gegeben. Vor allem aber hätten wir dann seit Jahren wesentlich höhere Inflationsraten.

Es bestehen also Zweifel, ob die Inflationsmessung den Verlust von Kaufkraft breiter Bevölkerungsschichten im Euroraum angemessen abbildet oder nur die Illusion stabiler Kaufkraft schafft. Manche sprechen vom „Märchen vom reichen Land“. Fest steht, dass alle Aussagen über die preisbereinigte Entwicklung von Löhnen, Zinsen und Bruttoinlandsprodukt von der Inflationsmessung abhängig sind. Ebenso orientieren sich Lohnverhandlungen und die Anpassung von Sozial­leistungen an der offiziell gemessenen Inflation.

US-Eingriffe in Preismessung

Die daraus resultierende Schützenhilfe der EZB bei der Finanzierung schuldenfinanzierter Staatsausgaben könnte ein wichtiger Grund dafür sein, dass die Regierungen im Euroraum die Schwächen bei der Inflationsmessung bisher nicht merklich thematisiert haben. Wenn die zuletzt deutlich gestiegene offizielle Inflation diesen Weg der Staatsfinanzierung versperren sollte, dann bleibt immer noch ein Weg, den die US-amerikanische Fed in den 1970er-­Jahren wählte. Sie entfernte einfach preistreibende Gütergruppen wie Lebensmittel und Energie aus dem Index, um weiterhin niedrige Inflation vermelden zu können.

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Vertrauen in Gefahr

Solche Schritte könnten jedoch das Vertrauen in die offizielle Inflationsmessung schädigen, wie es bereits durch die starke Diskrepanz zwischen der ­offiziell gemessenen Inflation und der von der Europäischen Kommission gemessenen gefühlten Inflation in der Eurozone deutlich wird.

Eine Lösung für das Problem könnte es sein, zwei Indizes zu veröffentlichen, einen mit Qualitäts- (und Gewichts-)Anpassung und einen ohne. Das würde eine höhere Transparenz und eine klarere Diskussionsgrundlage schaffen. Die Entwicklung der Vermögenspreise müsste bei der Geldpolitik berücksichtigt werden. Schließlich müsste das eigengenutzte Wohnen auf der Basis der Kaufpreise in die Inflations­berechnung einfließen. Denn der Erwerb eines Hauses ist für viele Menschen die größte ­Investition ihres Lebens.

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Conclusio

Bei der Inflationsmessung werden Qua­litätsverbesserungen berücksichtigt, die sich dämpfend auf den Preisanstieg auswirken. Auch andere Faktoren wie der niedrige Anteil der Kosten des Wohnens und die im Inflationsindex fehlenden Vermögenspreise verzerren die Statistik. ­Alles in allem sind Effekte, die die offi­ziellen Preissteigerungen niedrig halten, schwer von der Hand zu weisen. Für viele ist das von Nachteil, weil Anpassungen – von Löhnen bis zu Sozialleistungen – an die Inflation gekoppelt sind. Zudem ver­anlasst die offiziell gemessene niedrige Inflation die Europäische Zentralbank dazu, Zinsen niedrig zu halten und Staatsanleihen zu kaufen, wodurch die Ersparnisse stark entwertet werden. Es ist deshalb nicht überraschend, dass das Vertrauen in die EZB bei vielen Menschen im Euroraum gelitten hat.