Hohe Inflation untergräbt Vertrauen

Weltweit steigen die Preise so stark wie seit Jahrzehnten nicht. Experten sehen darin eine temporäre Folge des Aufschwungs nach der Krise. Ein Problem: Ob die Inflation unter Kontrolle bleibt, hängt auch vom Vertrauen der Menschen in die Zentralbanken ab.

Heißluftballone in Form von Währungssymbolen
Eine Reise ins Ungewisse: Wohin die Preisentwicklung führen wird, ist derzeit noch unklar. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Plötzliches Comeback. Die Preise steigen nach der Coronakrise stark an – eine derartige Dynamik kann zu einer selbst erfüllenden Prophezeiung ausarten.
  • Geldpolitisches Dilemma. Die Zentralbanken wollen den Aufschwung nicht abwürgen, müssen aber als Hüter der Preisstabilität glaubhaft bleiben.
  • Ungleiche Wirkung. Inflation hat in den USA die Ungleichheit verstärkt, auch in Europa wirken Preissteigerungen unterschiedlich auf einzelne Haushalte.
  • Politik begründen. Währungshüter müssen ihre Politik mit Blick auf entstehende Klüfte besser rechtfertigen, sonst droht das Vertrauen in Geld zu schwinden.

Wenn sie es einmal in die Nachrichten schafft, wird sie gerne mit einem Gespenst verglichen. Lange nicht gesehen und plötzlich geistert sie umher und schürt Verunsicherung: Die Rede ist von Inflation. Während sich weite Teile der Weltwirtschaft von den Folgen der Corona-Pandemie im Laufe des Jahres erholten, sind die durchschnittlichen Preise für einen breiten Warenkorb an Gütern und Dienstleistungen so stark gestiegen wie seit langem nicht.

In Deutschland meldete das statistische Bundesamt eine monatliche Teuerungsrate im August von 3,9 Prozent, der höchste Wert seit 28 Jahren. Noch stärker stiegen die Preise in den USA, seit Mai liegt die Inflation über der Fünf-Prozent-Marke, zuletzt geschehen im Jahr der Finanzkrise 2008. Auch in Österreich kletterte die Inflationsrate auf 2,9 Prozent. In der Schweiz lag sie zuletzt bei 0,9 Prozent – Tendenz steigend.

Läuft die Inflation aus dem Ruder, verlieren die Menschen das Vertrauen ins Geld. Ist die aktuelle Entwicklung somit besorgniserregend? Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es darauf keine einfache Antwort.

Erwarteter Preissprung

Experten haben stets erwartet, dass Preise nach längerer Stagnation und teilweise deutlichen Rückgängen während der Krise zeitweise umso stärker steigen. Heizöl etwa ist in Deutschland, Österreich und der Schweiz im Vorjahr um gut ein Viertel billiger geworden. Der Rohölpreis der Sorte Brent kletterte zuletzt über 80 Dollar, während der Krise war er auf auf 21 Dollar gefallen. Ökonomen sprechen hier von einem Basiseffekt: Wenn beispielsweise der Literpreis Benzin binnen eines Jahres von 1,20 Euro auf einen Euro fällt und im Jahr darauf wieder bei 1,20 Euro steht, entspricht das bei Benzin einer Inflationsrate von 20 Prozent. Die vorangegangene Verbilligung erregt dagegen weniger öffentliche Aufmerksamkeit.

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Zahlen & Fakten

Für Zentralbanken, deren Ziel es ist, langfristig den Wert des Geldes stabil zu halten, sind vorübergehende Preisschwankungen nicht sehr bedeutend. Tatsächlich haben die meisten Experten zuletzt mit höheren Inflationsraten gerechnet. Allerdings wurden zuletzt ihre Prognosen von den Daten Monat für Monat ein wenig übertroffen. Ob Inflation langsam außer Kontrolle gerät, hängt auch davon ab, was sich in den Köpfen der Menschen abspielt.

Möglicher Teufelskreis

Das Vertrauen in den Euro, den Dollar oder den Franken hängt davon ab, ob das Geld langfristig seinen Wert behält. Wer sein Einkommen in Euro bezieht, muss sich darauf verlassen können, dass der tägliche Einkauf vom Obst bis zum Waschmittel sowie größere Anschaffungen wie ein Mobiltelefon oder Auto in seiner Währung leistbar bleiben.

Hohe Inflationsraten sind oft volatil und das erhöht die Unsicherheit. Wenn die Konsumenten sehen, dass der Wert einer Währung immer mehr schwankt, führt das zu Unsicherheit, die wiederum Entscheidungen beeinflusst – ein sich selbst verstärkender Prozess. Zum Beispiel, wenn eine Tischlerei erwartet, dass Preise steigen, dann schreiben sie in einen längerfristigen Vertrag mit einem Möbelhändler relativ höhere Preise fest. Damit sieht der Möbelhändler schwarz auf weiß, dass die Preise gestiegen sind, und gibt das an den Konsumenten weiter. Dieser verlangt darauf einen höheren Lohn, um sich sein Sofa leisten zu können. Somit steigen die Produktionskosten und die Preise.

Wenn das Vertrauen in ein stabiles Preisniveau einmal verloren geht, ist das ein Tipping-Point. Das kann Inflation anfachen, aber es gab auch Episoden von Deflation – sinkenden Preisen – die so verstärkt wurden. Wer erwartet, dass Preise fallen, kauft nicht sofort ein. Die Nachfrage sinkt, daher muss das Angebot günstiger werden und damit bestätigen sich die ursprünglichen Erwartungen, dass die Preise fallen.

Glaubwürdigkeit ist zentral

Planbarkeit ist wichtig für wirtschaftliche Prozesse. Wüsste man mit Sicherheit, dass die Preise über die nächsten Jahre im Schnitt um zwei Prozent stiegen, könnten Arbeitnehmer ihre Gehälter entsprechend verhandeln und Firmen längerfristige Verträge mit Zulieferern und Abnehmern danach kalkulieren. In der Praxis herrscht jedoch eine gewisse Unsicherheit über das Preisniveau in der nächsten Zukunft. Diese Unsicherheit kann zwar nicht komplett eliminiert, aber doch von der Geldpolitik beeinflusst werden.

Ob Inflation langsam außer Kontrolle gerät, hängt auch davon ab, was sich in den Köpfen der Menschen abspielt.

So lange Konsumenten und Unternehmen damit rechnen, dass der Wert der Währung nicht allzu stark von den Zielvorgaben der Zentralbank abweicht, besteht Vertrauen in die Zentralbank und die Währung. In der Fachwelt spricht man davon, dass Inflationserwartungen verankert sind. Anders gesagt: Glauben die Menschen EZB-Direktorin Christine Lagarde, dass die Preise in der Eurozone um rund zwei Prozent steigen und dass die lockere Geldpolitik ein probates Mittel ist, um das Ziel zu erreichen? Wenn sie das tun, ist die Zentralbank glaubwürdig und kann damit die Inflationserwartungen verankern. Diese wiederum werden dann in der Preis- und Lohnsetzung die eigentliche Inflation bestimmen.

Aber wie gut sind die Inflationserwartungen verankert? Vertrauen in eine Währung lässt sich schwer messen. Genau bestimmen könnte man das, wenn die Inflation aus dem Ruder geriete. Würden die Inflationserwartungen dann trotzdem tief blieben, wäre das ein Beweis für deren Verankerung und das Vertrauen in die Geldpolitik. Aktuell spricht für höheres Vertrauen, dass es in den vergangenen beiden Jahrzehnten der EZB, der SNB sowie der US-Notenbank Fed einigermaßen gut gelungen war, die Inflationsraten niedrig zu halten. Das bezieht sich auf die durchschnittlichen Preise eines Warenkorbs. Aus Sicht der einzelnen Konsumenten erzählt der offizielle Warenkorb aber nicht die ganze Geschichte.

Ungleichheit in den USA

Einzelne Personen oder Familien erleben die Entwicklung der Preise unterschiedlich. Manche buchen häufiger Pauschalreisen, andere fahren täglich mit dem Auto, wieder andere haben vor Augen, was Windeln und Milchpulver kosten. Forscher in den USA haben große Datensätze auswerten können, um die Inflation für einzelne Haushalte zu berechnen. Es zeigte sich eine Kluft: Für Haushalte mit größeren Einkommen verteuerte sich der Konsum von nicht-langlebigen Gütern über neun Jahre, von 2004 bis 2013, im Schnitt um 25 Prozent. Ärmere Haushalte dagegen mussten am Ende desselben Zeitraums durchschnittlich ein Drittel mehr für diesen Teil des Warenkorbes ausgeben – ein Unterschied von fast einem Prozentpunkt pro Jahr. Das ist deutlich spürbar.

Vertrauen in eine Währung lässt sich schwer messen.

Eine Erklärung liegt in den unterschiedlichen Kaufgewohnheiten: Ärmere Haushalte geben einen höheren Anteil ihres Einkommens für Nahrungsmittel und Energie aus. Beides unterliegt stärkeren Schwankungen. Allerdings fanden die Ökonomen heraus, dass reichere Haushalte selbst für die gleichen Produkte weniger zahlen als Ärmere. Eine Vermutung lautet, dass Menschen mit größeren Wohnungen und Häusern öfters in größeren Mengen und somit günstiger einkaufen können. Andererseits leben ärmere Menschen öfter von der Hand in den Mund. Sie geben jeden verdienten Dollar schneller wieder aus und können weniger leicht auf günstige Angebote warten, um sich einzudecken.

Geringere Kluft in der Schweiz

Woher die Unterscheide kommen, ist jedoch nicht restlos geklärt. Klar ist, dass die Ungleichheit bei den Einkommen in den USA, die höher ist als in der EU oder in der Schweiz, durch die Kluft bei der Inflation verschärft wurde. Soweit Vertrauen in den Dollar und die Geldpolitik von der Kaufkraft abhängt, erleben ärmere Amerikaner stärkere Signale, um skeptisch zu sein.

Wie ist die Lage in Europa? Für die Eurozone gibt es zwar noch keine vergleichbaren Studien, Umfragen zeigen aber, dass Konsumenten mit kleineren Einkommen tendenziell mehr Inflation verspüren und auch erwarten als die mit höheren Einkommen. Für die Schweiz haben meine Kollegin Rahel Braun und ich die vorhandenen Daten für nicht-dauerhafte Konsumgüter ausgewertet. Nicht-dauerhafte Konsumgüter sind beispielsweise Lebensmittel oder Kosmetikprodukte. Auch in der Schweiz gibt es deutliche Unterschiede bei der Inflation je nach Haushalt. Aber eine Kluft zwischen Besser- und Geringverdienern wie in den USA fanden wir nicht.

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Zahlen & Fakten

Dies kann damit zusammenhängen, dass eine mögliche Ungleichheit in der Schweiz eher in Preisen für Dienstleistungen und dauerhafte Güter sichtbar wäre. Dauerhafte Güter sind zum Beispiel Fernseher oder Waschmaschinen. Aus den Studien auf Haushaltsebene geht aber einheitlich hervor, dass sich für viele Menschen die Inflationsrate, von der sie aus dem Fernsehen oder den Zeitungen erfahren, nicht mit dem deckt, was sie beim Einkaufen erleben.

Ungewollte Nebeneffekte

Für das Vertrauen in Geld sind vermutlich nicht nur die Preise im Supermarkt, an der Kinokasse und beim Autohändler relevant. Auch die Entwicklung von Vermögenswerten wird von der Bevölkerung unterschiedlich wahrgenommen. Zentralbanken orientieren sich zwar nicht an den Aktienmärkten und nur zu einem kleinen Teil an den Immobilienpreisen, ihre Geldpolitik wirkt sich aber darauf aus.

Vereinfacht gesagt: Die EZB und die Fed setzen in einer Periode von zu geringen Inflationsraten niedrige Zinssätze, damit Banken günstige und somit mehr Kredite vergeben. Weil die kurzfristigen Zinsen schon so tief sind, dass sie kaum weiter gesenkt werden können, haben die Zentralbanken die sogenannten quantitativen Lockerungen implementiert. Dabei kaufen die beiden Zentralbanken zum Beispiel Anleihen im großen Stil auf: Das hat zum Ziel, die langfristigen Zinsen für Kredite an Firmen und Haushalte zu senken und damit den Konsum und die Investitionen anzutreiben. Das würde wiederum die Preise heben, in der Hoffnung, dass die Inflation zum Zielwert tendiert.

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Zahlen & Fakten

Günstige Schulden sind eine Seite der aktuell lockeren Geldpolitik. Die Kehrseite ist geringere Renditen für Sparer, die ihr Vermögen auf dem Bankkonto liegen lassen, oder in sichere Anleihen investiert haben. Auf der Suche nach höheren Gewinnen fließt Geld in Aktienmärkte, den Immobiliensektor und ähnliche Anlageformen. Folglich steigen Preise in diesen Bereichen an, und zwar weit über der durchschnittlichen Inflationsrate der Konsumentenpreise. Oft profitieren von diesen Effekten mehr die reicheren Haushalte, die Aktien und Immobilien besitzen und sich günstig Kredite beschaffen. Die ärmeren Haushalte können hier meist nicht partizipieren, weil sie den Großteil ihres Einkommens für Konsum verwenden müssen.

Klare Worte finden

Die Zentralbanken sollten offen darauf eingehen, wenn von ihrer Politik bestimmte Gruppen stärker profitieren als andere. Trotzdem können sowohl reiche als auch arme Haushalte von der lockeren Geldpolitik profitieren: Damit werden zum Beispiel Arbeitsplätze und daher auch Arbeitseinkommen gerettet. Das bedeutet, es wäre keine bessere Politik, wenn die Geldpolitik restriktiver wäre, damit weniger Ungleichheit generiert würde, weil dabei viele Arbeitnehmer ihre Stellen verlieren würden.

Um das Vertrauen in Geld zu stärken, müssen die Zentralbanken ihre Politik in Öffentlichkeit erklären und damit breite Bevölkerungsschichten erreichen. Auch wenn die Fed und die EZB in ihren neuen Strategien explizit erwähnen, wie wichtig die Kommunikation mit der Bevölkerung ist, kommt diese Kommunikation doch weiterhin kaum in diesen Bevölkerungsschichten an. Wenn überhaupt Medienberichte über Geldpolitik eine breite Öffentlichkeit erreichen, schüren sie mitunter eher diffuse Ängste, als dass sie die Rolle der Geldpolitik klar wiedergeben.

Die meisten Menschen nehmen wahr, wie sich Preise in ihrem Umfeld entwickeln, ohne die Hintergründe näher zu kennen. Die Grundlagen darüber, wie unser Geld funktioniert und vor allem die Rolle der Zentralbank in diesem Bereich, sollten durchaus schon in der Schule erlernt werden. Die Zentralbanken können von sich aus noch mehr auf eine breite Öffentlichkeit zugehen, um das Vertrauen in ihre Währungen zu stärken.

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Conclusio

Eine ganze Generation kennt nur geringe Inflationsraten. Die starke Preisdynamik nach der Krise ist für viele beunruhigend, auch wenn Experten damit gerechnet haben. Das Vertrauen in stabile Währungen kann verloren gehen, sobald die Bevölkerung den Zentralbanken nicht zutraut, die Inflation im Zaum zu halten. Dass die langjährige Niedrigzinspolitik Sparern geschadet und Vermögenswerte mit aufgebläht hat, sorgt für Kritik. Die Zentralbanken müssen sich besser rechtfertigen, wie sie mit ihrer Politik mehr Schaden verhindern wollen, als sie auslösen.