„Impfpflicht ist ethisch nicht verantwortbar“

Die Corona-Politik unterwandere die Demokratie, die Entscheidung über eine Impfung müsse jedem Einzelnen überlassen sein: Der Philosoph und stellvertretende Leiter der österreichischen Bioethikkommission, Peter Kampits, im Interview.

Illustration von Ärzten und Ärztinnen die eine Spritze tragen
Für manche ein langersehntes Geschenk, für andere ein Instrument der Unterdrückung: die Corona-Impfung. © Getty Images

Seit dem 1. Februar 2022 hat Österreich als bisher einziges Land in Europa eine allgemeine Impfpflicht gegen Covid-19. Diese Impfpflicht hat die österreichische Gesellschaft gespalten. Ein hoher Preis, und das Ergebnis einer verfehlten Politik, analysiert Peter Kampits. Er ist der stellvertretende Leiter der österreichischen Bioethikkommission und lehnt eine Impfpflicht ab.

Herr Kampits, was haben zwei Jahre Pandemie mit den Menschen und der Gesellschaft gemacht?

Peter Kampits: Ich glaube, dass die Gesellschaft als solche und jeder einzelne von der Pandemie existenziell betroffen ist. Philosophisch betrachtet könnte man sagen, wir sind in eine Art Grenzsituation des Daseins (Karl Jaspers), in einen Ausnahmezustand (Albert Camus) geraten. Wir werden auf das zurückgeworfen, was unser eigentliches Sein bedeuten könnte. Natürlich hat die Pandemie auch schwerwiegende Auswirkungen auf Politik, Ökonomie und unser Gesundheitswesen. Was mir aber dabei fehlt, sind grundsätzliche ethische Fragestellungen, vor allem die, wie wir uns angesichts dieses Ereignisses verhalten sollen.

Ethische Fragestellungen gibt es insbesondere um die Impfpflicht. Wie sehen Sie diese Frage?

Ich bin ein großer Skeptiker der Impfpflicht, vor allem aber des diesbezüglichen Gesetzes. Abgesehen von den zahlreichen Widersprüchen und Ungereimtheiten, abgesehen davon, dass hier ein entscheidender Eingriff in die Grundrechte erfolgt, ist für mich eine Pflicht, die mir von außen auferlegt, gleichsam autoritär vorgeschrieben wird, in ethischem Sinn nicht verantwortbar. Ethisch betrachtet kann nur etwas zu einer Verpflichtung werden, was ich in Freiheit und im Bewusstsein der damit verbundenen Verantwortung akzeptiere als Selbstverpflichtung, wodurch die Entscheidung für oder gegen eine Impfung jedem selbst zu überlassen ist.

Foto von Peter Kampits
Peter Kampits findet, Solidarität sollte von Geimpften und Ungeimpften gleichermaßen geübt werden. © Picturedesk

Wären dann nicht zahlreiche Regeln – von der Steuerpflicht bis zum Tempolimit im Verkehr – unethisch?

Solche Regelwerke sind pragmatisch und sollen ein möglichst reibungsloses Miteinander in verschiedenen Bereichen gewährleisten. Dies erinnert an Schopenhauers Beispiel von den Stachelschweinen, die gelernt haben, im Winterschlaf soweit zusammen zu rücken, dass sie einerseits nicht erfrieren, sich aber andererseits nicht gegenseitig mit ihren Stacheln verletzen. Damit Verhalten ethisch wird, müsste es aber vom Einzelnen aus innerer Überzeugung anerkannt sein.

Politik und Wissenschaft betonen, dass Geimpfte sich und der Gesellschaft etwas Gutes tun.

Inwieweit wirklich etwas „Gutes“ erreicht wird, ist fraglich, da noch immer keine offene wissenschaftliche Diskussion geführt wird, welche positiven und negativen Auswirkungen die Impfung mit sich bringt. Die Datenlage bezüglich des Schutzes, der Ansteckung, der Schwere der allfälligen Erkrankung sowie der Impfschäden lässt noch immer viele Fragen offen. Spätestens seit Omikron scheint zumindest die Wirkung der bisher eingesetzten Impfstoffe neu zur Disposition zu stehen, und damit auch der Benefit.

Mit drohender Triage wurde die Impfpflicht zum Akt der Solidarität, weil Ungeimpfte die Intensivstationen in den Spitälern überlasten.

Die Auffassung, man nehme in einem unsolidarischen Akt anderen das Spitals- oder Intensivbett weg, greift für mich zu kurz. Solidarität ist keine Einbahnstraße, sondern eine wechselseitige Angelegenheit. Die geforderte Solidarität des Nicht-Geimpften gegenüber dem Geimpften enthält auch die Forderung einer Solidarität des Geimpften gegenüber dem Nicht-Geimpften. Egal, ob geimpft oder nicht geimpft, auch das Verhalten des Einzelnen muss mitberücksichtigt werden. Solidarisch wäre, wenn sich alle, egal ob geimpft oder nicht geimpft, vorsichtig verhielten. Unser Solidarsystem kann mit Nida-Rümelin als etwas Inklusives betrachtet werden, sonst müsste man alle gesundheitsriskanten Verhaltensweisen ahnden und etwa Extremsportler oder Alkoholiker und Drogensüchtige aus dem Solidarsystem ausschließen.

Wie spielt Solidarität mit Freiheit zusammen?

Ich bin allergisch gegen diesen Stehsatz geworden: „Meine Freiheit findet ihre Grenze an der Freiheit des anderen.“ Diese Aussage muss unbedingt ergänzt werden durch: „Die Freiheit des anderen findet ihre Grenze an meiner Freiheit.“ Hier gilt es, im Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft eine Balance zu finden, die in den letzten Jahrhunderten in der Politischen Philosophie immer wieder gefordert wird. Zwischen einem schrankenlosen Liberalismus und einem schrankenlosen Kollektivismus gilt es, einen Kompromiss zu finden. Denn weder der Einzelne ist alles und die Gesellschaft nichts, noch ist die Gesellschaft alles und der Einzelne nichts.

Sind diese Standpunkte in der Bioethikkommission behandelt worden?

Das ist eine interessante Frage. Wir haben es uns in unseren Diskussionen nicht leicht gemacht. Die Notwendigkeit einer Impfpflicht wurde von den meisten aufgrund von Meinungen hinzugezogener Gesundheitsexperten anerkannt. Ethische oder philosophische Bedenken wurden eher kurz abgehandelt, wohingegen juridische und pragmatische Bedenken zum Gesetzesentwurf raumgreifender diskutiert wurden. Leider hat sich die Mehrheit der Impfpflichtbefürworter nicht nur durchgesetzt, sondern auch die meines Erachtens zentralen Punkte im Gesetz wie „Befreiungsgründe“ der Impfung und die für eine solche Befreiung befugten Organe wie Amtsärzte ungenügend eingefordert.

Was bedeutet das für den wissenschaftlichen Diskurs?

Die die Wissenschaft grundsätzlich auszeichnende Offenheit zu einem Dialog mit anderen Meinungen und Interpretationen von Fakten ist angesichts der Einseitigkeit, verschärft durch die in den Medien nahezu permanent auftretenden gleichen Personen, verloren gegangen. Das wissenschaftliche Ethos verpflichtet nicht nur zu Redlichkeit innerhalb der wissenschaftlichen Forschung, sondern auch zum Dialog mit anderen und deren Forschungsergebnissen. Überdies ist spätestens seit Karl Popper in der Wissenschaftstheorie die Einsicht verbreitet, dass wissenschaftliche Wahrheiten immer nur hypothetisch und fallibel sind, mithin also keinen dogmatischen Charakter aufweisen können. Diesen Standpunkt nimmt die Politik für sich in Anspruch, wenn es darum geht, ihre Aussagen in der Vergangenheit bezüglich der Pandemie und Änderungen in ihren Forderungen in der Gegenwart zu rechtfertigen. Auffallenderweise sind aber alle Aussagen bezüglich der Sicherheit und Harmlosigkeit von Covid-Impfstoffen rigid geblieben und wurden nicht verändert.

Muss die Wissenschaft nicht gegen Verschwörungstheorien antreten?

Wissenschaft hat andere Aufgaben. Sie ist an der Wahrheitsfindung interessiert und an einer möglichen Falsifikation von wissenschaftlichen Theorien, die in Verbindung mit wissenschaftlich erhobenen Daten generiert werden. Mit Irrsinn hat Wissenschaft nichts am Hut. Er fällt nicht in ihren Aufgabenbereich. Die Politik macht an der Stelle den Fehler, den österreichischen Impfskeptikern eine nicht durch Daten belegte überproportionale Wissenschaftsungläubigkeit zu adjustieren. Dabei glauben viele Impfskeptiker an wissenschaftliche Forschung, nur beziehen sie sich bei ihrer Entscheidungsfindung auf Ergebnisse und Daten, die nicht dem von der Politik vorgegebenen Mainstream entsprechen. Sie ins Eck von Verschwörungstheoretikern oder Nicht-Informierten zu rücken, wird die Durchimpfungsrate nicht verbessern und entspricht nicht den tatsächlichen Gegebenheiten. Darüber hinaus ist es kontraproduktiv, Angehörige der Ärzteschaft oder des Gesundheitswesens mit Maßnahmen zu bedrohen, wenn ihre fachlich fundierte Meinung von den politisch gewollten Ergebnissen abweicht.

Welche Vorgangsweise betreffend Impfen würden Sie vorschlagen?

Ich hätte eine Politik der kleinen, wohl überlegten Schritte vorgeschlagen. Ein unter Umständen verpflichtendes Informationsgespräch beispielsweise wäre ein gangbarer Weg. In diesem müsste die Möglichkeit gegeben werden, neben den Vor- und Nachteilen einer Impfung für den je konkreten Fall auch Fragen beispielsweise bezüglich statistischer Angaben etc. zu stellen. Damit könnten Entscheidungen fundierter getroffen werden.

Die Politik hat mit Corona wieder das Heft an sich gerissen und greift massiv in die Gesundheit des Menschen, die Wirtschaft und die Gesellschaft ein. Segen oder Fluch?

Wie wir täglich erfahren, hat die Politik das Heft nie aus der Hand gegeben. Bedenklich ist, dass die Politik sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend zu einer Biopolitik entwickelt hat, die in unsere leibliche Existenz und unsere gesundheitliche Befindlichkeit eingreift. Diese Biopolitik hat sich spätestens seit dem 18. Jahrhundert zunehmend zu einer Biomacht entwickelt, die über das gesamte Leben sowohl des Einzelnen als auch des Gesellschaftskörpers entscheidet. Dies kann etwa nach Giorgio Agamben zur Reduktion des Bürgers auf das nackte Leben führen und in letzter Konsequenz zur Veränderung unseres Lebensraumes zu einem Lager.

Viele Impfskeptiker glauben an wissenschaftliche Forschung – nur nicht an die aus dem Mainstream.

Dieses Eingreifen in die tiefsten Sphären unseres Seins birgt die Gefahr eines autoritären Steuerungsvorganges unserer Lebensrealitäten. Verbunden mit der immer größer werdenden Einflusssphäre der Technologien, durch die nicht zuletzt unsere physische und psychische Befindlichkeit verändert wird, hat sich auch der Handlungsspielraum der Politik erheblich ausgedehnt. Eine am Menschen orientierte Politik hätte die Aufgabe, dieser neuen Form der Unterwanderung von Demokratie und Autonomie Rechnung zu tragen. Es beginnt sich bereits abzuzeichnen, dass die Pandemie Diskussionen ausgelöst hat, die von Selbstbehalten über Nicht-Behandelt-Werden bis zur abstrusen Idee einer Impfpflicht für andere Erkrankungen wie Influenza oder Masern reichen. An dieser Stelle wird nach Überwindung der Pandemie genau hinzusehen sein, ob dieses Gesetz mit all seinen Verankerungen zur Gänze außer Kraft gesetzt wird, oder ob Teile davon weiter bestehen bleiben.

Andere Staaten wie Schweden oder die Schweiz waren in ihren Maßnahmen weniger einschneidend. Zu Recht?

Ich glaube, dass diese Länder aufgrund ihrer liberaleren und offeneren Tradition von Beginn an eine andere Strategie gewählt haben, die sich à la longue als effektiver und in ihren Auswirkungen weniger einschneidend herausgestellt hat. Man kann unserer Regierung nicht den Vorwurf machen, einen anderen Weg ausprobiert zu haben, aber es wäre bereits höchst an der Zeit, einen Strategiewechsel vorzunehmen, da die hierzulande getroffenen Maßnahmen und ihre Folgen in keinem guten Verhältnis zueinander stehen.

Hat uns die Pandemie auch deshalb so stark getroffen, weil sie den Glauben an die Herrschaft des Menschen über die Natur erschüttert hat?

Ich denke, ja. Aber wir ziehen nicht die entsprechenden Schlüsse daraus. Im Grunde hängen wir allen Warnungen durch die Natur zum Trotz immer noch unserem durch Technologie und Wissenschaft zementierten Herrschaftswahn an. Wir haben die aus der Ethik stammende Frage, ob wir wirklich alles machen sollen, was wir wissenschaftlich-technisch können, bis heute nicht ernst genommen. Oder anders formuliert: Die Verbindung von Globalisierung, Ökonomie und Digitalisierung ist aus dem Ruder gelaufen.

Hat Corona die Einstellung zum Tod verändert?

Die Pandemie hat die meisten von uns mit ihrer Endlichkeit konfrontiert, in einem Lebensabschnitt, wo sich normalerweise diese Frage in unseren Gesellschaften nicht stellt, sondern verdrängt wird. Die daraus resultierende Betroffenheit führt uns dazu, allen Unsterblichkeitshoffnungen zum Trotz den Tod ernst zu nehmen. Wenn dies nicht entsprechend reflektiert vor sich geht, muss das Individuum seine Angst vor dem Sterben abspalten und einen Sündenbock für die Verängstigung und Gefährdung suchen. Aber es bleibt dabei: Keiner kann dem anderen sein Sterben abnehmen. Sterben ist kein solidarischer Akt, jeder stirbt für sich allein.