„Wir sollten Putins Krieg nicht finanzieren“

Jetzt auf Putins Gas zu verzichten, ist richtig, bedeutet aber schwierige Zeiten für alle. Um die Auswirkungen abzufedern, sollte der deutsche Ausstieg aus der Atomkraft hinterfragt werden, meint Energie-Experte Gernot Wagner im Interview.

Arbeiter an der Gasverdichterstation im Dorf Bojarka in der Nähe von Kiew
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine machte die große Abhängigkeit von russischem Gas bewusst. © Getty Images

Gernot Wagner unterrichtet Klimaökonomie an der New York University und ist aktuell Gastprofessor an der Columbia Business School. Er glaubt an Kipppunkte – negative klimatische sowie positive gesellschaftliche, politische und ökonomische, die das Verhalten von Systemen plötzlich und nachhaltig verändern. Er sagt: Der deutsche Atomausstieg sollte neu diskutiert werden.

Herr Wagner, wie sollte die EU mit den Folgen eines möglichen Gasstopps umgehen?

Gernot Wagner: Proaktiv. Wir sollten nicht warten, ob Putin das Gas abdreht oder nicht. Wir müssen so einen Schritt verantwortungsvoll und überlegt setzen. Und der hätte auch bereits kurz nach der Invasion Ende Februar stattfinden sollen. Natürlich würde ein Ende der russischen Lieferungen Europa tatsächlich in eine schwierige Situation bringen, aber hier geht es um viel mehr als um billige Energie. Zu meistern wäre die Situation allemal. Das heißt aber auch, dass politische Dogmen wie der deutsche Atomausstieg neu diskutiert werden sollten. Und natürlich wären damit gesellschaftliche Umstellungen und höhere Kosten verbunden, von abermaligem Home Office bis zu Tempolimits. Aber: Krisen sind immer auch Chancen zu grundlegender Veränderung. Die Energiewende wird ohne Zweifel beschleunigt werden, wenngleich es sicher der richtigen politischen Impulse bedarf.

Gernot Wagner
Gernot Wagner ist Harvard-Dozent und Buchautor. 2021 erschien sein neues Buch Stadt, Land, Klima. © Picturedesk

Wie sehen die langfristigen Optionen aus?

Zuerst sollten wir damit aufhören, Putins Krieg mit über 700 Millionen Euro pro Tag zu finanzieren. Wir sollten gelernt haben, dass die Abhängigkeit von einem einzelnen Handelspartner immer ein beträchtliches Risiko darstellen wird. Erstmals führt kein Weg daran vorbei, sich so schnell wie möglich von der Abhängigkeit von russischem Erdgas und -öl zu lösen. Insgesamt geht es aber natürlich auch um die Sicherheit der Energieversorgung im Allgemeinen.

Politische Dogmen wie der deutsche Atomausstieg sollten neu diskutiert werden.

Da sollten vor allem erneuerbare Energiequellen eine viel größere Rolle spielen. Gas- und Ölpreise werden immer enorm von globalen Märkten – und geopolitischen Situationen – abhängig sein. Wind, Sonne, Wasserkraft und auch Geothermalenergie sind das eben nicht. Die anfänglichen Investitionen und die Aufbauarbeit werden gewaltig sein. Aber sobald diese Hürden genommen sind, ist die weitere Energieproduktion tatsächlich vom Markt fast gänzlich unabhängig.

Haben die hohen Energiepreise auch etwas Gutes?

Sofern die wirtschaftlichen Folgen für die Ärmsten unserer Gesellschaft abgefedert werden, kann ich tatsächlich in den derzeit hohen Strom- und Energiepreisen einen positiven Effekt sehen, weil sie die Investitionen in Effizienz und erneuerbare Energiequellen ankurbeln werden. Krieg verleiht einiges an moralischer Klarheit. Wir alle werden nachdenklicher agieren – beim Konsum, beim Autofahren, beim Stromverbrauch, beim Heizen. Schon ein Grad weniger am Thermostat bringt sechs Prozent weniger Gasverbrauch. Ein allgemeiner Aufruf in dieser Richtung ist bisher leider nicht erfolgt.