Steuern wir auf die Katastrophe zu?

Viele Menschen haben das Gefühl, dass die Apokalypse naht. Aber das Gerede von der Katastrophe ist eine gefährliche Täuschung. Ein Essay.

Illustration von Luftballons, die an einem Kaktus hängen
Kurz vor knapp oder kein Problem? Nur weil eine Katastrophe auf den ersten Blick unausweichlich erscheint, ist sie das nicht zwangsweise auch. © Getty Images

Erst Corona, dann der Ukraine-Krieg, jetzt auch noch Inflation. Der Klimawandel wird auch immer schlimmer. Nicht wenige Leute finden, sie leben in katastrophischen Zeiten. Gern ist vom „Klimakollaps“ die Rede, gelegentlich wird auch ernsthaft das Aussterben der Menschheit diskutiert. Und der neue Begriff für die ökologische Krise, das „Anthropozän“ klingt gefährlich nach Apokalypse. Zeit, sich mal zu grundsätzlich zu überlegen, was eigentlich „Katastrophen“ sind. Leben wir wirklich in katastrophischen Zeiten?

Was ist eigentlich die Zukunft?

Der Begriff „Katastrophe“ leitet sich etymologisch vom Verb strephein (sich wenden) ab. Er stammt aus der Dramentheorie und meint dort den Moment, wo sich die Handlung endgültig zum Schlimmen wendet – nach all dem Kampf der Tragöde ist nun das böse Ende da. Und genau das wird gegenwärtig überall heraufbeschworen. Energiekrise durch den Ausfall von russischem Gas, neue Pandemien am Horizont, der nächste Börsencrash schon um die Ecke, und in der etwas ferneren Zukunft das große ökologische Desaster. Die Gegenwart fühlt sich auf einen großen Crash zulaufen, das „Ende der Welt wie wir sie kannten“, so eine seit den Nullerjahren gern verwendete Phrase. Die Zukunft als Katastrophe.

Den Erwachsenen ist es sehr lange sehr gut gegangen – aber wie wir langsam zu begreifen anfangen: zulasten ihrer Kinder.

Vielleicht hilft es, ein wenig philosophisch zu werden. Was ist eigentlich Zukunft? Wartet sie auf uns, wie Augustinus glaubte, ist bereits entschieden und kommt langsam, aber sicher auf uns zu? Eher nicht. Die Moderne hat die Zukunft für offen erklärt, offen für menschliche Planung und Zukunftsgestaltung, offen aber auch für Überraschungen. Eine recht tiefsinnige Definition von Zukunft stammt von der Rückversicherung Swiss Re: „Zukunft ist keine Frage der zeitlichen Ferne. Zukunft ist das, was sich radikal vom Gegenwärtigen unterscheiden wird.“ Zukunft ist ein Raum der plötzlichen Wendungen und ein Einbruch des Unbekannten – nicht notwendig des Schlechten.

Nicht jede Katastrophe ist vorhersehbar

Die Nachkriegsgeneration, der es ja ein Leben lang recht gut ging, hat sich diese Zukunft als gebahnt vorgestellt, eine Straße, auf der man fährt und damit rechnen darf, dass die Fahrbahn bis in alle Ewigkeit gerade verläuft. Dass es, wie es so oft hieß, „unseren Kindern mal besser gehen wird“. Den Erwachsenen ist es auch sehr lange sehr gut gegangen – aber wie wir langsam zu begreifen anfangen: zulasten ihrer Kinder. Die Gegenwart erscheint wie eine zunehmend kurvige Strecke, auf der man nicht nur ins Schleudern kommen kann, sondern vor allem nicht mehr weiß, was hinter der nächsten Biegung kommt. Die Zukunft ist „dunkel“, und das heißt zunächst mal: intransparent, unabsehbar, unplanbar, voller Überraschungen.

Aber nicht jedes Desaster, jeder Unglücksfall ist unvorhersehbar. Bei vielen individuellen oder kollektiven Desastern – vom Autounfall und Krankheit über Naturkatastrophen bis zu Krieg, Epidemien oder Großunfällen – muss man unterscheiden zwischen denen, die man vorhersehen, gegen die man sich durch Präventionsmaßnahmen wappnen oder gegen deren Schaden man sich versichern kann, und solchen, die völlig unverhofft hereinbrechen. Etliche private oder öffentliche Desaster fallen in die Kategorie des Vorhersehbaren, und viele gesellschaftliche Anstrengungen dienen ihrer Prävention. Was sind aber die Katastrophen, die man nicht absehen kann? Die „schwarzen Schwäne“, die „unglücklichen Verkettungen der Umstände“, die „tipping points“?

Vor der Katastrophe: Wenn die Selbstregulation versagt

Wie wir mittlerweile wissen, sind diese scheinbar nicht vorhersehbaren Ereignisse wie die Finanzkrise 2008, die Corona-Pandemie oder auch die Folgen des Klimawandels durchaus vorhergesehen und vorausgesagt worden. Seit Jahren unkte die WHO von Seuchen, die sich durch die Globalisierung rasant schnell weltweit verbreiten könnten – man wusste nur nicht so genau, ob das Ebola, multiresistente Tuberkulose oder eben eher ein Corona- oder Influenza-Virus sein würde.

Seit 30 Jahren warnten Klimawissenschaftler vor dem Klimawandel, lange wurde palavert, ob es ihn wirklich gibt, und jetzt ist er da. Und selbst bei den Überschwemmungen im Ahrtal gab es Alarm der Meteorologen, aber der wurde vor Ort nicht schnell genug weitergegeben. Das Problem ist, dass diese Vorhersagen und Warnungen im Geschnatter täglicher Kleinkrisen und politischen Streitigkeiten untergehen oder es „zu teuer“ schien, sich effektiv auf diese höchst unwahrscheinlichen Ereignisse vorzubereiten.

Warum ist das so? Komplexe, selbstregulierende Systeme – wie Biotope, das Erdsystem, die Wirtschaft, Gesellschaften etc. – haben die Fähigkeit, Störungen oder aus dem Ruder laufende Prozesse möglichst lange abzufedern. Ihnen sorgt negatives Feedback – also die Fähigkeit, auf eine Steigerung – etwa von Treibhausgasen (im Klimasystem), die Verbreitung einer Art (in Biotopen), der Zufluss von Kapital (in Finanzmärkten), das Bedürfnis nach bestimmten Waren oder Leistungen (in der Wirtschaft) – automatisch mit Gegensteuerung zu reagieren.

So halten sich Systeme in einem instabilen, dynamischen Gleichgewicht – bis zu einem gewissen Punkt. Das Problem bei dieser Selbstregulation von Systemen ist, dass gefährliche Prozesse lange unsichtbar bleiben. Denn sie verlaufen nicht linear, sondern, wie wir mittlerweile von den Corona-Kurven kennen, exponentiell.

Nichts Besorgniserregendes: Eine Grippe in Wuhan

An Tag 1 werden 2 Menschen angesteckt, an Tag 2 sind es vier, an Tag 3 acht, schon nach 5 Tagen 32, nach 10 Tagen 1024. Der tipping point ist nicht der Punkt, an dem die Zahl der Patienten die Intensivstationen überfordert, sondern an dem die Dinge ganz sanft beginnen, zu eskalieren. In diesem Beispiel wäre das der dritte Tag. Problem ist: man sieht den tipping point nur als eine winzige Änderung. Nichts Besorgniserregendes. Eine Grippe in Wuhan.

Oder auch: demographischer Wandel. Eine Temperaturveränderung von zwei bis drei Grad. Und erst nach einiger Zeit wird klar, was diese winzige Veränderung bewirkt: Eine weltweite Pandemie, überalternde Gesellschaften (bereits dramatisch in China und Japan), der Schmelzpunkt von Wasser (und mit ihm ein stetiges Schrumpfen der Polkappen).

Viele Desaster sind in Wirklichkeit keine plötzlich hereinbrechenden Schreckensereignisse, sondern schleichende Veränderungen.

Tipping points kann man besser berechnen als beobachten. Sie verbergen sich in latenten Strukturen, in Prozessen, die für uns so selbstverständlich sind oder so langsam ablaufen, dass wir ihre Veränderungen kaum spüren. Statistiken, Durchschnitte, Zahlen. Aber viele Desaster sind in Wirklichkeit keine plötzlich hereinbrechenden Schreckensereignisse, sondern schleichende Veränderungen, die ihren tipping point überschritten haben und nun eskalieren.

Wenn wir gegenwärtig mit Katastrophen zu tun haben, dann sind die wohl gravierendsten eigentlich „Katastrophen ohne Ereignis“, kaum sichtbare Veränderungen. Diese zu antizipieren – durch Berechnung, durch genaue Beobachtung und zuallererst einmal durch die Anerkennung solcher eskalierenden Dynamiken – ist vielleicht die wichtigste Technik des Zukunftsmanagements, die wir haben.

Man darf sich als Opfer fühlen

Genau deshalb ist das Gerede von der Katastrophe, dem kommenden Kollaps, gar dem Aussterben der Menschheit nicht nur fehlgeleitet, sondern eine gefährliche Täuschung. Sie hat den Appeal der Wichtigkeit und des scheinbar abgeklärten Vorauswissens: „alles geht sowieso den Bach hinunter, sieben Prozent Inflation, Ressourcenknappheit, und schließlich noch die Klimakatastrophe“. Man darf sich als Opfer fühlen, nicht als Teil des Problems. Aber die Probleme, die wir gegenwärtig und in der Zukunft haben werden, sind nicht unbedingt katastrophenförmig.

Zwei Kinder in England an einem ausgetrockneten See 1936
(Noch) keine Katastrophe, aber sehr wohl eines von vielen Ereignissen, das zu wenig Wandel nach sich zog: Im Mai 1936 trocknete der Welsh Harp-See im Nordwesten von London komplett aus. © Getty Images

Das Starren auf den kommenden großen Knall verstellt den Blick auf aktuelle Gefahren, die eher schleichend daherkommen: die Auswirkungen des Klimawandels in langsam unbewohnbar werdenden Gegenden, die Ausbreitung von Antibiotika-resistenten Erregern, die zunehmende Abhängigkeit unseres Alltags von Künstlicher Intelligenz, demographische Überalterung und erodierende Sozialsysteme, wachsende Ungleichheit, geopolitische Ressourcen-Abhängigkeiten (die der Ukraine-Krieg jetzt gerade wieder sichtbar gemacht hat). Das sind Prozesse, nicht Katastrophen. Wirklich katastrophisch werden sie zumeist nur für ganz bestimmte Gruppen und Regionen – und sofern das nicht wir selbst sind, interessiert das wenig.

Das Klima wird nicht kollabieren

Die Vorstellung vom kommenden großen Knall verkennt die systemische Natur des Problems. Das Klima zum Beispiel wird ganz sicher nicht „kollabieren“ oder die menschliche Zivilisation zum Kollaps bringen. Aber schon größere Volatilitäten im Klimasystem wären für die Gesellschaften, die sich darauf einstellen müssen, eine Folge von Desastern – und nötigen Veränderungen. Die Frage ist, wie und ob man sich darauf einstellen und vorbereiten kann – und zwar nicht als kommende Katastrophe, sondern als erhöhtes Risiko. Das bedeutet einerseits, besser vorbereitet, gerüstet und (sofern möglich) versichert zu sein. Andererseits aber auch, in der Gegenwart jene kleinen, unspektakulären Anzeichen zu beobachten, die darauf hinweisen, dass die Dinge ins Rutschen geraten – und dann schnell und konsequent zu handeln. Die wohlfeile Aufgeregtheit der Katastrophenrhetorik ist da wenig hilfreich.