Europa, besinn’ Dich auf Deinen Kern bitte

Das Einstimmigkeitsprinzip lähmt die EU: Mit 27 potenziellen Vetostimmen ist die Union nicht handlungsfähig. Wichtige Entscheidungen sollten von einem Kerneuropa im Mehrheitsbeschluss getroffen werden.

Ein Apfel in den Farben der EU wird geschält, der Kern trägt die Nationalfarben einiger Mitglieder.
Große Mitgliedsstaaten wie Deutschland und Frankreich könnten bei der Bildung eines Kerneuropa vorangehen. © Michael Pleesz
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Auf den Punkt gebracht

  • Relativer Abstieg. Während die globalen Herausforderungen immer größer werden, verliert die Europäische Union zunehmend an Bedeutung.
  • Vetomacht. Das Einstimmigkeitsprinzip, bei dem jeder der 27 Mitgliedsstaaten ein Veto einlegen kann, verhindert weitreichende Reformen.
  • Systemwettkampf. Nur ein handlungsfähiges Europa wird den Herausforderungen gewachsen sein und sich gegen Wirtschaftsmächte wie China durchsetzen.
  • Harter Kern. Deutschland und Frankreich könnten Teil eines zu bildenden Kerneuropa sein, das Entscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip fällt.

Der Angriff Russlands auf die Ukraine und die damit einhergehende menschliche Tragödie hat die Welt verändert, vor allem Europa. In seltener Einigkeit stehen die EU-Mitglieder geschlossen da und versuchen, ihre Werthaltung gegenüber der Aggression zu verteidigen. Das ist viel.

Doch wie lange wird diese Einigkeit bestehen bleiben? Wird sie tatsächlich zu konkreten Maßnahmen wie einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik führen? 

Mehr im Dossier 5 Ideen für Europa

Ein Kerneuropa für die Weltpolitik

Im besten Fall entwickelt sich die EU in die notwendige Richtung, um Weltpolitik mitzugestalten und Weltprobleme mitlösen zu können. Realistisch ist eher, dass unterschiedliche Meinungen und Zugänge unter den EU-Mitgliedern verhindern, dass eine Einstimmigkeit zustande kommt – etwa für weitreichende Schritte, die für den einzelnen Staat mit der Aufgabe von Souveränität verbunden wären. Daher muss es für dieses zweite Szenario einen anderen Plan geben, und dieser heißt Kerneuropa.

Im Verhältnis zu den wachsenden globalen Herausforderungen wie der Klimakrise, anschwellenden Migrationsbewegungen, der digitalen Transformation und nicht zuletzt dem Aufstieg Chinas zur Weltmacht verliert die EU zusehends an Bedeutung. Das gilt es zu verhindern. Nicht, weil wir Europäer aus Geltungsdrang mitreden müssen, sondern weil die genannten Herausforderungen nur durch internationale Kooperation zu lösen sind.

Antworten auf globale Probleme

Bei keinem Thema wird das deutlicher als beim Klima: In der EU leben sieben Prozent der Weltbevölkerung, die trotz ihres hohen Zivilisationsgrades für gerade einmal acht Prozent der Treibhausgase verantwortlich sind. Es wäre ein Witz, zu glauben, man könne im Alleingang die Erde retten. Die Europäische Union ist es den eigenen Bürgern sowie dem Rest der Welt schuldig, international Lösungen voranzutreiben. Derzeit kann sie das leider nicht.

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Zahlen & Fakten

Made with Flourish

Das europäische Projekt ist einzigartig in der Geschichte der Menschheit: eine Union von nunmehr 27 Staaten auf Basis gemeinsamer Werte statt bloßer Interessen. Darauf darf man zu Recht stolz sein. Doch diese Errungenschaft droht zu scheitern, weil einzelne Mitglieder sich bei großen Themen querlegen.

Das Einstimmigkeitsprinzip gilt in der Außen- und Sicherheitspolitik, bei Bürgerrechten sowie in der Steuer-, Währungs- und Finanzpolitik und in wichtigen Wirtschaftsfragen. Wenn von 27 Staaten nur einer sagt: „Ich will nicht“– aus welchen Gründen auch immer –, dann steht die Mühle. So hätte die belgische Region Wallonien 2018 beinahe das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Kanada verhindert. Das ist nicht demokratisch.

Die Mehrheit soll entscheiden

In einer handlungsfähigen Demokratie werden Argumente ausgetauscht, und dann entscheidet die Mehrheit für alle. In den meisten Bereichen auf EU-Ebene funktioniert das bereits. Eine Mehrheit im Parlament sowie mindestens 15 Staaten, die zusammen 65 Prozent der Unionsbevölkerung vertreten, müssen sich einig sein. Vier Staaten können Beschlüsse verhindern, sofern sie mindestens 35 Prozent der Bevölkerung vertreten.

Um handlungsfähig zu bleiben, sollte die EU alle Entscheidungen per Mehrheit treffen. Dabei geht es nicht nur um die Arithmetik, die Beschlüsse erleichtert. Solange einzelne Regierungen in der Lage sind, bei ihrer Wählerschaft unpopuläre Maßnahmen durch ein Veto zu verhindern, stehen sie unter Druck, dies auch zu tun.

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Zahlen & Fakten

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Ist hingegen klar, dass ein einzelnes Land einen Beschluss – etwa über einen Handelsvertrag mit den USA – nicht verhindern kann, wird es umso wichtiger für die handelnden Politiker, konstruktiv jene Inhalte mitzugestalten, die ihnen am Herzen liegen. Somit kippt die politische Logik von Opposition zu Kooperation. All das ist nicht neu: Der Europarat in Straßburg hat sehr wichtige Abkommen erstellt, die niemals einstimmig zustande gekommen wären, aber später von allen übernommen wurden.

Die Schwierigkeit an dem Vorschlag ist, dass die Einstimmigkeit abzuschaffen nur einstimmig geht. Daraus ergibt sich scheinbar ein Paradox: Damit die EU an Bedeutung gewinnt, müssen weniger Länder mitreden. Ein Kerneuropa, das alle Entscheidungen per Mehrheitsbeschluss fällen würde, wäre handlungsfähig und würde global viel ernster genommen als die jetzige Union mit 27 Staaten.

Wettkampf der Systeme

Im Schengenraum oder in der Eurozone haben bereits Ländergruppen bewiesen, dass sie enger zusammenarbeiten können. Das wäre eine mögliche Basis für ein neues Kerneuropa. Die beiden großen Gründungsmitglieder Deutschland und Frankreich müssten dabei sein. Wichtig wäre auch, dass es jedem EU-Mitglied offen steht, mitzumachen. Nach und nach könnten sich weitere EU-Mitglieder dem Kern anschließen. 

Viel Zeit für die Umsetzung bleibt freilich nicht. Die EU befindet sich in einem Systemwettkampf mit China und muss sich auch gegen die USA durchsetzen. Im Jahr 2049 feiern wir hundert Jahre „Werte des Europarates“. Und China feiert im gleichen Jahr hundert Jahre Volksrepublik. Bis dahin will Peking beweisen, dass sein System das bessere ist. Eine enorme Herausforderung, vor der wir uns aber nicht fürchten dürfen. Wenn wenige vorangehen, kommen alle ans Ziel.

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Conclusio

Das Einstimmigkeitsprinzip ist ein Bremsklotz für die Weiterentwicklung der Europäischen Union und hindert sie daran, ihre Rolle als Gestaltungsmacht in der Weltpolitik einzunehmen. Ein Kerneuropa, das Entscheidungen nicht nach dem Einstimmigkeitsprinzip trifft, sondern nach der Mehrheit, könnte wichtige Reformen durchsetzen. Ansonsten droht die demokratische Wertgemeinschaft den Konkurrenzkampf gegen das autokratische China zu verlieren.