Was 1,5 Grad für Migration bedeutet

Der Klimawandel wird vermutlich hunderte Millionen Menschen zur Flucht zwingen. Klar ist aber: Die meisten werden zu Binnenflüchtlingen und kehren wieder zurück. Sie brauchen dringend Hilfe.

Vertriebene auf selbstgebauten Floßen versuchen in Sicherheit zu gelangen. Sie befinden sich in Jaffarabad in der pakistanischen Provinz Belutschistan.
Vertriebene treiben auf selbstgebauten Flößen während der Flutkatastrophe im September 2022 in Jaffarabad in der pakistanischen Provinz Belutschistan. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Klimaflüchtlinge. 100 bis 500 Millionen Menschen werden Studien zufolge durch die Folgen des Klimawandels aus ihrer Heimat vertrieben.
  • Besser geschützt. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts sank die Zahl der Todesfälle durch Naturkatastrophen um mehr als 90 Prozent.
  • Temporär vertrieben. Über 90 Prozent der Menschen, die vor Naturkatastrophen flüchten mussten, kehren in das Gebiet zurück, aus dem sie kamen.
  • Anpassung. Investitionen in die Anpassung an ein heißeres Klima sind nur mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft möglich.

Die Pariser Klimaziele werden wohl verfehlt werden. Die Menschheit wird es voraussichtlich nicht schaffen, den globalen Temperaturanstieg bei einem Plus von 1,5 Grad zu begrenzen. Wir landen wohl eher bei einer Erwärmung um 2,5 bis 2,7 Grad. Zweifellos wird dies starke Auswirkungen auf das Leben vieler Menschen haben. Etliche Forscher sagen daher eine große Anzahl von sogenannten „Klimaflüchtlingen“ voraus. In manchen wissenschaftlichen Studien ist dabei von 100 bis 500 Millionen Personen die Rede.

Sind solche Schätzungen realistisch? Oder sind sie maßlos übertrieben? Um das beurteilen zu können, müssen wir verstehen, was Menschen zur Flucht zwingen kann: einerseits plötzlich auftretende Schockereignisse und Naturkatastrophen, andererseits der schleichende Verlust der Lebensgrundlage durch den Klimawandel.

Naturkatastrophen sind gut dokumentiert. Ihre Auswirkungen lassen sich daher leichter abschätzen. Jedenfalls stiegen seit Beginn des 20. Jahrhunderts sowohl die Anzahl der weltweit erfassten Naturkatastrophen als auch die Zahl der davon negativ betroffenen Menschen.

Weniger Tote, aber mehr Betroffene

Zum Glück wuchs bislang unsere Fähigkeit, Naturkatastrophen zu bewältigen, rascher als deren Häufigkeit. Die Menschheit verfügt gegenwärtig über präzisere Wettervorhersagen, wir haben unsere Warnsysteme ausgebaut und in vielen Ländern in Flussmanagement, Küstenschutz und Katastrophenvorsorge investiert. Die Qualität von Infrastruktur und Wohnraum ist heute in großen Teilen der Welt eine deutlich bessere als zu früheren Zeiten. 

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts ging daher die Zahl der Todesfälle durch Naturkatastrophen um mehr als 90 Prozent zurück. Dieser Fortschritt ist noch eindrucksvoller, wenn man bedenkt, dass die Weltbevölkerung im selben Zeitraum von 1,6 Milliarden im Jahr 1900 auf acht Milliarden Menschen im Jahr 2022 anwuchs. 

Es ist weitgehend unbestritten, dass Umweltveränderungen unfreiwillige Mobilität auslösen. Der offensichtlichste Zusammenhang besteht zwischen plötzlichen Schocks und dem Zwang, das eigene Heim zu verlassen.

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Zahlen & Fakten

Weltweit wurden zwischen 2008 und 2021 in besiedelten Regionen fast 10.000 Naturkatastrophen registriert – im Schnitt etwa 700 pro Jahr. Heute sind fast 90 Prozent dieser Katastrophen durch extreme Wetterbedingungen und deren unmittelbare Folgen verursacht. Nur Erdbeben, Tsunamis und Vulkanausbrüche haben nichts mit dem Klima zu tun. Überschwemmungen, Stürme, Dürren, Erdrutsche und Waldbrände sind hingegen eine Folge extremer Wetterbedingungen. 

Wegen solcher Naturkatastrophen mussten seit 2008 mehr als 340 Millionen Menschen ihren Heimatort verlassen oder in Sicherheit gebracht werden – das waren im Schnitt 25 Millionen Menschen pro Jahr.

Naturkatastrophen und extreme Wetterereignisse führen jedoch nur selten zu einer Flucht über internationale Grenzen. Wer unter solchen Bedingungen Haus und Hof verlässt, bleibt in der Regel im eigenen Land. Weit über 90 Prozent der Betroffenen kehren an den Ort oder zumindest in das Gebiet zurück, aus dem sie stammen. 

Naturkatastrophen und Extremwetter führen nur selten zu einer Flucht über internationale Grenzen.

Das ist möglich, wenn die unmittelbare Gefahr für Leib und Leben gebannt ist, Nothilfe anläuft und der Wiederaufbau angeschoben wird. Im Jahr 2021 lebten nur sechs Millionen Opfer von Naturkatastrophen nicht mehr in der Region, die sie einst hatten verlassen müssen. Unter ihnen war fast niemand ins Ausland gezogen. 

Kriege führen eher zu dauerhaft Vertriebenen

Damit unterscheiden sich extreme Wetterbedingungen in ihren Auswirkungen sehr deutlich von kriegerischen Auseinandersetzungen und politischer Gewalt, die in der Regel zu lang anhaltender oder dauernder Vertreibung innerhalb konfliktbetroffener Länder und zu internationalen Flüchtlingsströmen führen.

Eine Frau betrachtet ihr Haus, das im September 2021 von Vulkanasche auf der indonesischen Insel Java verschüttet wurde.
Nach dem Ausbruch des Vulkans Semeru auf der indonesischen Insel Java im September 2021: Eine Frau betrachtet ihr verschüttetes Haus.

Wo Menschen zum Verlassen ihres Heimatortes gezwungen werden, begünstigen unmittelbare Hilfs- und Wiederaufbaumaßnahmen eine rasche Rückkehr. Sofern der Schaden nicht durch Versicherungen gedeckt ist, sind nationale Regierungen und internationale Geber bei der Finanzierung des Wiederaufbaus gefordert.

Folgen des Klimawandels: Hunger und Wüsten

Die Auswirkungen langsam einsetzender Verschlechterungen von Lebensbedingungen sind schwieriger zu messen. Aber wir wissen, dass in den vergangenen 30 Jahren fast zwei Milliarden Menschen aus ländlichen in urbane Regionen übersiedelten. In einem Teil der Fälle hatte dies mit Wassermangel, Bodenerosion, entsprechend sinkenden Ernteerträgen, periodischer Überflutung eines Küstenstreifens, auftauendem Permafrostboden oder der Ausbreitung von Wüsten zu tun. Auch diese Wanderungsbewegungen erfolgen überwiegend innerhalb des eigenen Landes. Allerdings ist zu beobachten, dass ein Teil der Menschen, die sich erfolgreich in Städten niedergelassen haben, später ins Ausland migriert.

Durch die Land-Stadt-Wanderungen wuchs die urbane Bevölkerung seit 1990 von 1,7 auf 4,6 Milliarden Menschen, während die ländliche Bevölkerung bei etwas über 3,3 Milliarden liegt und trotz höherer Kinderzahlen kaum noch wächst. 

Städte werden zu Hitzefallen

Durch Übersiedelung in die Städte entkommen Menschen dem durch Trinkwassermangel und Ernteschwankungen oder -ausfällen bedingten Stress. Aber sie setzen sich nun vermehrt zwei anderen Risiken aus: In den Städten ist die Temperatur im Schnitt höher als im Umland, was Hitzewellen schwerer erträglich macht. Und viele Städte liegen an Wasserläufen, in Flussdeltas oder am Meer; Überschwemmungen sind dort also wahrscheinlicher als auf dem Land.

In Summe wurden zwischen 2008 und 2020 rund 156 Millionen Menschen durch Überschwemmungen zumindest zeitweise aus ihren Häusern und Wohnungen vertrieben. Etwa 80 Prozent von ihnen waren Stadtbewohner. Dabei zeigt sich: Die Wahrscheinlichkeit, bei einer Extremwetterlage den Wohnort verlassen zu müssen, ist weltweit sehr ungleich verteilt.

Menschen, die in ärmeren Ländern (häufig auf der Südhalbkugel der Erde) leben, sind einem viel größeren Risiko ausgesetzt. Von allen Personen, deren Wohnsitz weniger als fünf Meter über dem Meeresspiegel liegt, mussten 2008 bis 2021 in reicheren Ländern nur drei Prozent, in Ländern mit mittleren Einkommen etwa 50 Prozent und in ärmeren Ländern fast 70 Prozent ihren Wohnort mindestens einmal wegen Überflutung verlassen. 

Menschen in ärmeren Ländern haben ein viel größeres Risiko, wegen Naturkatastrophen den Wohnort verlassen zu müssen.

Ob Menschen ihre Existenz verlieren, hängt somit nicht nur vom eigentlichen Ausmaß einer Naturkatastrophe ab, sondern auch vom politischen Willen, den Ressourcen und der Fähigkeit von Staaten, Regionen und lokalen Gemeinden, die Risiken und Auswirkungen extremer Wetterereignisse im Vorfeld zu verringern. Beispiele dafür sind Wasser- und Flussmanagement sowie Küsten- und Hochwasserschutz.

Können wir uns anpassen? 

Zukünftig wird sich angesichts steigender Meeresspiegel der Druck auf die Küstenbewohner, vor allem jene in Städten, verstärken. Rechtzeitige Umsiedlung ist dabei nur eine von mehreren Optionen. Für Bewohnerinnen und Bewohner einiger nur knapp aus dem Meer ragender Inseln (etwa von Südsee-Atollen) ist dies wahrscheinlich die einzige Möglichkeit.

Anderswo gibt es die Chance, sehr effektive Maßnahmen zum Schutz von Küsten, Flussmündungen und niedrig liegendem Hinterland zu setzen. Sowohl die Niederlande und die angrenzende deutsche Nordseeküste als auch die Stadt und die Lagune von Venedig sind dafür geeignete Beispiel. Solche Schutzmaßnahmen sind freilich sehr kostenintensiv und technologisch anspruchsvoll – was ärmere Länder vor enorme Herausforderungen stellt.

Es ist an der Zeit, nicht nur in die „green transition“, also in die Vermeidung von Treibhausgasen, zu investieren. Wir brauchen auch massive Investitionen in die Anpassung an ein wärmeres Klima und seine Folgen. Länder, Gesellschaften und Menschen, die sich das weniger leicht leisten oder weniger gut organisieren können als wir, verdienen dabei unsere Unterstützung – nicht nur in deren, sondern auch in unserem eigenen Interesse.

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Conclusio

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts sind immer mehr Menschen von immer häufigeren Naturkatastrophen betroffen. Doch die Zahl der Todesopfer ist um 90 Prozent gesunken. Wer vor Folgen des Klimawandels wie Dürre, Flut oder Waldbränden fliehen muss, bleibt meist im eigenen Land und will rasch in die Heimatregion zurückkehren. Unverändert stark sind jedoch Wanderungsbewegungen vom Land in die Städte – die ebenfalls häufig mit veränderten Umweltbedingungen zu tun haben. Das Risiko, wegen einer Naturkatastrophe den Heimatort verlassen zu müssen, ist für Bewohner armer Länder erheblich höher als für Menschen in reichen Ländern. Umso wichtiger wäre es vor allem für Schwellenländer, mehr Geld für die Klimaanpassung zu bekommen.