Vom Wert der Arbeit für das Leben

Die Suche nach Work-Life-Balance führt in die Irre. Der Weg zu persönlicher Zufriedenheit und gesellschaftlichem Wohlstand führt über die Arbeit.

Arbeit und Zeit: Illustrative Zeichnung von menschen, die wie das Ziffernblatt einer Uhr angeordnet sind.
Auch wenn die Lebenszeit begrenzt ist: Arbeit und Leben sind keine Gegensätze, meint Thomas Eppinger. © Getty Images

Weniger Arbeit – mehr Zeit für Kinder, Freunde und Vergnügen! Klingt verlockend. Und so machte dieser Tage ein Plädoyer der Spiegel-Autorin Lea Schönborn „gegen eine Arbeitsmoral, die krank macht“ die Runde in den Social Media.

„Der jungen Generation ist freie Zeit mindestens genauso wichtig wie Erfolg im Job, die Work-Life-Balance hat bei der Wahl eines Arbeitgebers einen hohen Stellenwert. Auf Chefposten wollen insbesondere Frauen verzichten. Jugendliche wollen ungern Überstunden für die Karriere ableisten und genauso wenig am Wochenende arbeiten – sogar, wenn sie dafür einen entsprechenden Ausgleich bekommen würden. Und ja, auch Teilzeit finden viele von uns attraktiv.“

Das bedeute nicht, dass sie und ihre Generation faul seien, hält die Autorin fest, stattdessen heiße es einfach nur, „dass wir unser Wohlbefinden priorisieren – bevor es zu spät ist“. Kurz: Work-Life-Balance sticht Karriere.

Nun steht es selbstverständlich jedem Menschen frei, wie er sein Leben gestaltet. Gesellschaftlich relevant wird die persönliche Lebensplanung, wenn sie einen Trend widerspiegelt. Sollte die Autorin tatsächlich repräsentativ für ihre Altersgenossen sprechen, dürfte eines sicher sein: Sofern sie über kein nennenswertes Erbe verfügen und nicht im Lotto gewinnen, werden die Kinder und Enkelkinder der „Generation Z“ sich den Luxus, das gewünschte Maß an Arbeitszeit fein zu dosieren, nicht mehr leisten können.

Ohne Spitzenleistungen kein Wohlstand

Ohne Höchstleistungen Einzelner kann keine Gesellschaft auf Dauer erfolgreich sein. Doch ob als Geiger, Leistungssportler, Wissenschaftler oder Chirurg: Niemand erbringt Spitzenleistungen mit einem Halbtagsjob. Bevor Musiker, Künstler oder Sportler auf Weltklasse-Niveau spielen, hatten sie im Alter von 20 Jahren bereits 10.000 Stunden Übung hinter sich, beschrieb der New York Times-Autor Malcolm Gladwell 2009 in seinem Bestseller „Überflieger“. Ähnliches gilt für alle Berufsgruppen. Die Entwicklung besonderer Fertigkeiten braucht neben Begabung und Förderung sehr viel Zeit und Übung. Niemand will von einem Teilzeitchirurgen am offenen Herzen operiert werden. 

Und so wie Sportler und Künstler ein geeignetes Umfeld brauchen, können sich Innovatoren und Unternehmer nur in einer leistungsorientierten Gesellschaft zu deren Wohl entfalten. Am eingangs zitierten Text verstört daher nicht der Wunsch nach mehr Freizeit, sondern das Fehlen von persönlichem Ehrgeiz.

Arbeit und Leben sind keine Gegensätze

Schon das Wort „Work-Life-Balance“ ist verräterisch. Es setzt Arbeit und Leben in Widerspruch: reduziert man das eine, vergrößert man das andere. Als wäre Arbeit nicht ein Teil des Lebens, sondern dessen Gegensatz. Eine Sichtweise, die den vermeintlichen Gegensatz zementiert, anstatt ihn zu überwinden.

Damit blendet der Begriff aus, dass Arbeit sehr viel mehr sein kann und soll als reiner Broterwerb. Arbeit verschafft nicht nur Einkommen und gesellschaftliche Teilhabe, sondern auch Unabhängigkeit und im besten Fall Wertschätzung, Anerkennung und Respekt. Die Gewissheit, seine bestmögliche Leistung erbracht zu haben, vermittelt eine tiefe Befriedigung. Nur deshalb quält sich ein Rafael Nadal unter chronischen Schmerzen immer noch über den Centercourt, nicht weil er seine Miete bezahlen muss.

Ein Land, dessen Jugend Spitzenleistungen gar nicht erst anstrebt, ist unweigerlich zum Abstieg verurteilt.

Für die meisten Menschen stellt sich die Frage nach Work-Life-Balance ohnehin nicht. Sie ist ein Privileg jener, die ihren Lebensunterhalt auch mit wenigen Stunden Arbeit finanzieren können – weil ihre Arbeit gut genug bezahlt wird, weil sie von der Familie mit allem Nötigen versorgt sind oder weil sie ein geringfügiges versteuertes Einkommen mit Transferleistungen und/oder Schwarzarbeit auffetten. Die überwiegende Mehrheit muss arbeiten, um die Lebenshaltungskosten zu decken, oder will arbeiten, weil sie ihre Tätigkeit als sinnstiftend erlebt – oder beides. Und finanziert damit das Staatswesen.

Wer wie die Spiegel-Autorin glaubt, dass Ehrgeiz und Streben nach Perfektion nur vom Wunsch nach „fetten Autos und ausladenden Vorstadtvillen“ getrieben seien, hat weder die menschliche Natur noch das Fundament unserer Gesellschaft verstanden.

Wer den Sozialstaat finanziert

Der Wohlstand eines Landes beruht auf der Leistungsbereitschaft seiner Bürger. Selbst wenn der Sozialstaat deutschen oder österreichischen Zuschnitts sparsamer und effizienter haushalten würde, bliebe er immer noch kostspielig. Die Ausgaben für Gesundheits- und Bildungswesen, Infrastruktur, äußere und innere Sicherheit, Müllabfuhr und andere Leistungen der öffentlichen Hand werden weiter steigen. Ihre Finanzierbarkeit hängt schlicht und einfach davon ab, wie leistungsfähig eine Gesellschaft im internationalen Wettbewerb ist.

Die Gut- und Besserverdiener schultern den Löwenanteil des Einkommens- und Lohnsteueraufkommens. Darum ist Studieren gratis: von besser Gebildeten erwartet der Staat höhere Steuereinnahmen, deswegen finanziert er das Studium. Ein Land, dessen Jugend Spitzenleistungen gar nicht erst anstrebt oder den Bezug von Transferleistungen zum selbstverständlichen Teil der Lebensplanung macht, ist unweigerlich zum Abstieg verurteilt.

Würde die „Generation Z“ tatsächlich nach dem Motto „Aperol statt Arbeit“ leben, wären die Tage unseres Wohlstands gezählt. Aber jedem Zeitgeist wohnt die eigene Vergänglichkeit inne. Solange Jungs auf „fette Autos“ stehen und mehr Frauen über die „gläserne Decke“ klagen als „auf Chefposten verzichten“, besteht noch Hoffnung.