Das Glück, ein Geschenk

Wenn wir üben, Dankbarkeit zu empfinden, finden wir die Lebensfreude wieder, die wir stetig suchen – meist an den falschen Orten und mit den falschen Mitteln. Es geht auch ganz anders. Viel leichter.

Illustration einer Frau mit Weihnachtsmütze, die begeistert auf ein Geschenk schaut

„Komm herein“, rufen die Geschäfte in den Innenstädten, „komm herein, ich habe schöne, neue, unerhörte Dinge für dich, dieser Pullover wird dein Leben verändern, dieser Flachbildschirm wird dich glücklich machen, und vergiss bloß nicht die Weihnachtsgeschenke!“

Und während ich nach Dingen suche, die meine Liebe zu mir selbst ebenso wie meine Liebe zu meinen Nächsten begreifbar und erfahrbar machen, höre ich das Rascheln der Ratgeber: „Nicht im Anhäufen, sondern im Loslassen liegt das wahre Glück, denn der Frieden, den du suchst, ist innen. Lerne, wie man aufräumt, bei sich bleibt, den Moment genießt. Und mach endlich wieder Yoga!“

Wie gut sich das trifft, denke ich, während ich neue und unerhörte Yogahosen betrachte, eine schöne Seele im schönen Kleid, das macht gewiss glücklich. Aber soll ich mich jetzt annehmen oder an mir arbeiten, soll ich die Yogahose kaufen und den Pulli und vielleicht auch den Fern­seher, oder schadet Konsum nicht nur dem Planeten, sondern auch meiner Seele? Und beginnt Glück, ganz wie Epikur gesagt hat, mit Genügsamkeit?

Die Freude ist der Zweck des Daseins

Gewiss ist, dass es damit anfängt, sich von allen Fiktionen des Ankommens zu verabschieden. Glück ist kein Ziel, das wir erreichen, sondern ein Zustand, der uns erreicht. Dinge, die ich kaufe, werden mich nicht dauerhaft glücklich machen, obwohl uns schöne Dinge tatsächlich befriedigen können und ich einen beständigen Gefallen finde an diesem oder jenem aus meinem Besitz.

Glück ist kein Ziel, sondern ein Zustand, der uns erreicht.

Doch wenn wir uns auf Epikurs Vorschlag einlassen, dass nicht die Habe, sondern die Freude der Zweck unseres Daseins ist, können wir uns fragen, wie wir sie steigern können. Diese Freude ist dem, was wir Heutigen unter Glück und Zufriedenheit verstehen, sehr verwandt. Bei uns ist das, was wir Glück nennen, oft zeitlich begrenzt; ein intensives Gefühl, das einen Moment oder eine bestimmte Lebens­phase ver­goldet. Im Gegensatz dazu beschreibt Zufriedenheit einen umfassenderen und länger andauernden Zustand, der dafür schwächer ist. Und während Glück etwas Un­kontrollierbares und Zufälliges hat, verdankt sich Zufriedenheit bewusst getroffenen Lebensentscheidungen und gut ­gewählten Gewohn­heiten.

Was stört, muss entfernt werden

Epikur ist der Philosoph der Zufriedenheit. Er hat die katastematische Lust, die Zustandslust, entdeckt, während sein Vorgänger, der hedonistische Philosoph Aristipp, allein die kinetische Lust in den Blick nahm – leibliche Genüsse, sexuelle Ausschweifungen, Schwelgen in Status und Besitz. Für Epikur sind das gefährliche ­Begierden, die mehr Schaden anrichten, als Nutzen stiften.

Sein Hedonismus zielt nicht auf Höhepunkte, sondern auf Haltbarkeit, weswegen er dazu anregt, alles, was stört, aus dem eigenen Leben zu entfernen: Maßlosigkeit, dumme Überzeugungen, schwierige Beziehungen.
Doch wir leben nicht wie Epikur mit Gleichgesinnten in einem Garten, sondern mit vielen unterschiedlichen Menschen in einer komplexen, lauten und hoch beschleunigten Welt, in der gelegentliche Exzesse – ob Serienmarathon oder Shoppingsause – eine ebenso vergnügliche wie gültige Weise der Teilhabe darstellen. Wir leben in einer anderen Welt, aber wir haben die gleichen Fragen: Was tut mir gut? Was macht mich glücklich? Wie will ich leben?

Nur wer sich kennt, kann damit beginnen, sich ein Freund zu sein.

Gewiss ist, dass wir für tragfähige Antworten eher nach innen als nach außen blicken müssen. Glück beginnt mit einem gelungenen Selbstgespräch. Das betrifft zunächst die Differenz zwischen dem Menschen, der ich bin, und dem Menschen, der ich sein möchte. Jeder von uns hat Werte, Überzeugungen und Grundsätze, und jeder von uns verrät diese Werte, Überzeugungen und Grundsätze.

Ich liebe Tiere, aber ich esse Fleisch; ich bin gegen Konsum, habe aber den neuen Pulli gekauft; ich strebe nach einem bewussten und maßvollen Leben und bin doch gefräßig, nachtragend und ungerecht. Die Unterhaltung zwischen der, die ich gern wäre, und der, die ich bin, ist schmerzhaft, unangenehm und lästig. Doch dieses sokratische Selbstgespräch, das man besonders gut vor dem Schlafen­gehen führen kann, wenn man im Bett liegt und es ganz still ist, ist eine notwendige Bedingung für Glück. Werde, der du bist, sagte der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche.

Die Tendenz zur Negativität

Ohne diese beständige Annäherung an den Menschen, als der man gemeint ist, ist kein Glück denkbar. Das Leben ist eine persönliche Angelegenheit, ebenso wie unser Glück. Und nur wer sich kennt, kann damit beginnen, sich ein Freund zu sein. Manchmal müssen wir uns ansehen. Manchmal müssen wir aber auch von uns absehen. Während es auf der einen Seite darum geht, unsere eigenen Unstimmigkeiten im Auge zu behalten, müssen wir andererseits unseren evolutionsbiologischen Neigungen widerstehen. Darunter fällt der Umstand, dass negative Gefühle mehr Aufmerksamkeit bekommen als positive – was sinnvoll war in einer Um­gebung, wo ein Blätterrascheln den Tod bedeuten konnte, aber fatal wird, wenn die meisten Medien hauptsächlich über Mord und Totschlag ­berichten, weil das die meisten Klicks generiert.

Mit Dankbarkeit zur Lebensachtung

Auch im eigenen Leben gibt es diese Tendenz zur Negativität. Denken Sie einmal an gestern: War es ein guter oder ein schlechter Tag? Was ist passiert, woran erinnern Sie sich? Erfahrungsgemäß erinnern wir uns eher an das Schlechte, an nervige Mails, verlorene Zeit und unangenehme Situationen, weshalb Dankbarkeit zu den wichtigsten Glücksstrategien überhaupt gehört. Sie hilft uns, in einer Welt, in der alles gleichzeitig geschieht, das Schöne und Gute nicht aus den Augen zu verlieren. Was ist gestern Erfreu­li­ches passiert, welche drei Dinge waren positiv?
Wegen unserer Neigung zur Negativität ist es auch sinnvoll, jeden Morgen kurz innezuhalten und an den fünf Fingern einer Hand fünf Dinge abzuzählen, für die man heute dankbar sein kann: eine Verabredung, geliebte Menschen, dass ich eine warme Wohnung habe, dass die Katze so verschmust und der neue Pulli wirklich hübsch ist.

Nichts ist zu gewaltig, nichts zu banal. Dankbarkeit er­innert uns daran, dass es schön ist, am Leben zu sein. Und aus dieser Freude entspringt zugleich der Wunsch, dieses Leben zu achten, indem man auch ihm sein Bestes schenkt.