Ein kleines Stück mehr Freiheit

Wir hecheln nach Sensation, Konsum und Aufmerksamkeit. Wir sind unfähig, zwischen Wichtigem und Unwichtigem zu unterscheiden. Dabei ist das Gute in Reichweite, wenn wir uns mit dem Leben verbunden fühlen und die Zeit schätzen.

Illustration von einer Frauenhand, die ein Handy hält
Durch Social Media verkürzt sich unsere Aufmerksamkeitsspanne. Dem können wir selbst am besten entgegenwirken. © Getty Images

Irgendeine Schauspielerin hat ein Kind bekommen und einen ganz tollen After-­Baby-Body. Irgendwo ist eine Influencerin beim Selfiemachen zu Tode gekommen, und irgendwo anders ist ein anderer Influencer öffentlich dahin­geschieden. Auch auf dem Mittelmeer wird immer noch gestorben, und es sterben ebenfalls Menschen in Lagern, bei Attentaten oder bei Amokläufen.

Von der Schauspielerin erfahre ich viel, von den Influencern einiges, von den Ertrunkenen und von den Gewaltopfern wenig. Was das alles miteinander zu hat, fragen Sie? Das frage ich mich auch, jedes Mal frage ich das, wenn ich in die Zeitungen schaue und gar nicht weiß, ob ich lachen oder weinen soll oder ob mir alles im Hals stecken bleibt, weil die Gegenwart nicht nur krisenhaft ist, sondern verrückt, überwältigend und dabei so bescheuert, dass es wehtut.

Wenn wir das Lebendige in uns achten, entwickeln wir einen Sinn für das Leben um uns herum.

Die Krise der Gegenwart ist eine Krise des Geistes. Unsere Unfähigkeit, zwischen Wichtigem und Unwichtigem zu unterscheiden, ist nur eine Facette dieser folgenreichen Selbstverdummung, die sich nicht nur, aber durchaus auch der Reduktion des vielgestalten Lebens auf seine bloße Verwertbarkeit verdankt. Doch angesichts der Tat­sache, dass es nur eine Wirklichkeit, aber unendlich viele Perspektiven darauf gibt, müssen wir uns immer wieder fragen, welche Beschreibungen von Mensch und Leben beidem am besten gerecht werden. Hinreichend, akzep­tabel und lebbar gerecht.

Schatten der Aufklärung

In diesen sich immer wieder neu am Wirklichen überprüfenden Fragen liegen auch die Anfänge dessen, was wir seit dem 17. Jahrhundert „Aufklärung“ nennen; jene immer noch andauernde „Befreiung des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“. Unmündigkeit beschreibt den Umstand, dass wir Menschen alle erst einmal voneinander lernen, was es an ­einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit bedeutet, ein Mensch zu sein, weshalb alle Menschen dazu neigen, zu machen, was man eben so macht – bei uns wären das gerade ­Dinge wie Shopping, Social Media und Selbstoptimierung.

Auch zu Zeiten Immanuel Kants, aus dessen Aufsatz von 1784 das obige Zitat stammt, musste sich der Mensch nach dem abergläubischen Mittelalter erst einmal wieder auf seine Denk- und Handlungsfreiheit besinnen, um ins strahlende Licht der Neuzeit einzu­treten. Doch wo viel Licht ist, ist starker Schatten, weshalb diese frühmoderne Aufklärung in vielen Teilen eine ebenso kolonialistische wie sexistische Veranstaltung war, deren Überbetonung von kalter Rationalität und machtausübender Technik unter anderem den Boden für den Ersten Weltkrieg bereitet hat. Und für den Zweiten.

Wir brauchen eine aufgeklärte Aufklärung. Dafür gilt es, zu ihren Wurzeln zurückzukehren und damit zu Epikur, wohl 341 vor Christus auf der griechischen Insel Samos geboren. Epikur glaubt weder an Götter noch an ein Jenseits, sondern es gibt für ihn, wie für seinen Vorgänger Demokrit, nur die Leere, die Atome und deren Bewegung. Doch – anders als Demokrit – denkt er in die regelmäßigen Atombewegungen kleinste Abweichungen, sogenannte Clinamen, hinein, mittels derer er ebenso das Entstehen der physischen Welt wie die menschliche Willensfreiheit begründet.

Die Krise der Gegenwart ist eine Krise des Geistes.

Obwohl Epikur noch nicht wusste, dass sich die Erde um die Sonne dreht, ist seine Beschreibung der Wirklichkeit nicht nur auf physikalischer Ebene erstaunlich aktuell – leben wir ja auch im Sozialen in vorgegebenen Bahnen und Strukturen, und doch liegt es in jeder Sekunde an uns, wie wir unsere Rolle auslegen, ob wir gütig oder geizig sind, mutig oder bequem.

Frei sein trotz Zwängen

Epikurs Erkenntnistheorie ist für uns fast noch interessanter – seine eigene Wahrnehmung ist für ihn das einzige Wahrheitsinstrument, was nichts anderes heißt, als dass sich jede Theorie in der konkreten materiellen Anschauung beweisen muss. Das Experiment ist die Basis der Theorie, nicht um­gekehrt. Das betrifft auch die Vorstellungen von einem guten Leben. Dieses gute Leben war Epikurs zentralstes Anliegen: wie frei sein innerhalb der Zwänge der Gesellschaft, wie sich treu sein im Wandel und wie froh werden trotz aller Vergänglichkeit?

Sein Lebensmotto „láthe biósas“, „Lebe im Verborgenen“, ist ein brauchbarer Gegenvorschlag für eine Zeit, in der alle mindestens 15 Minuten lang berühmt sein wollen. Auch sonst eignet seinen Schriften und Lehrsätzen ein Gespür für das menschliche Maß, das es dem, der danach lebt, ermöglicht, sich zugleich in einem größeren Kosmos geborgen zu fühlen. Wenn wir das Lebendige in uns achten, entwickeln wir einen Sinn für das Leben um uns herum. Wenn wir uns mit dem Leben verbunden fühlen, sind wir weniger verführbar, es zu konsumieren. Und wenn wir weniger abgelenkt sind, haben wir mehr Zeit für das, was uns wirklich glücklich macht: Beziehungen, Naturerfahrungen und inneres Wachstum.

Manchmal müssen wir die Antworten (also?) nicht suchen, sondern wiederfinden. Für alle Fälle hat uns Epikur den Tetrapharmakos oder das „vier­fache Heilmittel“ hinterlassen:

  1. Gottheit müssen wir nicht fürchten.
  2. Tod bedeutet Empfindungslosigkeit.
  3. Das Gute ist leicht zu beschaffen.
  4. Das Schlimme ist leicht zu ertragen.

Die ersten beiden Sätze sind Glaubensfragen, aber die letzten beiden? Ist das Gute wirklich leicht zu beschaffen? Und wenn ja, was bedeutet das für Sie persönlich? Und, etwas zwiespältiger, ist das Schlimme wirklich leicht zu ertragen? Als junger Mensch bin ich einem von Epikurs Lehrsätzen begegnet, er lautete: „Die schönste Frucht der Selbstgenügsamkeit ist Freiheit.“ Seitdem habe ich meine Zeit wichtiger genommen als Geld, was dazu geführt hat, dass ich ein Mensch geworden bin, der sich innerlich reich fühlt und äußerlich trotz aller unabweisbaren Privilegiertheit ein recht einfaches Leben lebt. Ein Leben, das auch sehr dunkle Momente hatte, aber noch bin ich hier, es war also erträglich.

Geschenk für alle

Epikurs Lehrsätze haben sich in meinem Leben bewährt. Und genau das ist das Anliegen jeder Philosophie der Lebenskunst: dass man durch erprobte Weisheit berührt und verwandelt wird, gestützt und getragen und zugleich ermutigt, selbst zu denken, selbst zu urteilen und selbst zu leben. Dieses Geschenk steht uns allen offen, wir müssen es nur annehmen.

Doch jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich muss unbedingt nachlesen, wie es diese Schauspielerin geschafft hat, nur drei Tage nach der Geburt so gut auszusehen.