Ausschalten, was unfroh macht

Das Streben nach Geld, körperlicher Attraktivität und sozialem Status treibt uns an, macht die Menschen aber einsam und unglücklich. Freude und Glück entspringen dem mündigen Umgang mit der eigenen Lebenskraft.

Illustration einer glücklich schauenden Frau mit Sonnenbrille und Weinglas
Für ein glückliches Leben braucht es auch Müßiggang – in Maßen. © Getty Images

Soeben bin ich an einem Stück Kuchen vorbeigekommen. Es sah aus, als könnte es mir schmecken, mehr noch, als wollte es mir schmecken. Doch was will ich? Jetzt einen raschen Genuss, dann einen vollen Magen? Oder lieber verzichten und mich später besser fühlen? Jeder von uns trifft täglich viele solche Entscheidungen. Ob man etwas erledigt oder es verschiebt. Ob man jemandem zuhört oder nur sich hört. Und ob man sich etwas durchgehen lässt oder bei der Stange bleibt.

Die Summe dieser Entscheidungen formt unseren Charakter. Es macht uns Menschen aus, dass wir eine Wahl haben und dass wir Grundsätze haben, nach denen wir ­wählen. Und dass wir diese Grundsätze regel­mäßig verraten, woraufhin wir uns versprechen, dass das aber wirklich das allerletzte Mal … und so weiter.

Jemand, der alles hinnimmt, ist nicht heilig, sondern hirntot.

Aber wir müssen uns nicht nur immer wieder aufrichten, sondern immer wieder ausrichten, indem wir abwägen, bewerten, navigieren. Es ist uns nicht möglich, frei von Berechnung und Kalkulation zu sein, und es ist auch nicht erstrebenswert. ­Jemand, der alles hinnimmt, ist nicht ­heilig, sondern hirntot. Nein, nein, wir müssen täglich mit uns und dem Leben ringen, die Frage ist nur, wie wir das am gedeihlichsten vermögen und von welchen Werten und Grundsätzen wir uns dabei leiten lassen. Gerade herrscht die Überzeugung, der beste Weg, mit seinem Dasein umzugehen, sei es, auf seinen eigenen Vorteil bedacht zu sein und aus allem das Beste für sich herauszuholen.

Daran ist erst einmal nichts Schlechtes zu erkennen. Denn ob Blatt oder Buckelwal, ob Bakterium oder Baby: Alles, was lebt, hat seine ureigensten Angelegenheiten, seine Agenda. Doch obwohl wir diese Agenda mit allem Lebendigen gemeinsam haben, unterscheiden wir uns nicht nur deutlich von Blättern und Buckelwalen, sondern auch voneinander. Was uns unter anderem trennt, ist die Antwort auf die Frage, was denn das Beste sei, das es aus dem Leben für sich herauszuholen gälte.

Eigennutz als Krisengrund

In unserer Kultur sind mit diesem Besten gerade zumeist Dinge gemeint, die man sehen, messen und vergleichen kann: Geld, körperliche Attraktivität und sozialer Status. Und von allem mehr. Und noch viel mehr. Doch diese ebenso akkumulative wie geistlose Form des Eigen­nutzes macht nicht nur einsam und unglücklich, sondern hat auch Anteil an der großen Krise, weil ihret­wegen immer mehr produziert und immer mehr verbraucht wird.

Aber wovon sollen wir uns leiten lassen, wenn Geldgier, Egoismus und Status­bewusstsein uns nicht weiter tragen können? An dieser Stelle macht der antike griechische Philosoph Epikur einen Vorschlag. Er lädt uns ein, der Freude – griechisch „hēdoné“ – zu folgen und uns in allen Situationen zu fragen, wie wir uns entscheiden sollen, um unsere Lebenslust zu maximieren. Damit setzt er einen Wert, der nicht nur unser Äußeres, sondern auch unser Inneres berührt. Denn das Fatale am rein materialistisch orientierten Denken ist ja, dass diese Antwort auf das „Beste“ seltsam leer ist, weil es einfach nur „mehr“ ist.

Ist Freude eine gute Antwort auf den Sinn des Lebens?

Unser Menschsein jedoch erschöpft sich nicht in der Anhäufung von Gütern. Mehr noch, unsere wahre Aufgabe in diesem Leben ist es, uns zu entwickeln. ­Anders als die Tiere – obwohl wir das vielleicht gar nicht be­urteilen können – wachsen wir Menschen weiter, auch wenn wir äußerlich ausgewachsen sind. Unsere Entwicklung ist innerlich, unser Reichtum ist innerlich. Er besteht in unserer Fähigkeit, immer mehr unterschiedliche Perspektiven zu integrieren und so an der Vielfalt und Tiefe der Welt immer bewusster teilzuhaben.

Die Freude, die Epikur vor mehr als zweitausend Jahren als Daseinszweck vorgeschlagen hat, entspringt diesem inneren Reichtum, den mannigfaltigen Verbindungen zum Leben und einem mündigen Umgang mit der eigenen Lebenskraft. Und weil Epikur nicht nur der Philosoph der Freude, sondern auch ein naturwissenschaftlich geprägter Freund des Experiments ist, lädt er jeden, der von seinen Ideen hört, ein, sie selbst zu überprüfen. Ist Freude eine gute Antwort auf den Sinn des Lebens? Machen Besitz und Status nicht glücklicher? Wenn nicht, sollten wir vielleicht einfach aufhören zu arbeiten?

Einladung zur Selbsterkenntnis

Gewiss nicht. Epikurs Hedonismus ist keine Einladung zum Müßiggang. Sondern eine Einladung zu Selbsterkenntnis und Selbstgespräch, die alles, was anliegt, einem hedonistischen Kalkül unterwerfen, mit dem Ziel, dass in jedem Augenblick die Lust die Unlust überwiegt.

Zunächst geht es darum, alles auszuschalten, was unfroh macht. Das beginnt bei den eigenen irrationalen Ängsten und falschen Überzeugungen. Denn wie Epiktet, ein stoischer Philosoph, erklärte, beunruhigen uns nicht die Dinge, sondern unsere Meinungen über die Dinge. Auch der Tod beunruhigt uns, aber Epikur erklärt, wir müssten ihn nicht fürchten. ­Seine These lautet: Wenn wir da seien, sei der Tod nicht da, und wenn er da sei, wären wir nicht mehr da.

Wenn wir uns von diesen irrigen Vorstellungen befreit haben, gilt es, die eigenen Begierden in den Blick zu nehmen. Was haben wir uns angewöhnt, das mehr schadet, als nützt? Welche Statuswünsche zwingen uns, Dinge zu tun, die wir eigentlich nicht tun wollen? Was ist für unser Leben, für unsere Entwicklung, ­notwendig, was überflüssig?

Sex ist verzichtbar

Für Epikur ist das Notwendige nur Essen, Trinken und Kälteschutz. Sexuelle Begierden sind erfreulich, aber verzichtbar, alles Weitere sind Luxusbedürfnisse, die schädliche Abhängigkeiten zur Folge haben können. Aber auch wenn es ein wenig mehr sein darf, lohnt es sich, immer wieder darüber nachzudenken, welche unserer eigenen Begierden und Bedürfnisse unverzichtbar sind. Doch dafür müssen wir uns selbst erst einmal kennenlernen. Welche Tätigkeiten geben Ihnen Lebensfreude? Welche Erinnerungen lassen Sie lächeln? Wovon soll es mehr geben in Ihrem Leben und wovon weniger?

Epikurs Hedonismus ist eine Philosophie für Erwachsene, getragen von einem sorgfältigen und geistreichen Abwägen von Wählen und Meiden mit „einem hellen Verstand, welcher der glücklichen Torheit vorzuziehen ist“, so der Philosoph. Denn es geht ja niemals nur um ein Stück Kuchen. Sondern immer auch um den Menschen, der wir sein könnten, wenn wir beschlössen, glücklicher zu werden.