Unsere neutrale Insel der Schmarotzer

Österreich hält sich für eine Insel der Seligen. Das war immer schon ein beschönigendes Bild. Sicherheitspolitisch ist das Land eine Insel der Schmarotzer.

Neutralität Österreich: Illustration von Menschen, die eine herzförmige Insel formen
„Neutralität im Herzen“? Wenn Verteidigung zur Herzenssache wird, ist Neutralität ein Sicherheitsrisiko. © Getty Images

Mit dem Beitritt Finnlands und Schwedens sind es dann nur noch Inseln, die Mitglied der Europäischen Union, aber nicht zugleich Mitglied der NATO sind: Irland, Malta, Zypern – und Österreich, das sich offenbar ebenfalls als Inselstaat fühlt, umgeben von einem Meer aus NATO-Ländern.

Die NATO-Nachbarn sind das Argument, das am häufigsten vorgebracht wird, wenn es um Österreichs Sicherheit geht. Wer soll uns schon angreifen? Unsere Sicherheitspolitik baut darauf, dass im Fall des Falles andere für uns kämpfen und siegen. Deutlicher formuliert: wir erwarten, dass wir uns hinter unseren Nachbarn verstecken können, während deren Söhne und Töchter an unserer Stelle bluten.

Das ist nicht nur schäbig, sondern auch illusorisch. Zum einen, weil es im Zeitalter der hybriden Kriegsführung nicht unbedingt Bomben und Panzer braucht, um die Infrastruktur eines Landes zu zerstören. Für einen Cyberwar muss kein einziger Soldat eine Grenze überqueren. Zum anderen, weil Russlands Überfall auf die Ukraine die europäische Sicherheitsarchitektur auf Dauer verändert. 

Sicherheit durch Neutralität? Ein Mythos

Dabei hat eine Idee zuletzt besonders an Beliebtheit gewonnen: die der „Europäischen Armee“. Ich halte sie für eine gefährliche Illusion. Nach dem Brexit ist Frankreich die einzige verbliebene Atommacht in der EU, und das größte Land des Kontinents hat unter Angela Merkel seine Armee zu einem technischen Hilfswerk heruntergewirtschaftet. Der Aufbau einer ernstzunehmenden, von der NATO unabhängigen EU-Armee würde ein Vielfaches dessen verschlingen, was man schon jetzt in vielen Ländern nicht für Verteidigung ausgeben will. Dennoch würde sie noch in Jahrzehnten nicht annähernd an die heutige Schlagkraft der NATO herankommen.

Neutralität war der Preis, den Österreich für seine Unabhängigkeit zu bezahlen hatte.

Abgesehen von den unterschiedlichen Interessen der EU-Mitglieder, die der militärischen Durchsetzung einer gemeinsamen Außenpolitik im Weg stehen, wäre die demokratische Legitimation einer EU-Armee mehr als zweifelhaft. Welcher Politiker sollte ein Heer aus Europäern in den Krieg schicken, wenn kein einziger Politiker von allen Europäern gewählt wird? Und Frankreich führt eher den Franc wieder ein, als die Befehlsgewalt über seine Atomwaffen an Brüssel abzugeben.

Die schwerwiegendste Folge einer EU-Armee wäre die Spaltung der NATO. Eine Parallel-Armee hätte militärisch keinen Sinn und würde die Gräben zwischen dem Kontinent und der anglo-amerikanischen Welt vertiefen. Die osteuropäischen Länder würden sich an der Seite der USA und Großbritanniens sicherer fühlen als in der EU. Der Westen würde auseinanderfallen. Die größten Nutznießer einer EU-Armee wären die Putins dieser Welt.

Wir sind (hoffentlich) nicht neutral

Aggressoren lassen sich von der Kombination aus Neutralität und EU-Militärstrategie nicht von einer Intervention abhalten, Schweden und Finnland haben die Konsequenzen daraus gezogen. Die Neutralität hat im Zweiten Weltkrieg weder Belgien noch die Niederlande geschützt. Dass sie zu irgendeinem Zeitpunkt Österreichs Sicherheit garantiert hätte, ist ein Mythos. Sie war nur der Preis, den das Land an die Sowjetunion für seine Unabhängigkeit zu bezahlen hatte. Dass sie in der Folge zu einem Gründungsmythos der Republik aufstieg, korrespondiert mit dem nationalen Hang zu Bequemlichkeit und Denkfaulheit.

Der Westen würde auseinanderfallen. Die größten Nutznießer einer EU-Armee wären die Putins dieser Welt.

Die Neutralität liege „im Herzen der Österreicher“, war von der Verteidigungsministerin dieser Tage zu hören. Mit der Verortung im Herzen statt im Kopf traf sie ungewollt den Punkt: Gegen Gefühle hat der Verstand einen schweren Stand. Und nur die wenigsten Politiker verfügen über genügend Mut, Charakter und Intellekt, dem vermeintlichen Gefühl der Wähler das Argument entgegenzusetzen.

Der angestrebte Beitritt Schwedens und Finnlands stärkt die NATO und wird die Einbettung der „Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union“ in das größte und mächtigste Verteidigungsbündnis der Welt vertiefen. Wenn Österreich überhaupt noch den Anspruch hat, eigene Sicherheitsinteressen zu definieren, kann es diese nur innerhalb der Union – und damit innerhalb der NATO – wirksam artikulieren.

Die rationalen Gründe, den NATO-Beitritt nicht gemeinsam mit Finnland und Schweden zu beantragen, mag die Politik dem Volk nicht zumuten: Österreich ist von russischem Erdgas abhängig und erfüllt die Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft nicht. Dennoch müssen die Weichen jetzt gestellt werden. Künftig werden wir finanziell und politisch die Verantwortung für unsere Sicherheit übernehmen müssen.

Russlands Überfall auf die Ukraine beendet das liebgewonnene Durchschwindeln. Mit dem Beitritt zur Europäischen Union haben wir uns dem Westen angeschlossen. Höchste Zeit, dort auch anzukommen.