Neutralität gibt’s nicht geschenkt

Österreich will weder viel Geld für seine Landesverteidigung ausgeben noch seine Neutralität aufgeben. Ein Widerspruch, der viel über uns aussagt.

Bundeskanzler Konrad Adenauer und Julius Raab werden am 13.06.1957 auf dem Flughafen Schwechat in Wien von der Ehrenkompanie des Bundesheers begrüßt
Für den österreichischen Bundeskanzler Julius Raab, hier mit dem deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer 1957, war die Neutralität, die in der österreichischen Verfassung verankert ist, eine „Verpflichtung für die kommenden Generationen“. © Getty Images

Auf den ersten Blick wundert man sich schon, auf den zweiten wohl auch: Obwohl das Bundesheer sich allseitiger Beliebtheit erfreut, – im aktuellen OGM-Vertrauensindex Institutionen liegt es hinter der Polizei auf Platz zwei – ist es seit Jahren unterfinanziert. Österreich gehört fast schon traditionell zu den europäischen Schlusslichtern bei den Verteidigungsausgaben, der schlechte Zustand des Bundesheers ist hinlänglich bekannt.

Im „Unser Heer 2030“-Zustandsbericht, um die wohl bekannteste und eindringlichste Beschreibung zu nennen, sprach der damalige Verteidigungsminister Thomas Starlinger vom „mittlerweile dramatischen Fähigkeitsverlust des Bundesheeres” und seinen „massiven Konsequenzen für Österreich: Der Schutz der Bevölkerung kann schon heute nur mehr sehr eingeschränkt gewährleistet werden.“

Aufschrei gab es damals keinen, gibt es auch heute nicht. Jedenfalls nicht laut genug, um maßgebliche Änderungen zu bringen. Eine verteidigungspolitische Ignoranz, die sich leicht erklären lässt: Unsere Neutralität in Verbindung mit unserer geographischen Lage: „Wer soll Österreich schon angreifen“ gepaart mit „wir tun eh keinem was“ (also tut auch niemand uns was) sozusagen.

Bedrohungsszenarien

Das ist natürlich (zu) kurz gedacht. Bedrohungen gibt es genug. Es muss nicht immer gleich „der Russe“ sein, der mit Panzern vor der Tür steht. Dieses Szenario gilt – für Österreich (!) – in der Tat schon lange als unrealistisch.

Nur: Österreich ist als Mitglied der Europäischen Union Teil eines größeren geopolitischen Blocks. Und es gibt nun einmal eine „konfrontative Position Russlands zu Europa“, von der beispielsweise die Sicherheitspolitische Jahresvorschau des Bundesheeres aus dem Jahr 2021 und damit schon vor dem Angriff auf die Ukraine sprach: Ob Online-Destabilisierungskampagnen, Cyber-Angriffe, Spionage, die Instrumentalisierung von Migration (wie an der EU-Außengrenze zu Belarus) oder Entführungen bis hin zu Ermordungen von Dissidenten – Bedrohungen gibt es viele. Es muss nicht immer gleich Krieg sein.

Mehr Geld wagen?

Nach dem geschichtsträchtigen – im negativsten Sinn – 24. Februar haben europäische Regierungen reihenweise Bekenntnisse zur Landesverteidigung abgelegt und Budgeterhöhungen versprochen.

Nur: Das war damals eine Schlagzeile von vielen. So lange politischen Worten keine finanziellen Taten folgen, interessiert das nur wenige. Österreichs Regierungen sind seit jeher gut darin, Dinge aufzuschieben, bis es zu spät ist. Es wäre nicht das erste Mal, in den Reihen des Bundesheeres hat man gelernt, politische Ankündigungen erst dann zu glauben, wenn man ihre Umsetzung sieht (also oft genug nie).

(Verfassungs-)rechtliche Verpflichtungen

Die Politik lässt also aus. Wie steht es ums Recht? Verteidigungsfähigkeit wird schließlich auch von der österreich Verfassung verlangt: Konkret nennt Artikel 9a Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) ausdrücklich die „umfassende Landesverteidigung“, also neben der militärischen auch die „geistige, die zivile und die wirtschaftliche Landesverteidigung“. Darunter fällt nicht zuletzt das Bewusstsein über Bedrohungslagen und -szenarien. Beziehungsweise allgemein darüber, dass Österreich allein schon aufgrund seiner geografischen Lage eben keine Insel der Seligen sein kann.

Damit übereinstimmend nennt Artikel 79 B-VG eine Reihe von Aufgaben des Bundesheeres, die weit über konventionelle Kriege hinausreichen: Aufrechterhaltung der „Ordnung und SIcherheit im Inneren überhaupt“, Hilfeleistungen bei Ausnahmesituationen oder Assistenzeinsätze – vom Schutz von Botschaften bis hin zur Grenze. Das kann bisweilen weit, vielleicht auch zu weit gehen: Das Bundesheer präpariert traditionell Skipisten, im Zuge der Covid-19-Pandemie hat es außerdem der Post beim Sortieren von Paketen geholfen, jüngst wurde sogar vorgeschlagen, Soldaten für die Befestigung von Solaranlagen einzusetzen. Man muss darauf achten, dass aus der Ausnahme keine Gewohnheit wird. Vielleicht ist es dafür schon zu spät. Die Verrichtung ziviler Dienstleistungen aller Art hat das Bild eines (Aushillfs-)Heeres für alles entstehen lassen.

Österreichische Soldatin während der Güterzugkontrolle am Brenner, 2018
Brenner, Juni 2018: Das Bundesheer wurde dort zum wiederholten Male zur Kontrolle von Güterzügen eingesetzt. © Getty Images

Damit ist der Sinn für militärisch Wesentliches verloren gegangen. Zumal es heute wahrlich nicht an genuinen Sicherheitsaufgaben mangelt. Wie schon angemerkt, haben sich dabei die Bedrohungsszenarien verschoben. Neben der Konfrontation mit Russland betont (Generalmajor) Johann Frank im Risikobild Österreich 2022 allgemein hybride Einflussnahmen von außen, die Covid-Pandemie, Krisen im geopolitischen Umfeld der EU und „resilienzgefährdende Extremereignisse, insbesondere Blackout, Versorgungsunsicherheit und komplexe klimaassoziierte Katastrophen“. Soll niemand sagen, man habe nichts kommen sehen.

Die Verpflichtungen zur Vorbereitung auf diese Bedrohungen schuldet Österreich in erster Linie sich selbst. Womit wir auch beim Problem wären: Man kann Landesverteidigung nicht einklagen, sie ist politisch geschuldet und umzusetzen. Womit wir beim Ursprungsproblem wären.

Solidarität in Europa

Dazu kommen zwei weitere Dimensionen, eine europäische und eine weltpolitische. Österreich kann und soll es sich innerhalb Europas nicht einfach wie eine „Made im Nato-Speck“ (© Peter Hilpold), garniert mit Schweizer Neutralität, gemütlich machen. Das betrifft vor allem die Landesverteidigung im engeren Sinne, den vieldiskutierten Verteidigungs- und Bündnisfall: Gerade neutrale Länder sind traditionell auch gegenüber anderen zur Landesverteidigung verpflichtet und müssen – beispielsweise – dazu in der Lage zu sein, ihr Staatsgebiet zu schützen.

Österreich kann und soll es sich innerhalb Europas nicht einfach wie eine „Made im Nato-Speck“ gemütlich machen.

Man denke nur an die Auswirkungen unautorisierter Drohnen-Überflüge oder gar eines „Transit“-Einmarschs wie jener Deutschlands durch belgisches Gebiet zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Wenn ein Land auslässt, wirkt sich das auf alle anderen aus. Über das genaue Ausmaß der dahingehenden Verpflichtungen lässt sich freilich streiten, zumal es hier wenig Staatenpraxis gibt. Der Vergleich mit der Schweiz, die bekanntlich als Neutralitäts-Vorbild galt (und gilt?) zeigt aber, dass man sie auch anders leben könnte und sollte.

Trittbrettfahrer

Womit wir beim Vorwurf des Trittbrettfahrens wären. Was unsere eigene Verteidigung betrifft, lässt er sich nicht einfach so von der Hand weisen, im Gegenteil. Wir tun wenig, weil andere mehr tun. Ganz so einfach, wie vielfach suggeriert, ist es allerdings auch wieder nicht. Dazu ein kurzer Blick über die EU-Grenzen hinaus, wo aktuell 233 österreichische Soldaten und Polizisten (darunter 13 Frauen) an Friedenserhaltenden Operationen der Vereinten Nationen beteiligt sind, 211 davon und damit die mit Abstand meisten im Libanon.

Auf die Gesamtbevölkerung gerechnet liegt man damit weit vor größeren beziehungsweise militärisch weitaus bedeutenderen Ländern wie Frankreich (666), Deutschland (589), dem Vereinigten Königreich (539), Polen (205), der Türkei (149) oder Griechenland (110). Dazu kommen weitere 294 Soldaten bei der unter UN-Mandat geführten NATO-Operation (KFOR) im Kosovo und 167 bei der EU-Mission in Bosnien und Herzegowina.

Diese vergleichsweise starke Beteiligung an Auslandseinsätzen hat simple geopolitische Hintergründe. Der Effekt von „friedenserhaltenden“ und anderen, ähnlichen Missionen ist empirisch gut belegt. Sie mögen oft unspektakulär sein und erst dann in die Schlagzeilen geraten, wenn etwas nicht funktioniert. Aber im Großen und Ganzen haben sie entscheidenden Anteil an der Befriedung und Stabilisierung anderer Länder. Was im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina passiert, hat alleine aufgrund der Nähe unmittelbare Auswirkungen auf uns.

Ein Heer für alles

Beteiligung an Auslandseinsätzen, vollumfängliche Landesverteidigung, Aufrechterhaltung der inneren Sicherheit, Assistenzeinsätze und Katastrophenschutz: Das Bundesheer soll viele Aufgaben für wenig Geld und das auch noch möglichst eigenständig erfüllen, – allen voran den unmittelbar-militärischen Schutz vor äußeren Bedrohungen – um die Neutralität zu wahren. Die eierlegende Wollmilchsau gibt es bekanntlich nicht, schon gar nicht im Tarnanzug.

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